3
Die Zeit schleppte sich dahin, als klebte ihr Kaugummi unter den Sohlen. Katja saß an ihrem Schreibtisch und wusste nichts mit sich anzufangen.
Seit drei Wochen herrschte Ruhe im Kommissariat: ein paar kleinere Diebstähle, eine Schlägerei in einer Dorfkneipe, der Verdacht der Veruntreuung von Spendengeldern in einem Sportverein, aus hektischeren Zeiten übrig gebliebener Papierkram. Sonst nichts. Als blieben die Kriminellen bei dem Schmuddelwetter da draußen lieber daheim auf ihrem Sofa sitzen und guckten Netflix-Serien.
Nicht allen Kollegen war das unangenehm. Rudi Steinhaus zum Beispiel nutzte die Zeit, um einen Kaffee nach dem anderen zu trinken und im Internet nach Ersatzteilen für seinen Oldtimer zu suchen. Und Daniel Kowalski hatte es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, sämtliche Formulare im Aktenschrank zu sortieren und alphabetisch zu ordnen.
Katja aber ging fast die Wände hoch.
Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, begann sie, mit dem Fuß zu wippen. Ihre Hände konnte sie kaum stillhalten. Schließlich stand sie auf und ging zum Fenster.
Gegen die Fensterlaibung gelehnt sah sie eine Weile zu, wie das Wasser in feinen Perlen an der Scheibe hinunterlief. Es war nicht auszumachen, ob da draußen Nieselregen oder Nebel herrschte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Die Straße vor dem Gebäude lag nahezu verlassen da, die Streifenwagen der Kollegen der Schutzpolizei waren alle im Einsatz, vermutlich bei Verkehrsunfällen auf vom nassen Laub rutschigen Straßen. Selbst auf dem Parkplatz des Supermarktes schräg gegenüber standen nur wenige Autos.
Im Hintergrund dudelte das Radio Schlager und Popsongs der Siebziger- und Achtzigerjahre. Donnerstags war Steinhaus an der Reihe, den Sender auszusuchen, und er wählte immer diese furchtbare Musik, die zu seinem Manta passte. Zumindest war Rudi ein Prolet mit Methode - bis hin zu Goldkettchen und Pilotenbrille. Sie kannte ihn sogar noch mit Minipli à la Atze Schröder, die er zum Glück vor ein paar Jahren auf Anraten seines Friseurs und zur Schonung der schütter werdenden Haare aufgegeben hatte.
Ich glaube, ich drehe langsam durch.
Nicht zum ersten Mal kam ihr die Frage in den Sinn, ob sie nicht eine Versetzung in eine andere Stadt beantragen sollte. Hamburg zum Beispiel. Oder Kiel. Wieso hatte sich Kowalski eigentlich von Kiel nach Schleswig versetzen lassen? Ein Aufstieg war das nicht gerade. Na, egal. Flensburg wäre auch eine Möglichkeit. Die Stadt war mindestens dreimal so groß wie Schleswig. Jedenfalls wollte Katja irgendwohin, wo das Leben tobte. Anders als hier. Oder sollte sie doch wieder zur Schutzpolizei gehen? Die hatten wenigstens immer etwas zu tun: Verkehrskontrollen, Unfälle, verschwundene Haustiere und Fahrräder. Irgendwas. Selbst Verkehrserziehung und Sicherheitsberatungen waren spannender als der Anblick des Supermarkts gegenüber. Urlaub wäre auch schön. Irgendwo in der Wärme.
Natürlich tauchte bei diesem Gedanken Bjarne vor ihrem inneren Auge auf. Bjarne, der genau in diesem Moment im Flugzeug auf dem Weg nach Alicante saß und sich vermutlich gerade zu seiner Kollegin Tanja beugte, um ihr etwas ins mehrfach gepiercte Ohr zu flüstern.
Dich will ich jetzt nicht in meinem Kopf haben, dachte sie und stieß sich wütend von der Fensterlaibung ab. Das Starren auf das trostlose Grau da draußen machte sie trübsinnig und brachte sie auf blöde Gedanken. Mit irgendetwas musste sie sich beschäftigen. Sofort.
Kaffee, dachte sie. Kaffee hilft immer.
Sie ging zu der kleinen Küchenzeile, die sie sich in dem Büro eingerichtet hatten. Eigentlich war es nichts anderes als zwei alte, umfunktionierte Aktenschränke, auf denen ein Wasserkocher und eine alte Kaffeemaschine standen. »Behörden-Teeküche« hatte Peter das immer genannt.
»Oh!« Katja hob erstaunt die Glaskanne von der Wärmeplatte. »Wir haben doch nicht etwa nach zwanzig Jahren eine neue Kaffeemaschine angeschafft?«
»Nee.« Rudi hob den Kopf hinter dem Bildschirm und deutete mit dem Kinn zu Kowalski rüber. Er grinste. »Die ist nur sauber.«
Katja schüttelte den Kopf. Kaffeemaschinen putzen und Formulare sortieren. Entweder hatte der Mann keine Hobbys, oder er litt unter einer Zwangsstörung.
Oder auch ihm ist einfach nur langweilig.
Obwohl Katja zugeben musste, dass sie ihr Dasein noch lange nicht öde genug fand, um sich freiwillig ans Waschbecken zu stellen und die alte Kaffeemaschine sauber zu machen.
Sie schenkte sich Kaffee in einen Becher. Ohne die dunkle, eingebrannte Patina der Glaskanne duftete das Gebräu sogar ganz gut - eher nach Kaffee und nicht so scharf und sauer wie üblich.
Katja kehrte gerade zu ihrem Schreibtisch zurück, als die Tür aufgestoßen wurde. Ayumi Ichigawa-Herbst fegte in den Raum, in einer Hand hielt sie eine Bäckertüte, in der anderen einen Pappbecher.
»Morgenbesprechung bei mir. In zehn Minuten.«
Sie durchquerte das Büro mit langen Schritten, wobei der Riemen ihrer schwarzen Tasche ihr von der Schulter zu rutschen drohte.
Katja schaute ihr hinterher und sah noch, dass Ayumi ihre Tür mit einem Tritt zustieß. Sven Hansen, Saskia Schlüter und Annika Flemming, die erst vor Kurzem von der Schutz- zur Kriminalpolizei gewechselt hatten, verstummten in ihrem Gespräch über eine Serie, die alle drei kannten. Sie selbst suchte Steinhaus' Blick. Er hatte eine Augenbraue gehoben.
Oha, dachte sie. Die Chefin hat heute schlechte Laune.
Als Katja genau zehn Minuten später mit Steinhaus, Kowalski und den anderen im Schlepptau an die Bürotür klopfte und sie öffnete, saß Ayumi hinter ihrem Schreibtisch, starrte auf ihren Bildschirm und schlürfte ihren üblichen Tee aus dem Pappbecher. Der Drucker unter ihrem Schreibtisch summte.
»Guten Morgen«, sagte Ayumi und klang fast schon wieder wie sonst.
»Alles in Ordnung, Chefin?«, fragte Rudi.
Ayumi verzog das Gesicht und fegte Brötchenkrümel von ihrem schwarzen Rollkragenpullover.
»Kennt einer von euch jemanden, der einen Jungen und ein Mädchen haben will, vierzehn und sechzehn, stark pubertierend? Ich hätte zwei abzugeben.« Sie trank den letzten Schluck und warf den Becher in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann fuhr sie sich durch das kurz geschnittene, schwarze Haar und richtete sich in ihrem Schreibtischstuhl auf. »Wo ist denn Carsten?«
»Er ist diese Woche für die Fortbildung am kriminaltechnischen Institut freigestellt«, antwortete Steinhaus.
»Stimmt. Das hatte ich vergessen. Und was liegt an?«
»Das gleiche Programm wie die letzten Tage.« Katja verzog das Gesicht und lehnte sich gegen den Aktenschrank. »Nichts.«
»Nun, dann wird es dich ja freuen, dass ich ein paar Meldungen auf dem Bildschirm habe.« Ayumi lächelte. »Wieder ein gestohlener Pkw, diesmal am Domfriedhof. Damit sind es bereits drei seit Montag, dazu kommen noch die beiden aus der letzten Woche. Wir sollten uns alle verfügbaren Daten ansehen und sie miteinander vergleichen. Vielleicht gibt es da Gemeinsamkeiten, ein Muster. Eine Frau, wohnhaft Auf der Freiheit, fühlt sich von einem Stalker belästigt. Und dann ist da noch ein Bestattungsunternehmer in Missunde, der Unregelmäßigkeiten an einer Leiche meldet. Die Kollegen von der Schutzpolizei meinten, dass er recht hat. Also: Freiwillige vor.«
»Ich übernehme die Autosache.« Steinhaus winkte lässig. Das war genau sein Ding - bequem vom Bürostuhl aus die Arbeit erledigen. Außerdem ging es um Fahrzeuge. Niemand von ihnen kannte sich damit besser aus.
»In Ordnung, Rudi, du kümmerst dich um die Diebstähle. Saskia, Annika - wollt ihr euch mit der Frau befassen? Fahrt zu ihr, redet mit ihr.«
Katja wollte protestieren, doch Ayumi sprach schon weiter.
»Und ihr beide, Katja und Daniel, fahrt nach Missunde zu diesem Beerdigungsinstitut. Hier ist die Adresse.« Ayumi hielt einen Computerausdruck in die Luft, den Kowalski nach anfänglichem Zögern nahm. »Seht euch die Sache an. Wenn da wirklich etwas dran ist, wisst ihr ja, was ihr zu tun habt.«
Katja runzelte die Stirn. Ein Bestattungsunternehmer. Toll. Wie spannend.
»Hast du ein Problem, Katja?« Ayumis Stimme wurde scharf.
»Nein. Alles klar. Wir machen uns gleich auf den Weg.« Wenigstens kam sie mal vor die Tür und sah etwas anderes als den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Das war schon ein Fortschritt im Vergleich zu den letzten drei Tagen, die sie ausschließlich im Büro verbracht hatte. Und bei der Gelegenheit entkam sie sogar noch Songs wie Moskau und der Musik von Modern Talking.
»Haltet mich auf dem Laufenden.«
»Wird gemacht.«
Ayumi erwiderte Kowalskis Lächeln. Offenbar mochte die Chefin den Neuen.
»Komm, bringen wir das hinter uns.« Katja merkte selbst, wie barsch sie klang. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Jedenfalls nicht heute. Sie öffnete die Tür.
»Einen Moment, Katja.« Ayumis Stimme hielt sie zurück. »Ich möchte noch kurz mit dir sprechen.«
»Ich warte unten.« Kowalski ging und schloss die Tür hinter sich.
»Was gibt es?«
»Das wollte ich dich gerade fragen.« Ayumis Blick auszuweichen war nahezu unmöglich. Sie schaffte...