Die Kathedrale
Inhaltsverzeichnis Unter Ygdrasil
Inhaltsverzeichnis Einst, im eisernen Zeitalter, verirrte sich ein Jäger im Walde und geriet bei der Verfolgung des Wildes in eine Gegend, wo er noch nie gewesen war.
Als er den Hirsch schließlich erlegt hatte und auf ihm saß, um sich zu ruhen, noch zornig wegen der Anstrengung, die die Jagd ihn gekostet hatte, fiel es ihm auf, wieviel größer und mächtiger die Bäume hier waren als in anderen ihm bekannten Gegenden, lauter hochstämmige, luftige Bäume, und Teppiche von Kräutern auf dem Boden, kein Gebüsch oder Sumpf, wie andernorts; der Platz lag höher als das umliegende Terrain, mit den großen Bäumen wie eine Kuppel das Dach des Waldes überragend; es war wie eine Dingstätte, wo die Riesen des Waldes sich versammelt hatten, um Rat zu halten.
Hoch, hoch oben schlossen die gewaltigen schlanken Stämme ihre Kronen zusammen und bildeten ein weites Laubzelt, das den Himmel, nicht aber das Licht ausschloß, grüne, kühle und klangvolle Hallen, in denen es so hellhörig war, daß vereinzeltes Vogelgezwitscher mit wahrem Getöse widerhallte, als ob der Ton hier von selbst anschwelle. Der geringste Laut wurde viele Male unter der Laubwölbung wiederholt: Echo, die Stimme der Einsamkeit; wahrlich, hier war es einsam.
Es war viele Meilen tief im Walde; von dem erhöhten Platz unter den Bäumen hatte man Ausblick über unendliche schweigende Waldstrecken, bald dichte Waldungen und bald Lichtungen, die Wasserläufe und Seen umschlossen, und wieder Wald und Wald, soweit das Auge reichte, nach drei Seiten; nach der vierten aber hatte man Ausblick zu einem großen Fluß, der sich mit einer meilenweiten Bucht auf den Fuß der Anhöhe zuschwang, als ob er dort etwas auszurichten habe; es war ein breiter, reißender Fluß mit einem tiefen Strombett, der forteilte und unterwegs auf seinem Wasserspiegel Wirbel schrieb; zu beiden Seiten war er von unberührten Bäumen eingefaßt; nur hin und wieder zeigte eine Öffnung im Fluß Ufergebüsch, wo die Tiere ihre uralten Trinkstellen hatten. Er kam durch den Wald von fernen Gegenden, wo blaue Profile Berge anzeigten, und floß durch das Flachland auf den gegenüberliegenden Horizont zu. Die geübten Augen des Jägers erspähten Fischadler über den Stromwirbeln; wenn man hier wohnte, konnte man sich zur Abwechslung nach der Jagd mit einer Angelschnur gute Tage machen.
Unterhalb der Bäume in einer Vertiefung wuchs meterhohes Unkraut, dort war eine verborgene Quelle; der Jäger drückt den Rücken seiner Hand in das nasse Moos, bis seine hohle Hand sich mit Wasser gefüllt hat, und stillt seinen Durst; darauf kehrt er zu dem erlegten Hirsch zurück, schneidet erst seine Pfeile heraus und beginnt dann, das Messer bald in der Hand, bald zwischen den Zähnen, dem großen, schweren Tier das Fell abzuziehen. Darauf zerlegt er den Körper und hängt die Stücke am nächsten Baum auf. Den Stirnknochen und das Geweih haut er heraus und setzt sie auf einen Ast: für die Geister des Ortes. Dann richtet er sich auf und trocknet seine talgblanken Hände hinten an der Hose, öffnet einen Lederbeutel und nimmt ein Feuerzeug heraus: mit Daumen und Zeigefinger hält er ein Ende Zunder über den Flintstein, fährt mit dem Stahl über den scharfen Rand, Funken springen zwischen seinen Händen hervor, klarer noch als der Tag, ein glühender Punkt im Zunder beginnt zu rauchen, er kniet nieder, bläst vorsichtig in die Glut, rafft mit der einen Hand trockenes Laub zusammen und beugt sich tief zur Erde herab, Rauch umwogt seinen Kopf, er macht ein Nest aus seinen Händen und atmet darauf, bis er sich schließlich erhebt und die Flamme im selben Augenblick aus dem Laubboden leckt. Kurz darauf hat er Feuer. Dann spitzt er einen Stab mit dem Messer und brät die Niere darauf über dem Feuer, ißt und kaut, geht zur Quelle und schlürft Wasser, alles schweigend, was nicht zu verwundern, da er ganz allein ist.
In der Nähe, in einem Baum, war ein ausgestorbenes Astloch und dort wohnte ein Star; hin und wieder kam er aus seiner Tür, flog davon und kam nach einiger Zeit mit Regenwürmern im Schnabel zurück, indem er in gestrecktem Flug geradeswegs in das Loch hineinflog, wie ein Pfeil, der von weither aufs Ziel gerichtet ist; und wenn er verschwunden war, klang aus der Höhlung des Baumes ein leises, ersticktes Piepsen.
Die Augen des Jägers wandern hin und her, während er zerstreut ißt, große Bissen auf einmal herunterschluckt; der Wald lebt um ihn herum, wie er ihn kennt, er ist eins mit ihm, sieht das Eichhörnchen über die steile Rinde eines Baumes schlüpfen, mit ausgebreiteten Gliedern und abstehendem Schwanz, es verschwindet hinter dem Stamm, kommt wieder zum Vorschein, eine Gaffel höher, er verfolgt halb unbewußt das kleine, flinke Wesen, bis es oben im Laub verschwindet und andere Dinge seine Aufmerksamkeit fangen. Der Wald geht seinen Gang, wie ein großer, ruhiger Betrieb, wo jeder seine Arbeit tut, fern voneinander und schweigend. In der Ferne, wie hinter vielen Türen, hört man den Specht, der auf einen abgestorbenen, klangvollen Ast hackt; hoch oben aus den Geheimkammern der sonnigen Kronen, aus dem grünen, wonnigen Licht dort oben, kommt das volle Girren der Waldtauben, eine Mutter ist bis an die Kehle mit Glück gefüllt. Der Fink schreit hin und wieder, ein übergroßer Laut von solch kleinem Tier, und weckt Widerhall im Walde, er hat ein Nest und ist froh wie ein Hengst, obgleich er so klein ist, daß der geringste Zweig ihn tragen kann. Die Fliegen summen und werden wild, schwirren in heftigen Kreisen durch die Mittagshitze, eine fällt auf ein Blatt und zappelt auf dem Rücken, total betrunken, die Sonne macht die Geschöpfe verwirrt.
Ein Raubvogelschrei klingt über den Baumwipfeln; unten im Walde unter den Büschen schnuppert es, und der Jäger duckt sich, hört auf zu kauen: es ist eine Dachsmutter, die mitten am Tage mit zwei halbwüchsigen Jungen unterwegs ist, gestreift im Gesicht und mit mächtig breitem Körper; sie gibt den Jungen Unterricht, kehrt die Erde mit der Pfote um und beschnüffelt sie, und die Jungen tun wie sie. Der Jäger beginnt wieder zu kauen; es ist ja nicht die Jahreszeit, mag sie ihren Balg bis auf später behalten.
Als der Jäger seine Mahlzeit beendet hat, sieht er zum Himmel auf und schätzt die Tageszeit, etwas über Mittag, dunstige Leitern gehen von den Baumwipfeln steil bis zu den Schatten hinunter, der Wald ist sehr still, nur hitziges Fliegengesumm und ein Bussardschrei über den Wipfeln. Der Jäger gähnt und verzerrt die Kiefern, schüttelt den Kopf, seit dem Morgengrauen und den ganzen langen Vormittag ist er der Spur gefolgt, fast ununterbrochen im Galopp, wer weiß, wo er jetzt ist. Und nun muß er den ganzen langen Weg zurück. Aber das Essen und der starke Geruch des Feuers haben ihn schläfrig gemacht, er gähnt wieder, erschauert und legt sich nieder, um im Grase neben dem Feuer zu ruhen.
Als er erwachte, war es spät.
Der Wald hatte sich mit Dämmerung gefüllt, sie ging von der Wurzel der Bäume ganz bis zu den Kronen hinauf, die noch von der Sonne durchleuchtet wurden. Ein leiser Wind hatte sich aufgemacht, das Laub dort oben bewegte sich und schüttelte blaue Himmelsblitze und grünes, rotes und gelbes Licht durcheinander; im Westen zeigte ein Purpurschein hinter den Stämmen, wie tief die Sonne stand. Andere Vögel als vorhin ließen sich hören, sie hatten die höchsten Zweige aufgesucht, von wo sie ihre langen, gleichsam fragenden Flötentöne mit dem schwindenden Tageslicht vermengten. Unten auf dem Boden des Waldes war es dunkel und still.
Der Jäger wußte, daß er mit einer großen Last Fleisch viele Meilen durch weglosen Wald gehen mußte, bevor er zu bewohnten Gegenden kam; er hatte sich verschlafen und erkannte besorgt, daß er die Nacht draußen verbringen müsse. Rasch entschloß er sich zu bleiben, wo er war, anstatt irgendwo im feuchten Wald zu übernachten, und sah sich gleich, während es noch hell genug war, unter den großen Bäumen nach einer bequemen Gabelung zwischen den Zweigen um, wo er die Nacht in Sicherheit verbringen konnte, wenn auch an Schlaf nicht zu denken sein würde. Als er sich eine gemerkt hatte, legte er mehr Reisig aufs Feuer und richtete sich für die Nacht ein, doch war er unruhig. Er schleppte schwere Windfälle herbei, schwitzte und machte Lärm, versuchte sogar zu singen, hielt aber wieder inne. Auf dem verblassenden Himmel trat der Tagmond hervor und begann Kraft zu gewinnen, er schlug die Augen vor ihm nieder, der Himmel war über ihm, er konnte sich nicht vor ihm verstecken.
Und der Wald wurde so seltsam düster und starr, während die Sonne unterging, kalter Hauch ging davon aus und machte den Jäger trotz der Nähe des Feuers erschauern, denn im Windzug war ein Wesen, das ihn bis ins Mark traf. Die Luft verdichtet sich zu allerhand stummen Dingen, die sich darin sammeln; das Feuer und die Dunkelheit vermehren sich gegenseitig, je mehr das Feuer leuchtet, desto schwärzer wird der Wald; bald befindet der Jäger sich wie in einer Höhle von Licht, in dessen Schein nur die nächsten Baumstämme stehen und glotzen, draußen ist schwarzes Dunkel, die alte, böse Nacht.
Er blickt in die Höhe, und seine Seele bekommt einen Stoß, denn dort sind die Sterne, es ist, als ob er sich mitten in einer ungeheuren Höhle mit Sternenwänden befindet; die bekannten Bilder breiten sich über seinem Kopf, der große Bär schwingt sich um seine eigene Länge, der Orion braust in den Himmel, das Siebengestirn flackert im Ewigkeitswind, indem es seine Sterne bald zeigt, bald in Lichtnebel hüllt, und hoch, hoch oben die Milchstraße mit ihrer schwindelnden Seele; stumm und strahlend wie immer sind die Sterne, mit einem...