Schweitzer Fachinformationen
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Der Horizont ist nicht sehr fern; mit den Wolken rückt er näher, kommt bis an unser Dorf. Bei schönem Wetter entfernt er sich, wandert anderswohin. Es kommt vor, daß ich den Arm ausstrecke und den Eindruck habe, ihn zu berühren. Er ist eine gebrochene Linie aus gedrungenen Büschen und kahlen Hügeln. Wie die Ziegen, die ich hüte, klettere auch ich auf einen Baum, setze mich fest eingekeilt auf einen Hauptast und versuche zu sehen, ob etwas hinter dieser beweglichen Linie ist: Bäume und dann Hügel, über denen eine leichte Dunstschicht schwebt wie ein Segel oder ein Moskitonetz. Auf dem Baum vergesse ich alles, die Herde, den Hund und die Zeit. Ich kann einen ganzen Tag so in luftiger Höhe verbringen, ohne mich zu langweilen. Ich trällere ein Lied, ich schlummere ein wenig; die übrige Zeit träume ich. Tatsächlich hecke ich eine ganze Welt aus, von Figuren ausgehend, die mir vor dem Hintergrund des Himmels oder zwischen den Ästen des Baumes erscheinen: wilde Tiere, die ich abrichte, Menschen, die ich in einer Reihe oben auf eine Klippe stelle und beobachte, wie sie vor Angst vergehen; ich nehme sie nur aufs Korn; ich stoße sie nicht; Raubvögel, deren Merkmale ich abschwäche; Wolken, die verrückt spielen, Bäume, die umstürzen, andere wachsen in den Himmel; von dort rufe ich das unschöne Gesicht Slimas herbei. Sie ist meine Tante. Sie mag mich nicht; ich verabscheue sie. Mein Vater hat mich bei ihr gelassen, als er in die Fremde arbeiten ging. Er hat mir versprochen, mich abholen zu kommen. Ich warte auf ihn. Deshalb klettere ich auch auf die Bäume. Ich suche den Horizont und den Weg ab, in der Hoffnung, ihn eines Tages kommen zu sehen. Meine Mutter ist oft bei ihren Eltern. Sie wohnt jenseits des Hügels. Sie ist schwanger und kann sich nicht um mich kümmern. Als meine Tante sich anbot, mich aufzunehmen, wollte ich nicht mit ihr gehen. Ich wußte, daß sie mich schlecht behandeln würde. Also lasse ich, gemütlich auf dem Hauptast des Baumes sitzend, Slimas scheußliches Gesicht zu mir kommen, genauer gesagt auf die Himmelsleinwand, die ich zwischen den Blättern sehe. Ich entscheide, daß es häßlich ist. Es ist knetbarer Ton. Ich mache zwei Löcher anstelle der Augen und einen großen waagerechten Riß anstelle des Mundes. Die Nase ist gespalten. Mit meinen Füßen trete ich so lange, bis alles sich vermengt und man keine menschliche Form mehr erkennt.
Warum entweicht die Häßlichkeit der Seele aus dem inneren Gehäuse und legt sich über das Gesicht? Körperliche Häßlichkeit beängstigt mich nicht. Es ist die andere, die ich fürchte, weil sie tief ist und von so weither kommt. Sie tritt auf dem Gesicht zutage und bringt Unglück. Sie gräbt sich ihr Bett auf dem Körper und in der Zeit. Alles ist in den Augen. Wenn sie in gelbem Wasser schwimmen, bedeutet dies, daß sie von der Häßlichkeit der Seele angesteckt sind. Meiner Tante steht der Haß in den Augen. Sie sind bisweilen gelb, rot, wenn sie in Wut gerät. Obwohl klein, verschlingen ihre Augen das Gesicht. Sie sind klein und tiefliegend wie enge Löcher, durch die der Haß dringt. Er ist eine Flüssigkeit, die im Körper kreist. Es ist an uns, sie umzuwandeln, ihr ein wenig Menschlichkeit zu verleihen. Mir gelingt es nicht, den Haß meiner Tante nicht zu erwidern. Tatsächlich gebe ich den Schmerz an den Verursacher zurück. Ich weigere mich, ihr die Tür zu öffnen. Ich bin nicht töricht. Sie denkt, ein Kind sei unfähig zu verstehen, was um es herum vorgeht. Ich verstand nicht nur alles, sondern ich blieb obendrein nicht stumm und passiv. Mein erster Zusammenstoß mit meiner Tante geschah nachts. Ich schlief nicht. Ich war aufgestanden, um auf dem Hof herumzulaufen. Der Mond war voll, oder jedenfalls beinahe. Es war hell. Ich ging lautlos. Als ich den Stall betrat, bemerkte ich, daß die Kühe einen sehr leichten Schlaf hatten. Sie waren alle aufgestanden, glaubten wohl, es sei Zeit, herausgelassen zu werden. Panik ergriff mich. Meine Tante, vom Lärm der Tiere alarmiert, kam mit einem Stock bewaffnet in den Stall. Sie meinte, es mit einem Dieb zu tun zu haben. Sie schlug mich. Sie hatte mich natürlich erkannt, aber sie schlug weiter, als wäre ich ein Sack Heu. Ich zählte die Schläge. Zehn, zwanzig, vielleicht dreißig. Mein Körper war unempfindlich. Jeder Schlag war wuchtig vor Haß und Groll. Ich würde ihr nicht verzeihen. Nicht vergessen. Ganz im Gegenteil. Ich dachte schon an die Zukunft. Sie, alt, gebrechlich, ich, jung und stark, würde sie nicht schlagen. Sondern sie nur ansehen, sie beobachten, ihren Schmerz ermessen und lachen, ohne mich zu regen, ohne etwas zu tun, nicht einmal lachen, gerade eben lächeln. Nur ihre Augen würden einige letzte haßerfüllte Flammen schleudern. Ich würde den Haß nie mit Bösem vergelten, sondern ihn, ohne etwas hinzuzufügen, erwidern, ihn zurückgeben, ihn zurückverweisen an diesen müden, prallen und verbrauchten Körper. Er würde Löcher hineinmachen können, und ich würde dem beiwohnen, ohne zu reagieren. Ich dachte mir, daß ich nicht denselben Weg einschlagen durfte wie sie. Sie sagte, ich sei eine Tochter des Dämons. Ich war wild, aber nicht böse. Ich liebte dieses Dorf, seine Hügel, seine Bäume, seinen Schlamm und seine Bewohner. Es war mein Dorf. Ich trug es in mir, auch wenn es nicht dem wirklichen Dorf glich. Doch ich hatte nicht vorgesehen, meine Tante darin wohnen zu lassen. Wenn ich an das Dorf dachte, sah ich sie nicht in seinen Gassen auftauchen. Manchmal hörte ich ihre Stimme, heiser und brutal. Eine Stimme wie geschaffen zum Schreien, zum Brüllen, zum Schimpfen und Herrschen. Sogar die Tiere hatten Angst vor ihrer Stimme. Sie sollte sie davon abhalten, wiederzukäuen oder sich auf dem Heu niederzulassen. Sie sahen sie von der Seite an, als wagten sie nicht, ihr gegenüberzutreten. Von Zeit zu Zeit wagte meine Tante einige Gebärden, die Liebkosungen sein sollten. Die Kühe stießen sie zurück, die Schafe entzogen sich ihrer Hand. Alle Welt wies sie ab. Sogar die Steine glitten hinweg, wenn sie vorbeikam. Die Bäume regten sich nicht. Sie waren stumme Zeugen eines Dramas, das sich täglich abspielte. Die Nachbarn mischten sich nicht in unsere Angelegenheiten ein. Manchmal murmelten sie einige Gebete, damit es zwischen ihnen und uns keinerlei Berührung gebe. Darauf legte übrigens niemand Wert. Ich hätte gern Freundinnen gehabt, gern gewußt, daß ich nicht allein und verlassen war, wäre gern beschützt worden und hätte gern gewußt, daß ich mich zu den einen oder anderen flüchten konnte. Ich durfte nicht einmal sagen, daß ich ohne Familie war, daß meine Eltern weit weg, jenseits der Meere waren, daß zwischen ihnen und mir gleichsam ein hohes, unüberwindliches Gebirge stand. Ich wartete ungeduldig auf den Sommer, um meinen Vater zu sehen. Meine Mutter traf sich mit ihm. Sie kamen für zwei oder drei Wochen ins Dorf. Sie waren hier, um sich zu erholen, und ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen, allein mit ihnen zu sein und ihnen von meinen Qualen zu erzählen. Meine Tante wurde nett, wenn der Sommer herannahte. Sie kaufte mir ein Kleid, Sandalen, gab mir regelmäßigere Mahlzeiten und zwang mich, Körner zu essen, die dick machen. Sie sagte: «Hier, iß helba, das wird dich ein bißchen kräftigen!» Tatsächlich blähte es mich auf. Meine Formen wandelten sich ein wenig, aber da ich schmächtig war, sah man sogar die winzigsten Veränderungen. Ich wollte den Aufenthalt meiner Eltern nicht verderben. Ich vermied es, ihnen Probleme zu bereiten.
In einem Sommer wurde mein jüngerer Bruder krank. Er wurde bleich und erbrach alles, was er aß. Meine Eltern beschlossen, ihn im Dorf zu lassen. Meine Tante war entzückt. So wurde ihr ein weiteres Opfer geboten. Sie ahnten nichts von dem Unheil, das diese Frau vorbereitete. Ich wußte es. Gleichzeitig sagte ich mir, daß wir es zu zweit vielleicht schaffen würden, das Drama abzuwenden.
Es ging schnell und stürmisch. Er verlor die Sprache, dann die Stimme. Er sah uns mit seinen großen Augen erschrocken an. Er bat uns auf diese Weise, etwas zu tun, uns bei Gott oder beim Dorfheiligen dafür einzusetzen, daß die Schmerzen im Bauch aufhörten und ihm die Fähigkeit zu sprechen zurückgegeben würde. Auf seinem Gesicht lag eine überraschende Heiterkeit, wie ein natürliches, ständiges Lächeln. Seine Augen vergrößerten sich, um alle Tränen der Kindheit aufzunehmen. Er weinte nicht, sondern starrte in den Himmel, als befrage er irgendeinen Stern über den Ursprung dieses Leidens. Sein Bauch war aufgebläht. Er hatte seine kleinen Hände darauf gelegt. Die Leute, die ihn besuchen kamen, machten ihm angst. Er hielt sie wohl für Riesen, für zudringliche Geister. Er wandte den Kopf ab, um sie nicht zu sehen. Wenn meine Tante sich ihm mit einer Schale heißer Milch näherte, stieß er sie zurück und verschüttete die Milch über ihre Hände. Sie heulte auf und stammelte etwas Böses. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich ein Gesicht grün werden. Einige Sekunden lang erblickte ich flüchtig den Tod. Er hatte die Züge meiner Tante mit ihrer blaßgrünen Haut. Dieselbe Farbe griff auf die Wangen, dann auf die Stirn meines Bruders über. Seine Augen blieben offen. Es war nichts mehr darin. Keine Tränen mehr. Kein Bild mehr. Seine verkrampften Hände stellten den Schmerz endgültig ab. Er war emporgehoben auf ein Laubdach. Sein durchsichtig gewordener kleiner Körper schwebte zwischen den Wolken. Ein Vogel, vielleicht eine Taube, flog über das Haus. Eine heiße Windbö fegte durch den Hof. Sie trug das Strohlager davon, nachdem sie umhergewirbelt war, als suche sie die Sachen des Kleinen. Das war das gelbe Lachen der Wüste. Dieses Lachen kommt häufig, um ein Haus reinzuwaschen, in dem der Tod seine Arbeit schlampig verrichtet hat. In unserem Fall war er auf der Seite der Ungerechtigkeit...
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