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Freitag, der 20. Dezember 1929
Es war ein Traum.
Die Welt flog an ihr vorüber, so schnell, dass es sich anfühlte, als pustete sich dabei in ihrer Brust ein Ballon auf, der gleich platzen musste. Auf dem weißen Pferdchen vor ihr drehte sich Elsa um, Minna hörte ihre Schwester laut jauchzen. Sie selbst saß in einer Kutsche mit weißen und rosa Schnörkeln, gerade sauste sie an dem Leierkastenmann vorüber, der neben dem Karussell einen Cancan spielte. Eine Matrone im braunen Mantel war mit ihren Freundinnen stehen geblieben und schwenkte neckisch den Rock hin und her. Minna musste bei dem Anblick laut lachen. Die Frau war so alt, sie hätte ihre Mutter sein können. Dass Mutter zu Tanzmusik die Röcke schürzte, das konnte sich Minna allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie fühlte sich albern und trotz ihrer achtzehn Jahre unsagbar jung. Minna war kein Kind mehr, das von einer weißen Kutsche träumte. Schon lieber wäre sie nach Paris gereist und hätte in dem berühmten Moulin Rouge einen echten Cancan gesehen. Doch sie war an diesem Winterabend hier, im Tivoli in Kopenhagen, und sie hätte nirgendwo anders sein mögen.
Sie warf einen Blick zur Seite und gewahrte Carl Olsens Blick. Der Lehrer ihrer Schwester sah sie vom Nebensitz aus amüsiert und mit hochgezogenen Augenbrauen an, doch das Funkeln in seinen Augen war warm. Er wusste, dass Elsa und Minna seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr im Tivoli gewesen waren, und freute sich an ihrer Begeisterung. Seine Kappe hatte er abgenommen, weil sie ihm auf dem Karussell sonst vom Kopf geflogen wäre, und in der Kälte leuchteten seine Ohren und Wangen rot. Der Fahrtwind hatte das blonde Haar zerzaust. Mit seinem triumphierenden Blick wirkte er ein wenig wie ein Lausejunge, der etwas Drolliges angestellt hatte. «Hü!», rief er und schwang eine imaginäre Peitsche in Richtung von Elsas Pferdchen, das ihre Kutsche zog.
Wieder blubberte ein Lachen in Minna hoch. «Nicht übel! Falls sie dich wegen deiner politischen Umtriebe entlassen, kannst du immer noch Kutscher werden!», rief sie.
Carl Olsen war an der Mädchenschule in Nørrebro eine schillernde Figur. Seit Jahren ging das Gerücht, man werde ihn wegen seiner radikalen Ansichten entlassen, doch bislang war er bei Schuljahresbeginn stets wieder zum Dienst erschienen. Vor drei Jahren war er Elsas Klassenlehrer geworden. Auch Minna hatte er unterrichtet, in ihrem letzten Schuljahr vor vier Jahren, nur knapp über zwanzig konnte er da gewesen sein und frisch von der Universität. Er brannte vor Begeisterung für die Bücher, die er mit ihnen las, und sein scheinbar grenzenloses Wissen über die Welt, seine Neugierde und Offenheit hatten Minna zutiefst begeistert. Er seinerseits hatte ihre Wissbegierde schnell bemerkt und unauffällig damit begonnen, sie zu fördern. Auch jetzt noch, vier Jahre nachdem sie von der Schule abgegangen war, lieh er ihr Bücher. Regelmäßig führte er sie freitagabends in ein Café aus und unterhielt sich mit ihr über Theater, Literatur und Politik. Es hatte sich beinahe so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, auch wenn sie selten über Persönliches sprachen. Trotzdem wusste Minna, dass sich Carl mit seiner Familie überworfen hatte und deswegen nicht promovieren konnte. Sein Vater, der ebenfalls Lehrer war, missbilligte den radikalen Sozialismus seines Sohnes und hatte jegliche Zahlung an ihn eingestellt. Doch kürzlich war es wieder zu einer Annäherung der beiden gekommen. Carl wollte seine Eltern über Weihnachten wohl besuchen. Wahrscheinlich lag es an seiner weihnachtlichen Stimmung, dass er Elsa und Minna ins Tivoli eingeladen hatte.
«Und du solltest vielleicht hier im Varieté Cancan tanzen, ich habe den Eindruck, sie haben im Tivoli talentierteres Personal nötig», rief er zurück.
«Nur weil ich Walzer mag, tanze ich noch lange keinen Cancan», entgegnete sie mit gerunzelter Stirn. Er sollte bloß nichts Falsches von ihr denken. Ihre Unterhose würde ihre Privatsache bleiben, danke schön. Die bunten Lichter, unter denen sie sich im Kreis drehten, machten sie plötzlich ein klein wenig schwindelig.
Carl Olsen lehnte sich ein Stück zu ihr herüber und stieß sie mit der Schulter an. «Talent ist Talent», sagte er augenzwinkernd. «Du könntest sicher alles tanzen.»
Als er sie vorhin im Pavillon über die Tanzfläche geschwungen hatte, ausgelassener als bei den geselligen Abenden in Nørrebro, musste er gespürt haben, wie sehr sie das Tanzen liebte.
«Die Frage ist nicht, was ich könnte», sagte sie ein wenig schnippisch, «die Frage ist, was ich will. Und Tänzerin werden gehört nicht dazu.»
Erneut hoben sich seine blonden Augenbrauen, und der blaue Blick darunter wurde bohrend. «Und was gehört dazu?», fragte er. «Tippen?»
Darauf sollte sie eigentlich nicht antworten. Niemand, das war ihr schon bewusst, interessierte sich dafür, was ein mittelloses Bürofräulein von achtzehn Jahren «wollte». Dagegen war allen klar, was sie «musste». Sie musste Geld verdienen, um ihrer Mutter zu helfen, die kleine Schwester durchzubringen, sie musste pünktlich sein und fügsam und freundlich selbst zu dem widerlichsten Schreibzimmervorsteher, und vermutlich musste sie irgendwann einen braven Arbeiter heiraten, wie ihr Vater einer gewesen war, und dann war ohnehin Schluss mit Wünsch-dir-was.
«Ich will Lehrerin werden», sagte sie trotzig.
Carl Olsen verzog keine Miene, er lachte sie nicht aus, sondern sah sie weiter aufmerksam an. Eine Schneeflocke landete in seinem Bart.
«Dann solltest du es versuchen», sagte er.
Minna spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Der Schwindel ergriff nun vollends von ihr Besitz. Sie hatte das Gefühl, sich in die falsche Richtung zu lehnen, bei nächster Gelegenheit würde die Fliehkraft sie seitlich aus der Kutsche tragen und dem Leierkastenmann vor die Füße werfen. Sie schloss die Augen, packte den Türgriff mit ihrer Rechten und mit der linken Hand Carls Ärmel.
Er lachte und nahm ihren Arm. Minna blickte nach vorn zu ihrer Schwester, die mit fliegenden Locken auf dem weißen Pferdchen ritt. In der Dunkelheit um das Karussell funkelten dicke Flocken, die aus dem Dezemberhimmel herabschwebten. Wie kalte Stiche spürte Minna sie auf der Haut, am liebsten hätte sie eine mit den Fingern berührt.
«Du hast Schnee im Gesicht», sagte Carl Olsen. Sie blickte ihn an mit seinem verschneiten Bart. Ein Grinsen breitete sich über sein gesamtes Gesicht aus, das so unwiderstehlich war, dass sie einfach zurücklächeln musste.
«Und eine rot gefrorene Nase.» Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. «Minna», sagte er leise, und dann küsste er sie sanft auf die Nasenspitze.
Minna erwachte von einem lauten Scheppern. Mutter hatte die Petroleumlampe auf den Tisch gestellt, der mitten im Zimmer stand, und machte sich am Ofen zu schaffen. Ihr Bett war noch zerwühlt, sie musste gerade aufgestanden sein. Elsa zog sich in ihrem Bett gegenüber die Decke über die Augen.
Unwillkürlich fasste sich Minna an die Nase, die in der Kälte im Zimmer nach wie vor rot gefroren war. War sie gestern wirklich mit Carl Olsen im Tivoli gewesen? Nach all den lehrreichen Treffen im Café, den Gesprächen vor Elsas Schule, wenn sie ihre Schwester abgeholt hatte, all den Begegnungen bei Abendveranstaltungen des Arbeitervereins hatte er sie erstmals als Privatmann eingeladen. Der gestrige Nachmittag mit seinen glitzernden Schneeflocken und dem heißen Kakao, den Pantomimen, dem Tanz und der Karussellfahrt kam ihr vor wie ein ferner, verheißungsvoller Traum.
Direkt von der Schule, wo Minna auf Elsa gewartet hatte, waren sie zum Omnibus gegangen. Seine beste Schülerin verdiene zu Weihnachten eine Belohnung, hatte Carl verkündet, und Elsa hatte gestrahlt vor Stolz. Eigentlich hatte sich Minna zur Missbilligung ihres Vorgesetzten den halben Tag frei genommen, um mit ihrer dreizehnjährigen Schwester Weihnachtsherzen aus Papier zu basteln und damit als Überraschung für Mutter die Stube in der Elmegade zu schmücken. Für große Geschenke hatten sie kein Geld, aber feierlich wollten sie es zu Weihnachten doch haben. Bei der Aussicht allerdings, mit Carl das Tivoli zu besuchen, hatte Minna diesen Plan natürlich über den Haufen geworfen.
Carl Olsen war so ganz anders als die Männer, mit denen sie sonst zu tun hatte, witziger, unverschämter und auch furchtloser. Immerhin hatte er sich für seine Überzeugungen mit seiner Familie überworfen. Minna konnte jedoch schwer einschätzen, ob ihm wirklich etwas an ihr - Minna - lag oder ob es einfach zu seiner Vorstellung vom gesellschaftlichen Fortschritt gehörte, einem neugierigen Arbeiterkind zu etwas Bildung zu verhelfen.
Für die Arbeiterjungen war Minna mit ihren blonden Locken ein gefundenes Fressen, das war ihr schon lange klar. Seit sie denken konnte, musste sie sich den Zudringlichkeiten von Ole dem Schuhputzer erwehren - von den Zudringlichkeiten im Kontor ganz zu schweigen. Auf der Straße pfiff man ihr hinterher oder lud sie zum Trinken ein, was sie stets ablehnte. Für den langen Friedrich, der immer bis in die Haarwurzeln errötete, wenn sie seinen Weg kreuzte, hatte sie nur Mitleid übrig. Solche Männer konnten Carl Olsen nicht das Wasser reichen.
Mit einem Knall schloss Mutter die Herdklappe. Sie hatte gestern bis spät in der Wäscherei gearbeitet und von der Abwesenheit der Mädchen nichts mitbekommen. Mit einem Ächzen richtete sie sich auf. Heute Morgen würde es kalt bleiben, ihnen war die Kohle ausgegangen. Minna wollte sich nach der Arbeit darum...
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