Schweitzer Fachinformationen
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Das Weihnachtsbasteln im Kindergarten war wie jedes Jahr für halb drei anberaumt. Erst um zehn nach zwei wurde Maike in der Agentur ihren Kunden los. Dem Mann hatte zunächst nicht eingeleuchtet, warum eine eigens für sein Produkt entwickelte Kampagne so viel Geld kosten musste. Sobald er es endlich verstanden hatte, komplimentierte sie ihn mit den besten Wünschen zum Fest aus der Tür und machte sich eilig auf den Weg. Nun schien es schon wieder zu dämmern, ohne dass es hell geworden wäre. Auf ihren hohen Stiefeletten trabte Maike um die Pfützen im Haynspark herum, damit sie es doch noch rechtzeitig zur Kita schaffte.
Über dem friedlich daliegenden Alsterarm ballten sich dunkle Wolken. Wie schon den ganzen Dezember über nieselte es. Im letzten Jahr war Jakob der einzige Zweijährige gewesen, der ohne Eltern gebastelt hatte, als Maike wegen eines Kundentermins eine Viertelstunde zu spät eingetroffen war. Das brachte ihr Job als Art-Direktorin in einer Werbeagentur eben mit sich. Ein solches Spießrutenlaufen wollte sie aber nicht noch einmal erleben. Den vorwurfsvollen Blick der Erzieherin damals konnte sie immer noch spüren.
Dennoch stand ihr, das war Maike klar, in diesem Jahr eine andere Sorte von Spießrutenlaufen bevor. Frisch getrennt, alleinerziehend, das erste Weihnachten ohne Jakobs Vater, und alle wussten Bescheid. Eppendorf war auch nicht besser als Jork oder Stade, wenn es um Klatsch ging.
Verschwitzt betrat Maike die weihnachtlich dekorierte Eingangshalle der Kita und nahm sich die feuchte Wollmütze ab. Ein Meer von neugierigen Gesichtern wandte sich ihr zu, die einen auf Augen-, die anderen auf Kniehöhe. Man nickte ihr freundlich zu. Eine erneute Hitzewelle stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass in diesem Idyll junger Familien heute ausnahmsweise sogar die Väter dabei waren. Alle schienen sie aus ihren Arztpraxen, Kanzleien und Agenturen herbeigeeilt zu sein, um mit aufgekrempelten Hemdsärmeln stolz die Einjährigen herumzutragen, während die Mütter mit den Drei- bis Fünfjährigen an der Hand schon in Richtung der Basteltische strebten.
«Mama!» Bester Dinge rannte ihr Sohn auf sie zu. Das dunkelblonde Haar klebte ihm verschwitzt im Nacken, vermutlich kam er wie üblich aus dem Toberaum. «Ich will Lomomiven bauen!»
«Du willst Lokomotiven bauen? Alles klar, ich ziehe mich nur schnell aus», erwiderte sie, drückte ihm einen Kuss auf die runde Wange und machte sich auf den Weg zu seinem Haken mit dem Elefanten, um ihren Mantel aufzuhängen. Am Delfin, dem Nachbarhaken, stand schon Uta, die Mutter von Jakobs bestem Freund Tove. Sie schien auf Maike zu warten. Wie stets hatte Uta trotz ihrer vier Söhne mit glühendem Engagement die Geschenke für die Erzieher, das Weihnachtssingen im Garten sowie den Newsletter zum Jahresende verantwortet. Sie umarmte Maike und rief eine Spur selbstgefällig: «Und jährlich grüßt das Murmeltier, und hier basteln wir wieder! Sei froh, dass du nur einen hast, da kannst du ihm wenigstens helfen. Wie geht's?»
«Super», antwortete Maike und hängte ihre Jacke an den Elefanten. Sie fing Utas Blick auf, der irgendwie missbilligend an Maikes hohen Stiefeln und dem schwarzen Kaschmirpulli hängengeblieben war.
Uta zog sich die karierte Flanellbluse glatt, beugte sich leicht vor und fragte in vertraulichem Ton: «Kommt Christian auch?»
«Könnte sein», antwortete Maike. «Er will es versuchen.»
Ihr Noch-Ehemann hatte ihr am Telefon zwar versichert, zum Basteln auftauchen zu wollen, aber wie stets hatte er gleichzeitig auf die Vielzahl seiner beruflichen Verpflichtungen hingewiesen. Maike wusste schon, dass er nicht kommen würde. Und es war ihr ganz recht. Sie wollte nicht gezwungen sein, vor aller Augen konstruktives Trennungsverhalten zu demonstrieren, mit dem Mann, der sie erst betrogen hatte und nun - ein wandelndes Klischee - mit seiner Assistentin zusammenlebte.
«Hartmut ist auf dem Weg, er kommt aber mal wieder später», sagte Uta augenrollend. Maike glaubte kein Wort. Utas Mann ließ sich nie blicken, vermutlich, weil er die Lautstärke seiner Kinder einfach nicht aushielt. Wenigstens verdiente er genügend Geld, um seiner Frau das Leben als Hamburger Vollblut- und Vollzeitmutter zu finanzieren.
Auf der Suche nach Jakob und dem Lomomiven-Tisch betrat Maike die Kita-Küche. Eine Puderzucker-Wolke erwischte sie kalt von vorne, und Maike blickte in grinsende Gesichter, als sie verdutzt von ihrem weiß bestäubten Oberkörper wieder aufsah. «Ups», machte Kathrin, «Levke, man wirft doch nicht mit Zucker. Du sollst den doch in die Schüssel mit Wasser rühren.» Nun war der anstößige Kaschmirpulli wenigstens nicht mehr schwarz.
Jakob saß bereits an einer Tischecke und blickte ihr eifrig entgegen. Vor ihm stapelten sich Dominosteine, eine Schüssel mit zähflüssiger Zuckerguss-Pampe und runde Schokokekse. Kaum hatte Maike eines der niedrigen Stühlchen zu ihm herangezogen und sich darauf gekauert, demonstrierte er ihr schon begeistert, wie sich aus drei aufeinandergepappten Dominosteinen und seitlich drangeklebten Schokotalern Lokomotiven erstellen ließen. Nachdem sie unter den wohlwollenden Blicken von Gina, der untersetzten Erzieherin mit den rosa Haaren, sechs solcher Kunstwerke fertiggestellt hatten, zog sich Maike verstohlen etwas Zuckerguss aus den Haaren. Kathrin gegenüber hob verschwörerisch grinsend die Schultern.
«Na, Jakob, wollen wir noch was anderes basteln?», fragte Maike munter.
«Nein! Ich brauch noch eine Lomomive für Opa!», antwortete ihr Sohn und rammte sich beide zuckergussbekleckerten Hände gleichzeitig in den Mund.
«Aber wir haben doch schon eine für dich, eine für Mama, eine für Papa, eine für Tante Anne, eine für Opa und eine für Gina», zeigte Maike auf.
Jakob schüttelte energisch den Kopf. «Nein, das sind alles meine.» Unverdrossen griff er nach weiteren Dominosteinen. Maike mochte sich die Zusammensetzung des für ältere Menschen vermutlich tödlichen Viren- und Bakteriengemischs im Zuckerguss zwischen den Lomomiventeilen nicht vor Augen halten. Bevor sie nachher zu ihrem Vater ins Alte Land aufbrachen, würde sie die Zuckerbomben vielleicht aus Versehen zu Hause vergessen. Es war heiß in der Kita-Küche, den Sauerstoff hatte wohl die Puderzuckerwolke verschluckt. Maike sah auf die Uhr. Halb vier. In einer Stunde konnte man gehen, ohne negativ aufzufallen.
Als sich fünfundvierzig Minuten später alle im Gruppenraum versammelten, war sie insgesamt sechsmal zur Seite genommen und teilnahmsvoll nach ihrem Befinden und dem Stand ihrer Trennung gefragt worden. Man hatte sie eingeladen, über die Feiertage vorbeizukommen, falls ihr die Decke auf den Kopf fiele. Birgit, die Mutter von Ole, hatte ihr gerade ein Marzipanglücksschwein geschenkt, als Jakob und Tove brummend mit ihren fliegenden Dominostein-Lomomiven vorbeidüsten und so einen Crash gegen den Türrahmen hinlegten, dass eine der schönen Lomomiven zerquetscht wurde. Als sich Maike hinkniete, um ihren schluchzenden Sohn zu trösten, ging Birgit neben ihr in die Hocke und raunte mitfühlend: «Es gibt Zeiten im Leben, da geht auch alles schief, hm?»
Es wurde wirklich Zeit wegzukommen. Jakob war vor lauter Erschöpfung ganz außer sich, in dem Fach über dem Elefanten türmten sich klebrige Zuckerwaren, und den schwarzen Pullover hatte Jakobs verheulte Zuckerschnute endgültig geliefert. Nun mussten sie nur noch das Singen überstehen.
Die Kinder wurden aufgefordert, sich um den Adventskranz auf dem niedrigen Tisch in der Raummitte zu versammeln, die Eltern in einem Kreis drum herum. Feierlich zündete Gina drei der Echtwachskerzen an. Umgehend brüllten mindestens vier der Kinder: «Darf ich auspusten?», und wurden auf nach dem Singen vertröstet. Mutig war das mit dem echten Feuer, fand Maike. Sie wusste, welch unwiderstehliche Anziehung eine solche Kerzenflamme auf ihren Sohn ausübte, und konnte sich vorstellen, dass es anderen Kindern ähnlich erging.
Gina hob die Gitarre vor ihr AC/DC-Shirt und stimmte mit den Kindern das unvermeidliche «In der Weihnachtsbäckerei» an. Was war nur aus den Liedern ihrer eigenen Kindheit geworden, «Es ist ein Ros' entsprungen», «Es kommt ein Schiff, geladen»? Egal. Es war entzückend, wie Jakob jeden Refrain inbrünstig mitsang, dabei Tove an der Hand und in der anderen seinen frisch gebastelten Papierstern hielt. Er sah so glücklich aus. So süß und unschuldig.
Nach dem zweiten Refrain schien die Inbrunst nachzulassen. Jakob ließ Toves Hand los und formte mit den Lippen ein O. Maike kniff die Augen zusammen. Pustete er? Ja, er pustete. Zentimeter um Zentimeter rückte er in Richtung Adventskranz vor. Streng sah Maike ihn an und schüttelte den Kopf. Sah er sie nicht, oder ignorierte er sie absichtlich? Vielleicht konnte Jakob sie nicht sehen.
Mit einem entschuldigenden Lächeln drängte sich Maike in die erste Reihe und zischte: «Jakob!» Ihr Sohn stand inzwischen direkt vor dem Kranz und pustete nun ganz ungeniert. Den Stern in seiner Linken schien er vergessen zu haben, denn er hielt ihn direkt über die Flamme der benachbarten Kerze.
Dann geschah alles gleichzeitig. Der Stern fing Feuer. Maike stürzte nach vorn. Der Gesang brach ab, Schreie erklangen. Millimeter vor ihrem verblüfften Sohn wurde Maike seitlich von einem heranrasenden Geschoss getroffen und von ihrer Bahn abgebracht. Aus den Augenwinkeln sah sie Uta, die sich von rechts auf die brennende Gefahrenquelle geworfen und sie dabei wie ein Quarterback aus dem Weg gerammt haben musste. Hätte Maike doch nur einen Baseball-Helm getragen statt...
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