Schweitzer Fachinformationen
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Es war Nacht auf hoher See. Schnaufend wälzte sich der gigantische Dampfer »Rhein« durch den Atlantik, mit knapp zwölf Knoten von Bremerhaven Richtung New York. Der massive schwarze Rumpf trotzte den tintenblauen Wellen, die sich im Glanz der Sterne schäumend an ihm brachen. Der Seegang in dieser Nacht war stärker als zuvor, das Tosen des Meeres umspülte das träge Schiff. Die Segel, frühere Meister des Windes, hingen nutzlos herab. Die eiserne Kraft der Moderne hatte sie überflügelt. Der rhythmische Takt der Dampfmaschine durchdrang die salzige Luft, schwarze Rauchschwaden stiegen aus den Schornsteinen auf und vermischten sich mit den Wolken am Horizont.
Unter den Passagieren des Zwischendecks herrschte eine seltsame Ruhe. Es waren größtenteils Auswanderer, die, eingepfercht in ihren Stockbetten, ihre Heimat hinter sich gelassen hatten und in den unbeleuchteten Schlafräumen von einem besseren Leben in der Neuen Welt träumten. Das monotone Stampfen der Schiffsmotoren, das Klatschen der Wellen - all das war nur wenige Tage nach Abfahrt des Ozeanriesen für sie zu einer fernen Melodie geworden. An den scharfen Gestank nach Erbrochenem, der vom unablässigen Schwanken des Schiffs herrührte, hatten sie sich längst gewöhnt. Selbst das Geräusch der leeren Spirituosenflaschen, die im Takt der Maschinen rhythmisch auf dem Boden rollten, nahmen sie kaum noch wahr. Der Alltag auf dem tosenden Meer hatte sie stumpf gemacht für die Unannehmlichkeiten, die das Leben für Passagiere der Holzklasse mit sich brachte. Hoffnungen und Sehnsüchte hatten von ihren Gedanken Besitz genommen, während sie dem Unbekannten entgegenstrebten.
Weit über ihnen hüllte die Nacht das verlassene Deck in einen kühlen Schleier aus weißer Gischt und milchigem Licht, das die Mondsichel auf das Schiff der norddeutschen Reederei Lloyd warf. Der scharfe Wind brachte die Taue zum Knarren, die Planken zum Vibrieren. Der Gestank vom Rauch aus den Schornsteinen und der ölige Geruch der Maschine aus dem Schiffsbauch lagen schwer in der Luft und vermischten sich mit dem algigen Dunst. Die einzige Laterne an der Bordwand des Decks warf einen flackernden Schatten auf eine wachsame Gestalt - es war der leicht torkelnde Nachtwächter Erwin aus der Kaiserstadt Wien, der sich, gehüllt in Regenmantel und Regenhut, bei seinem abendlichen Rundgang an der salzverkrusteten Reling festhielt und dem Rufen der im spärlichen Mondlicht jagenden Seevögel über dem Schiff lauschte, bevor er seine Runde fortsetzte, in der Hand eine Flasche Schnaps. Auf dem Weg Richtung Bug hielt er kurz inne. Die Umrisse einer Person schälten sich aus der Dunkelheit.
»Wer da?«, schrie Erwin gegen den salzigen Wind. Eine Böe trieb seinen Ruf jedoch jäh in die nächtlichen Gewalten des tosenden Wassers, er blieb ungehört.
Es war der europaweit gefeierte Musiker Johann Strauss junior, den seine Schlaflosigkeit an die frische Luft getrieben hatte, während seine Gedanken unablässig um seine bevorstehenden Konzerte in Boston und New York kreisten. Allein in Boston hatte er sich für das gigantische Weltfriedensjubiläum, das vom 17.?Juni bis zum 4.?Juli stattfinden sollte, zu nicht weniger als sechzehn Konzerten verpflichtet. Bei jedem Konzert würden laut Organisatoren mindestens zweitausend Musiker teilnehmen und seine Walzer begleiten. Diese Dimensionen waren selbst für Strauss, der in seiner Heimat durchaus an Superlative gewöhnt war, unvorstellbar. Nein, es waren weniger die Strapazen der bevorstehenden Veranstaltungen, die ihm in den letzten Tagen den Schlaf raubten. Vielmehr war es eine zähe Angst, die dem ohnehin hypernervösen Komponisten unruhige Nächte bereitete. Eine Angst, von der er bereits in seiner Heimatstadt Wien ergriffen worden war, als er sich nach langem Hin und Her zu der Reise durchgerungen hatte, und die ihn seit Beginn dieses ihm äußerst waghalsig erscheinenden Abenteuers in eine fremde Welt nahezu lähmte.
Strauss strich sein dichtes schwarzes, von einem Windstoß zerzaustes Haar aus der gewölbten Stirn. Nervös suchten seine dunklen Augen das leere Deck ab, während er gezielt auf eine windgeschützte Ecke in der Mitte des Dampfers zusteuerte. Hier fühlte er sich sicher, hier rauchte er gern eine Zigarre, um sich von der ihn ständig begleitenden Angst abzulenken. Furchtsam kontrollierte er das dunkle Wasser auf ein mögliches Hindernis. Was, wenn der Kapitän eingeschlafen ist und das Schiff unkontrolliert gegen einen aus den Fluten ragenden Felsen donnert? Was, wenn es mit einem entgegenkommenden Dampfer kollidiert? Oder gar mit einem Wal?
Er besann sich. »Was bin ich doch für ein Narr!«, rief er aus, während sich über seiner leicht gebogenen Nase eine Falte bildete. Verärgert über die sich unermüdlich im Kreis drehenden Gedanken versuchte er, sich mit einer energischen Handbewegung auf etwas anderes zu konzentrieren. Sein Erfolgsstück »Donauwalzer« schoss ihm in den Kopf, während er angestrengt die gewaltigen Wassermassen unter sich fixierte, um zur Ruhe zu kommen. Doch er blieb unruhig, fühlte sich beobachtet - nicht nur in diesem Moment. Diese Empfindung hatte ihn von Anbeginn der Reise begleitet. Jemand schien ihm auf Schritt und Tritt zu folgen. Jetzt, in der unberechenbaren Dunkelheit der Nacht, verstärkte sich dieses Gefühl noch. »Eine Schnapsidee, dass ich mich zu dieser verdammten Überfahrt überreden hab lassen«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Hilfesuchend blickte Strauss hinauf zum Krähennest, das sich hoch oben am vorderen Mast des Schiffs befand, darauf hoffend, einen diensthabenden Matrosen zu erspähen. Doch soweit er das von seinem Platz aus beurteilen konnte, war die Aussichtsplattform leer - um diese Uhrzeit kaum verwunderlich.
Der Musiker versuchte, seine Gedanken abzuschütteln, und holte sich die Erinnerungen an die letzten Vorbereitungen vor seiner Abreise zurück ins Gedächtnis, während er immer noch auf die Weite des Ozeans starrte. In Wien hatte er ein Testament aufgesetzt, in dem seine Frau Henriette, die er liebevoll »Jetty« nannte, als Universalerbin eingesetzt war. Jetty war in der erst kürzlich bezogenen Villa in Hietzing zurückgeblieben, um sich um seine Finanzen zu kümmern. Für den Fall, dass nicht nur ihm, sondern auch ihr während seiner Abwesenheit etwas zustoßen sollte, hatte er die Gründung einer Stiftung für verarmte Künstler angeordnet. Außerdem musste er wegen seiner Amerikareise seinen langjährigen Künstlervertrag mit der russischen Stadt Pawlowsk brechen und einen möglichen Schadenersatzprozess in Kauf nehmen. Die hohe Summe, die ihm mit der Amerikareise winkte, würde seine sommerlichen Einkünfte in Pawlowsk jedoch bei Weitem übertreffen. Das war mit ein Grund, warum er sich für dieses Abenteuer hatte breitschlagen lassen.
Nachdenklich strich sich der Maestro über den kräftigen Schnurrbart und die stattlichen Koteletten, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er sich konzentrierte. Dabei kam ihm in den Sinn, wie viel Arbeit ihn nach seiner Rückkunft nach Wien erwarten würde. Im Jahr darauf sollte nicht nur die Wiener Weltausstellung stattfinden, bei der er mit einem eigens dafür zusammengestellten Orchester, der »Wiener Ausstellungskapelle«, in einer gigantischen Halle aufzutreten plante. Auch das fünfzigjährige Jubiläum des musikalischen »Familienimperiums Strauss« stand mit einem Wohltätigkeitskonzert im Musikverein bevor. Mit Grauen dachte er an dieses Ereignis. Waren doch seine geliebte Mutter Anna und sein Bruder Pepi zwei Jahre zuvor verstorben. Zuletzt war die Beziehung zu Pepi und seinem anderen Bruder Edi von Streitereien und Intrigen geprägt gewesen. Trotz der ständigen Querelen hatte er Edi die Strauss-Kapelle überlassen, um für sein neues Projekt, die Operette »Indigo und die 40?Räuber«, den Rücken frei zu haben - die richtige Entscheidung, wie der Erfolg des Stücks später zeigen sollte. Zudem wollte er nach seiner Rückkehr mit der Operette »Der Karneval in Rom« beginnen. Jetty plante die Uraufführung für den kommenden Frühling. Und mit der »Fledermaus« ging ihm bereits die Musik für eine weitere Operette durch den Kopf.
Strauss' Gedanken wurden jäh unterbrochen, als er unmittelbar hinter sich Geräusche wahrzunehmen glaubte. Erst einen dumpfen Ton, dann klang es, als würde ein klirrender Säbel auf Stein stoßen. Oder war es doch eher ein Quietschen? Abrupt drehte er sich um und spähte ums Eck. Seine Augen suchten fieberhaft nach der Quelle der Laute, die ihn so plötzlich aus seinen Überlegungen gerissen hatten. Doch er konnte nichts Konkretes entdecken. Da, für einen flüchtigen Moment meinte er trotz der Dunkelheit und der Gischt einen Schatten zu erkennen, der kaum zehn Meter von ihm entfernt zu Boden sank, und dann noch einen.
Der Maestro schüttelte den Kopf. »Mein Schlafmangel bringt mich noch um den Verstand«, grummelte er und griff umständlich in seine Manteltasche, um sein Zigarrenetui hervorzukramen. Beim Versuch, die Zigarre anzuzünden, scheiterte er jedoch - der Wind hatte an Kraft zugelegt. Keine Chance, das Streichholz am Brennen zu halten. Mit einem genervten Seufzer knöpfte er die obersten Messingknöpfe seines dunkelblauen Mantels zu, steckte die Rauchutensilien wieder in seine Tasche und tastete sich vorsichtig über die gischtnassen Planken zum Stiegenabgang, um zu seiner Kajüte zurückzukehren.
Doch was war es tatsächlich, das die Aufmerksamkeit des Musikers erregt hatte? War es nur Einbildung gewesen, wie er vermutete? In Wirklichkeit hatte es sich um einen schrillen Schrei gehandelt, der jedoch beinahe zur Gänze vom tosenden Lärm des Windes und der Wellen weggetragen wurde. Den Schrei eines jungen Mannes mit rötlichem Haarschopf. Der Mann war zu Boden...
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