Schweitzer Fachinformationen
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Der Neue lehnte an dem gemauerten Pfosten neben dem Eingang und hielt sein Gewehr in beiden Händen. Der Lauf zeigte anweisungsgemäß schräg nach unten. So war im Notfall eine schnelle Reaktion möglich, während andererseits nichts Gravierendes passieren sollte, falls sich versehentlich ein Schuss löste. Auf einem Schild neben dem Kopf des Neuen war die Aufschrift The Living Rainbow Children Centre zu lesen. Die Buchstaben waren in eine Platte aus gebürstetem Stahl eingraviert, die eher einer Anwaltskanzlei als Miki Selmas Waisenhaus angestanden hätte. Doch die Platte war ein Geschenk gewesen. Zwei Mitglieder des deutschen Vereins, der das Waisenhaus hauptsächlich finanzierte, hatten sie bei einem Besuch im letzten Monat mitgebracht. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, hatte Miki Selma gesagt und das Schild mit sechzehn statt der nötigen vier Dübel befestigen lassen, um am Materialwert interessierte Diebe von vornherein zu entmutigen.
Quer über die Straße hinkte ein kleiner Hund. Eine heruntergekommene weiß-braune Promenadenmischung, die sich offensichtlich den rechten Hinterlauf verletzt hatte. Mit eingezogenem Schwanz, als wüsste er schon, dass er nur Prügel zu erwarten hatte, näherte sich der Hund dem Neuen und blickte ihn von unten herauf an.
«Kscht!», sagte der Neue. Der Hund duckte sich ein wenig.
«Hau ab!», rief der Neue, aber erst als er das Gewehr anhob, um zuzuschlagen, sprang der Hund mit einem Satz zurück, knickte über dem verletzten Bein ein und trottete langsam am Zaun entlang Richtung Mshasho Bar.
Der Neue rückte ein wenig nach links, dem schmalen Schatten des Pfostens nach. Für Ende September brannte die Sonne viel zu heiß auf die flachen Dächer Katuturas herab. Obwohl der Sommer noch bevorstand, stöhnten die Bewohner der Townships schon unter den Temperaturen. Wer konnte, suchte sich einen schattigen Fleck, bewegte sich so wenig wie möglich und hoffte auf einen Lufthauch, der einen Anflug von Kühlung vortäuschen würde. In den aufgeheizten Häusern war es noch weniger auszuhalten als draußen, und so hätte es einen Fremden wohl verwundert, dass hinter dem Stacheldrahtzaun, der den staubigen Hof des Waisenhauses schützte, kein einziges Kind spielte. Doch Miki Selma hielt ihre tägliche Singstunde sommers wie winters im Gemeinschaftsraum ab.
Da weiß wenigstens jedes Kind genau, wo es stehen muss, pflegte sie zu sagen. Durcheinander gebe es schon genug im Leben, wenigstens beim Singen sollte Ordnung herrschen. Sonst würden die Kinder ja keine Lieder lernen, und das wäre nicht nur pädagogisch bedauerlich, sondern hätte auch erhebliche ökonomische Konsequenzen. Miki Selma war nämlich überzeugt, dass potenzielle Spender, die das Living Rainbow Centre besichtigten, nur durch frische Kinderstimmen dazu bewegt werden konnten, die Geldbörsen zu zücken.
Je nach Besuchergruppe hatte Miki Selma deshalb ein religiöses Programm, eines mit englischsprachigen Kinderliedern, eines mit traditionellen Volksweisen in Oshivambo und für die europäischen Gäste, die die Klick- und Schnalzlaute so lustig fanden, auch eines auf Nama-Damara parat. Seit Mara Engels, die Frau des deutschen Botschafters, als Freiwillige im Waisenhaus mithalf, hatte Miki Selma darüber hinaus begonnen, einige SWAPO-Lieder aus dem Befreiungskampf einzuüben. Es war nicht auszuschließen, dass über die Botschaftergattin mal ein Regierungsvertreter hier antanzte, und dann musste man vorbereitet sein, um eventuell staatliche Finanzierungsquellen anzapfen zu können.
Von der Mshasho Bar her näherte sich ein Taxi mit der groß aufgemalten Nummer P212. Es war ein weißer Ford Fiesta, in dem drei junge Männer saßen. Der Beifahrer hatte Rastalocken und ließ einen Arm aus dem offenen Fenster baumeln. Reggae-Musik schallte blechern aus dem Wageninneren. Im Schritttempo rollte das Taxi am Tor des Waisenhauses vorbei, beschleunigte und bog an der Kreuzung Richtung Norden ab. Der Neue nahm eine Hand von der Waffe, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Unter den Achseln zeichneten sich Flecken ab. Vielleicht wäre ein dunkleres Blau für die Uniformhemden doch geeigneter gewesen!
Nun drehte der Neue den Kopf in Richtung des Backsteingebäudes, durch dessen offene Tür die Melodie eines SWAPO-Kampflieds herauswehte. Mambulu djeimo mo Namibia - Buren, geht raus aus Namibia. Wenn man von Miki Selmas volltönender Altstimme absah, klang das Ganze etwas dünn, und so würde sich die Chorprobe wahrscheinlich noch eine Weile hinziehen. Der Neue blickte nach unten und strich mit dem Zeigefinger über den Lauf des Gewehrs. Es sah aus, als würde ihm die Zeit lang. Sie glaubten alle, es sei wichtig, hart zu sein, entschlossen, mutig, kampfkräftig, aber darauf kam es beim Personenschutz nicht an. Zumindest nicht so sehr. Ein guter Leibwächter musste vor allem warten können, ohne die Geduld zu verlieren. Ungeduld, das war die erste Todsünde.
Von rechts kam ein Eisverkäufer mit tief ins Gesicht gezogener Schirmmütze angeradelt. Er trat schwer in die Pedale des dreirädrigen Gefährts, beugte den Oberkörper bei jedem Tritt so tief, dass er kaum über den großen Kühlbehälter vor dem Lenker hinwegsehen konnte. Aus der Tür des Waisenhauses war Miki Selmas Stimme zu hören. Sie forderte die Kinder auf mitzuklatschen, und zwar genau in ihrem Rhythmus. Dann brüllte sie, dass man das schöne Lied ja gar nicht mehr durch das Klatschen höre, weshalb jetzt alle mal ganz laut singen sollten. Der Eisverkäufer stoppte mitten in der Straße. Er stieg aus dem Sattel, setzte beide Füße auf dem Asphalt auf und rief dem Neuen zu: «Eis für die Kinder?»
«Schau, dass du weiterkommst!», sagte der Neue. Von links schlurfte ein Typ mit Rastalocken und einem weiten T-Shirt mit grün-gelb-roten Streifen heran.
«Hast du 'ne Kippe für mich, Bruder?», fragte der Eisverkäufer den Neuen. Der schüttelte nur den Kopf und blickte in Richtung des Rastafaris.
Irgendwo im Waisenhaus brüllte Miki Selma, dass Gott die Kinder als Fische erschaffen hätte, wenn er gewollt hätte, dass sie stumm blieben. «Also jetzt noch einmal von vorn! Alle zusammen!»
«Verdammte Hitze», sagte der Eisverkäufer, «und trotzdem kauft keiner .»
«Seh ich so aus, als ob ich mich unterhalten wollte?», fragte der Neue. Der Rastafari war vielleicht noch fünf Meter von ihm entfernt. An der Kreuzung fünfzig Meter hinter ihm tauchte ein Taxi auf und bog Richtung Waisenhaus ein. Es gab Tausende von Taxis in Windhoek, und eine ganze Menge davon waren weiße Ford Fiestas, doch wenn man darauf geachtet hatte, verriet einem die Nummer, dass es dasselbe war, das eben in der Gegenrichtung vorbeigekommen war. Mit dem Unterschied, dass nun nicht drei, sondern zwei junge Männer drin saßen und dass sie die Reggae-Musik ausgeschaltet hatten. Dafür hupte der Taxifahrer laut und anhaltend.
Umständlich machte sich der Eisverkäufer daran, sein Dreirad von der Straßenmitte wegzuschieben. Genau auf den Neuen zu, der immer noch am Torpfosten lehnte und sein Gewehr gesenkt hielt, als sei die Welt völlig in Ordnung. Der Rastafari schlurfte langsam an ihm vorbei. Das Taxi bremste hart, beide Autotüren sprangen auf, beim Aussteigen rief der Beifahrer: «Geht es noch ein bisschen langsamer?»
«Ist ja gut», murrte der Eisverkäufer.
Das schien das Zeichen gewesen zu sein, denn der Rastafari drehte sich blitzschnell um. Seine Hände waren nun waagerecht ausgestreckt, und die Pistole zwischen ihnen zeigte aus einem halben Meter Abstand auf den Kopf des Neuen. Der Rastafari brüllte: «Keine Bewegung, Arschloch!»
Der Taxifahrer hatte ebenfalls eine Pistole gezogen und kam von schräg links auf das Tor des Waisenhauses zu. Sein Beifahrer sprintete um das Heck seines Wagens. In seiner Hand blitzte ein Messer.
«Lass das Gewehr fallen, Bruder!» Der Eisverkäufer grinste.
Sie waren zu viert, sie waren bewaffnet, sie hatten den Neuen so umringt, dass er nicht die geringste Chance hatte. Weil er nicht aufmerksam genug gewesen war. Dass ein Eisverkäufer ein Gespräch suchte und dass ein Taxi umkehrte, nachdem es einen Fahrgast ausgeladen hatte, mochte ja noch angehen. Aber wieso schlenderte der angebliche Fahrgast bei dieser Affenhitze die Strecke, die er gefahren worden war, zurück? Und warum kam er just im gleichen Moment wie das Taxi hier an? Konnte es wirklich ein Zufall sein, dass genau dann ein Eisverkäufer die Straße blockierte und dem Taxifahrer einen Vorwand bot auszusteigen? Und war das Taxi nicht vorher schon auffällig langsam gefahren, als ob die Insassen sich Örtlichkeiten und Situation genau einprägen wollten?
In der Summe musste all das einen guten Wachmann stutzig werden lassen, doch der Neue war von dem Überfall völlig überrascht worden. Nicht weil er eins und eins nicht zusammenzählen konnte, sondern weil er die eine oder andere Eins gar nicht wahrgenommen hatte. Unaufmerksamkeit, das war die zweite Todsünde.
Clemencia Garises schob den Fliegenvorhang beiseite, durch den sie die Szene beobachtet hatte. Sie trat in das gleißende Sonnenlicht hinaus, wollte gerade das Gartentürchen aufstoßen, um zum Waisenhaus hinüberzugehen, als sich der Neue drüben bückte und das Gewehr niederlegte. Er kauerte einen Moment länger als nötig am Boden, nur einen Moment, der aber Clemencia ahnen ließ, was geschehen würde. Doch bevor sie reagieren konnte, schnellte der Neue hoch, nahm im Sprung den rechten Ellenbogen nach vorn und stieß ihn mit aller Gewalt in die Eingeweide des Rastafaris. Mit einem tiefen und überraschend lauten Ton schoss die Luft aus dessen Lunge. Der...
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