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Sie wurde geliebt und gehasst, als Femme Fetale bewundert und sexistisch beleidigt - die Künstlerin Niki de Saint Phalle (1930-2002) war eine einzige Herausforderung für ihre Zeit. Berühmt wurde sie für ihre knallbunten Nanas, die Gartenfiguren und Brunnen, ihre selbstbewussten Auftritte und ihre »Schießbilder« - aber dahinter steckt das Schicksal einer sensiblen und oft verletzten Frau.
In der Romanbiografie begibt sich Gabriela Jaskulla auf die Spur der großen Künstlerin und erzählt, wie aus der »adeligen Lady«, dem Missbrauchsopfer und der Femme Fatale die größte Plastikerin des 20. Jahrhunderts wurde - eine Künstlerin, die von einer »Stadt der Frauen« träumte und von einer gerechteren Welt.
Sie altert nicht gut. Das konnte man schon aus der Entfernung erkennen. Und nun aus der Nähe? Ganz so schlimm hatte sie sich den Zustand nicht vorgestellt. Martha Grünhold seufzte - eine unangemessene Äußerung, zu emotional. Schließlich war das hier ein Job, nicht mehr. Ein großer Job, zugegeben, aber dass er so herausfordernd werden würde? Sie sah wieder hin. Ziemlich mitgenommen, die Frau. Vorsichtig strich Martha mit der rechten Hand über die Flanke, über die Seite, dort entlang, wo bei einer schlankeren Statur Rippen zu erkennen gewesen wären. Hier gab es keine Rippen, hier gab es kein Schlüsselbein, ebenso wenig, wie sich auf dem Rücken die Wirbelsäule abgezeichnet hätte. Keine Knochen, nirgends; alles war rund und üppig und geschwungen - und so bunt, dass man schier die Augen abwenden wollte.
Nicht ihr Ding. Aber egal. Jede Figur verdiente Respekt. Auch eine solche Explosion von Weiblichkeit.
Schon wieder unangemessen. Wen interessierte ihr Urteil? Nicht einmal sie selbst. Urteile sind Abschlüsse. Ein Restaurator lebt aber vom Prozess. Grünhold, bleib sachlich, sonst siehst du nichts. Die alte Mahnung ihres Meisters. Schön langsam, schön objektiv bleiben, um der Sache nahezukommen. Einer der vielen Widersprüche im Restauratorenberuf. Fünf Jahre lang hatte sie das gehört; so lange hatte die Ausbildung gedauert. Dabei hatte sie bereits eine Ausbildung und einen Beruf. Aber die Restauratoren stellten alles auf den Prüfstand, hinterfragten jeden Kenntnisstand, checkten das Wissen. Fünf Jahre Konservierung und Technologie in Dresden und beinharte Prüfungen. Zweihundert hatten sich auf den Studienplatz beworben, fünf wurden genommen. Nichts war je genau genug. Ein Beruf für Perfektionisten und für passionierte Zweifler. Gleichzeitig musste man hinlangen können.
Sie versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen über die Plastik, die da vor ihr lag, nein, die in acht Metern Höhe vor ihr schwebte: aufgehängt an Stahlseilen, mitten im Zürcher Hauptbahnhof, ein weißgrundiges Wesen mit Stummelflügeln, viel zu kurz für die Riesenfigur, wie eine Riesenhummel, ein Himmelsbrummer. Warum reizte sie die Figur zu Kalauern?
Elf Meter totale Frauenpracht, so hätte man das Desaster freundlicher beschreiben können, wenn, ja wenn man die Figur hier mögen würde, vielleicht sogar eine Beziehung zu ihr aufbauen wollte. Martha Grünhold wollte nicht. Ihr war der Wirbel um diese Stadt- oder Staatskünstlerin, diese Niki de Saint Phalle, vollkommen gleichgültig. Niki de Saint Phalle - unwillkürlich näselte sie den Namen mit einem künstlich übertriebenen Akzent vor sich hin. Eigentlich: Cathérine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle, geboren 1930 im französischen Neuilly-sur-Seine, gestorben 2002 in San Diego, Kalifornien. Der Name halb obszön, halb monumental - wie es sich vermutlich für alten, französischen Adel gehörte. Was scherte sie das? Was verstand sie davon? Martha Grünholds Vater war Dreher gewesen - Zentralwerkstatt Zeche Nikolaus, so fügte er immer hinzu; die Mutter half in einem Betrieb nebenan bei der Buchführung. Adel kam nur in Zeitschriften vor, die die Mutter beim Friseur angestrengt nicht las - wenn sie denn mal zum Friseur ging. Zur Sache, Grünhold! Martha Grünhold, obwohl erst fünfunddreißig, redete gelegentlich mit sich selbst, halblaut immer und immer ironisch, und immer nannte sie sich beim Nachnamen. Das Gerede brachte vermutlich ihr Beruf mit sich. Ziemlich einsam war der, und man konnte nicht immerzu Musik hören, die Musik erinnerte einen ja erst recht daran, dass da keiner war. Viel Musik dennoch, laut am liebsten, Rap, Metal oder Punk Jazz. Jaco Pastorius.
Martha Grünhold war eine einigermaßen erfolgreiche Restauratorin, trotz ihres Quereinstiegs in den Beruf, der sie ein wenig zur Außenseiterin machte, trotz der Probleme mit den Fingern. Dieses Plastik-Teil hier würde es nicht besser machen, denn sie würde wahrscheinlich mit Feuchtigkeit arbeiten müssen, wie sonst sollten die Farben gereinigt werden? Wer kam überhaupt auf die Idee, solch eine Figur ausgerechnet in einer zugigen Bahnhofshalle aufzuhängen? Martha Grünhold schnupperte: Der Geruch von Dönern und Bratwürsten machte ihr keinesfalls Appetit, er beunruhigte sie vielmehr. Wo Würste waren, stieg fettiger Dunst auf - Gift für Plastiken aller Art. Martha Grünhold bewegte die kräftigen, ein wenig krummen Finger an den Nähten entlang, die Teile der Riesenfigur beieinanderhielten. Das hier waren die kritischsten Stellen!
Sie konzentrierte sich. Schaute sich die Nähte genauer an, die Übergänge der Farben. Sie sah an die Decke der Halle, folgte den vier stählernen Aufhängungen nach oben und dann wieder nach unten, wo sie in Kardangelenken an der Figur endeten, und runzelte die Stirn. Das war nicht gut, das war gar nicht gut!
Der L'ange protecteur von Niki de Saint Phalle, der Schutzengel der Reisenden, hing an vier Befestigungen, vier Kardangelenken, und da, wo sich die T-Eisen mit dem Plastik der Figur verbanden, gab es ziemlich viele Schadstellen. Noch schlimmer waren die schmalen Wasserläufe, die sich über das Becken, die Oberschenkel, die Kniekehlen der Figur zogen. Kondenswasser! Der Engel hielt zwei Krüge in den Händen, aus denen sich scheinbar Flüssigkeit ergoss, vom einen Krug in den anderen. Die Flüssigkeit wurde hier durch eine Neonröhre simuliert - das elektrische Licht war aus Sicherheitsgründen aber schon lange abgeschaltet worden; hier glitzerte kein elektrifizierter Rotwein mehr.
Martha Grünhold hätte im Schlaf aufsagen können, woraus dieser Engel ansonsten und hauptsächlich bestand: aus Draht und Styropor und einem Überzug aus Lacken. In einem ersten Schritt war die Figur aus Drahtgitter geformt worden. Eine garstige Arbeit, bei der man sich leicht die Hände zerschnitt, mühselig, langsam. Das Ganze war dann in Styropor gebaut und mit Farbe überzogen worden. Zunächst weiß grundiert und dann mit farbenfrohen Schnörkeln und Kreisen, abstrakten Flächen und Ornamenten verziert, allerlei Symbole waren dabei. Die Farben selbst jedoch waren eine Katastrophe! Was hatte sich Saint Phalle dabei gedacht?! Das Grün und Rot mochten noch angehen, aber dieses Königsblau, das von Ferne an Matisse erinnerte, vielleicht an Yves Klein, dieses sanfte, eher stumpfe Blau war eindeutig für Innenräume gedacht und nicht für dieses Drinnendraußen einer Bahnhofshalle. Acrylfarben statt haltbarem Polyesterüberzug. Die Künstlerin wusste doch, wo die Figur platziert werden sollte, es war schließlich eine Auftragsarbeit gewesen. Hatte sie das nicht interessiert? Oder war Saint Phalle zu unbedarft gewesen, war es ihr womöglich egal gewesen, so nach dem Motto: Der Prozess ist alles? Na, vielen Dank auch! Und sie hatte nun den Salat. Martha Grünhold schnaubte. »Niki, die größte Künstlerin des 20. Jahrhunderts«? - Das hatte Jean Tinguely geschrieben, ihr Lebensgefährte, ein, wenn man den Fotos glaubte, recht selbstbewusster, offenbar leicht wahnsinniger Kerl, der Riesenfiguren zusammengeschweißt hatte, die sich drehten und in den Himmel schraubten. So einer stand eigentlich immer in Reihe eins und trat dann noch einen Schritt vor - trotzdem hatte er Niki de Saint Phalle in den Vordergrund gerückt, auf den Fotos jedenfalls, die im Netz herumvagabundierten und die Martha Grünhold studierte wie andere die Instagram-Accounts von Prominenten.
Bei ihren ruhelosen Streifzügen durchs Netz war Martha auf einen Film gestoßen. Study for an End of the World No. 2. Das Ganze spielte in Las Vegas oder in der Wüste bei Las Vegas. Ein amerikanischer Fernsehsender hatte Tinguely auf die Idee gebracht, an einem Ort eine Aktion zu machen, an dem vierzig Jahre zuvor Atombombentests durchgeführt worden waren. Na bitte! Große Geschichte und großer Knall, das war etwas für Tinguely, so viel hatte Martha schon begriffen. Eine dramatische große Bumm-Skulptur sollte entstehen, so nannte Tinguely das selbst, und tatsächlich: Einen Sinn für Drama hatte Tinguely, hatten die beiden, denn schnell war klar, dass Tinguely mit Saint Phalle arbeiten wollte. Die...
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