Schweitzer Fachinformationen
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Es dämmert noch, aber ich bin längst hellwach. Genau wie Romulus, der neben mir sitzt und gedankenversunken aus dem Fenster des Helikopters nach unten blickt.
Die Sichtverhältnisse könnten kaum besser sein, das Wetter ist sommerlich und man könnte es fast als herrlich bezeichnen - wenn nicht alle auf Regen hoffen würden. Von oben erkennt man erschreckend deutlich, dass der Fluss nur noch ein klägliches Rinnsal ist. Selbst wenn er nicht vergiftet wäre, könnte er die Felder kaum noch bewässern. Durch das Absinken des Wasserspiegels finden auch immer weniger Frachtschiffe ihren Weg nach Last Haven. Sie drohen auf Grund zu laufen.
Die Mauer taucht vor uns auf und mit ihr der ausgebrannte Turm 135 West.
Die Grenze zum ehemaligen God's Acres wird zwar nicht mehr durch Selbstschussanlagen und Drohnen geschützt, trotzdem erfüllt das Bauwerk weiterhin einen Zweck und wird daher noch nicht eingerissen. Jetzt sorgt die Mauer dafür, dass niemand ohne Registrierung rüberkommt und sich irgendwo niederlässt.
Die Milizen sind nach den Säuberungen in ihre alte Heimat zurückgekehrt, bis Last Haven bereit ist, die neuen Bürger aufzunehmen. So hatte es Chester mit King Joy abgesprochen. Der Zusammenschluss unserer beiden Länder ist erst wenige Tage alt und bis jetzt eher formaler Natur. Obwohl aus God's Acres inzwischen »Zone E« und damit ein Teil Last Havens geworden ist, leben beide Bevölkerungsgruppen nach wie vor räumlich voneinander getrennt.
Jemand aus dem großen Camp meldet sich per Funk und unser Pilot erhält Landeinstruktionen. Er ist einer der wenigen, die noch einen Hubschrauber fliegen können, nachdem die Wächter vertrieben wurden. Auch etliches an militärischer Ausrüstung ist während der Kämpfe zerstört worden.
Wir steuern das Lager vor der Stadt an, die in unmittelbarer Nähe vor der alten Grenze liegt. Es ist der Ort, an dem Chester Fields und King Joy die Milizen versammelt und darauf gewartet haben, dass wir das Tor nach Last Haven öffnen. Die Gebäude - Hochhäuser, Lagerhallen, Wohnblöcke, mit Wellblech bedeckte Hütten, die sich am Horizont abzeichnen - sehen so aus, als würden sie jeden Moment einstürzen. Ruinen über Ruinen, die wahrscheinlich trotzdem bewohnt waren, weil ein löchriges Dach über dem Kopf immer noch besser war als gar keins.
Ich taste nach Romulus' Hand. Mein angeknackster Arm mit dem abheilenden Schnitt steckt in einer Schiene. Mit dem starken Schmerzmittel, das ich mir spritze, fühle ich nicht allzu viel. Romulus wendet seinen Blick vom Geschehen unter uns ab und schaut stattdessen zu mir.
»Bist du nervös?«, fragt er über das Dröhnen der Rotoren hinweg und ich nicke. Und wie ich das bin! Jetzt werde ich mit eigenen Augen sehen, was ich bisher nur aus den Nachrichten kenne: God's Acres. Nein, Zone E. Wir sind jetzt ein Land, oder zumindest werden wir es bald sein.
Das Lager erstreckt sich so weit, dass ich Gänsehaut bei dem Anblick bekomme. Hunderte grauer Zelte, akkurat in Reih und Glied aufgebaut, zwischen denen kleine schwarze Punkte umherhuschen und wieder verschwinden. Wie Ameisen auf der Flucht vor Regen. Nur dass es keine Insekten, sondern Menschen sind, die sich nichts sehnlicher als Regen wünschen.
Romulus drückt sachte meine Hand. Es soll wohl ein Versuch sein, etwas von seiner Ruhe auf mich zu übertragen, aber es klappt nur bedingt. So viele Menschen! Hat Chester nicht gesagt, dass die Bevölkerungszahl von God's Acres eher gering ist, weil viele während der letzten Jahre Hunger, Durst oder Kriegen zum Opfer gefallen sind? Meine innere Stimme ruft zur Vernunft auf. Es sieht nur deshalb nach so vielen aus, weil alle auf einem Haufen versammelt sind. Keine Panik!
Den Landeplatz kann man nicht verfehlen, denn er ist einer der wenigen freien Plätze unter uns. Heil und sicher kommen wir auf dem Boden auf.
Mit einem mulmigen Gefühl verschränke ich die Hände im Schoß. Romulus und ich wechseln einen Blick.
»Unser Neustart«, sage ich mit belegter Stimme, sobald der Lärm der Rotoren verstummt ist. Romulus nickt ernst und ich weiß, dass er gerade dasselbe denkt wie ich: Hoffentlich war es das wert!
Schon wird von außen die Tür aufgerissen und ein griesgrämig dreinblickender Mann, der Handschuhe, Mundschutz und einen Einwegkittel über seiner Zivilkleidung trägt, steckt den Kopf herein und ruft: »Dr. Henderson?«
Romulus lächelt und steigt aus dem Hubschrauber, ich folge ihm.
Der Pilot macht sich umgehend wieder auf den Weg. Er kann nicht auf uns warten, dafür ist das Personal mit seinen Fähigkeiten derzeit zu knapp.
Der mürrische Mann, der uns begrüßt hat, stellt sich uns als Burgess vor und stutzt, als er mich sieht. »Mit Ihnen habe ich aber nicht gerechnet, Miss Green.«
Es war auch ursprünglich nicht angedacht, dass ich Romulus begleite, aber Chester hat diesen Vorschlag gemacht und ich habe ihn gerne angenommen. Bin ich doch für das Chaos, das hier herrscht, mitverantwortlich. Ich hoffe, dass ich die Beklemmung, die ich beim Anblick der Menschenmassen auf ihrem Weg über die Mauer verspürt habe, loswerde, wenn ich mich davon überzeuge, dass der Zusammenschluss in geregelten Bahnen verläuft und die Situation unter Kontrolle ist.
Ich murmele nur einen höflichen Gruß, halte mich im Hintergrund und schaue mich um. Vor einem großen Zelt in unserer Nähe steht eine Reihe verhärmt aussehender Menschen, alle bereits mit Mundschutz. Die Schlange ist so lang, dass das Ende außerhalb unserer Sichtweite liegt. Wahrscheinlich lassen sie sich registrieren und Termine für die Gesundheitsprüfung geben.
Burgess reicht uns ebenfalls Einwegkittel, Handschuhe und Mundschutz, die ich mit einem unangenehmen Gefühl entgegennehme, weil sie mir vor Augen führen, dass wir uns hier in ständiger Gefahr befinden, uns mit irgendwas anzustecken. Nur eine Vorsichtsmaßnahme, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Aber die latente Furcht lässt sich nur schwer abschütteln. Wer weiß schon, welche Krankheitserreger durch das Lager schwirren? Es gibt Epidemien, gegen die auch das MediOffice nichts ausrichten kann.
»Am besten kommen Sie gleich mit, Dr. Henderson. Die Leute vom Seuchenscreening erwarten Sie bereits«, sagt Burgess wie aufs Stichwort.
Ich mustere ihn unauffällig, während ich genau wie Romulus meine Schutzkleidung anlege. Stammt er aus Last Haven? Bestimmt tut er das, er sieht so normal aus. Sein Blick fällt auf mich und er zieht fragend die Augenbrauen hoch. Rasch schaue ich woandershin.
Ich darf Romulus nicht begleiten, das hat er bereits angekündigt. Nicht, dass ich das überhaupt wollen würde. Aber Rumstehen und Warten ist auch nichts.
»Kann ich irgendwo helfen?«, frage ich Burgess. »Es gibt sicher mehr als genug zu tun.«
»Bei den Familien wird jede Unterstützung gebraucht.« Burgess deutet hinter sich. »Ist ein ganzes Stück, kann man aber laufen.« Ein kurzer Ruck mit dem Kopf. »Ab Zelt 46. Melde dich bei Laura.«
Familien. Zu meiner bisherigen Nervosität gesellen sich leichte Bauchkrämpfe. Bedeutet das auch kleine Kinder, womöglich Babys? Ich denke an die Reproduktionslabore, die Melody und ich in Brand gesteckt haben - die winzigen Lebewesen in den Glaszylindern, verbrannt, bevor sie leben durften. Wir waren uns alle einig bei diesem Plan, aber wohl hat sich trotzdem keiner damit gefühlt. Ich schwitze immer mehr. Trotzdem zwinge ich mich zu einem knappen Nicken, weil ich ja schlecht »Nein, Danke« sagen kann, nachdem ich gerade meine Hilfe angeboten habe.
Wenn ich mich weigere, muss ich mein Verhalten erklären, und das kann ich nicht. Also füge ich mich in mein Schicksal.
»Klar«, sage ich mit einem gekünstelten Lächeln. Nichts lieber als das.
»Wir sehen uns später!«, raunt Romulus mir zu. Mit einem Anflug von Sorge schaut er in die Richtung, die mir gerade gewiesen wurde. Dann wieder zu mir. Als hätte er die Befürchtung, mich im Gewimmel zu verlieren.
»Ich komme zurecht«, versichere ich ihm leise. Ganz allein. Umgeben von lauter fremden Menschen. Meine Magenschmerzen werden stärker und mein falsches Lächeln wird mir einen Muskelkater einbringen, wenn ich es nicht bald abstelle.
»Dr. Henderson?« Burgess wirkt genervt. Er hat es offensichtlich eiliger als ich. Genau wie Romulus, der hier so viel zu erledigen hat, dass er gar nicht sicher war, ob er heute alles schaffen würde. Vor dem Abend geht es nicht zurück.
»Bis dann!«, sage ich und warte, bis die beiden aus meinem Sichtfeld verschwunden sind.
Tja, hier stehe ich. Allein. Nein, nicht wirklich, denn um mich herum befinden sich Tausende von Menschen aus dem ehemaligen God's Acres und zusätzlich ein paar Leute aus Last Haven, die versuchen, Ordnung in das ungeheure Chaos zu bringen. Niemand kümmert sich um mich, also setze ich mich in Bewegung und marschiere los, um selbst wenigstens einen bescheidenen Teil beizutragen.
Ich laufe an Zelten entlang, entschuldige mich, wenn ich wieder eine der langen Schlangen kreuze, statt außenrum zu gehen. Schiebe mich an einer Gruppe fremder Männer vorbei, die lebhaft diskutieren und meinen Weg versperren. Ich werfe unauffällig einen Blick auf sie und merke sofort, dass es sich um Menschen aus God's Acres handelt. Man erkennt es an den ausgemergelten Körpern, der schmutzigen Kleidung und den ungepflegten Haaren. Die Männer unterbrechen ihr Gespräch und ich spüre, dass sie mir argwöhnisch hinterherstarren. Automatisch beschleunige ich meinen Schritt.
Ich orientiere mich an den Nummern auf den Zeltplanen. Dass ich richtig bin, merke ich aber auch daran, dass ich unter den fremden Leuten immer mehr Kinder wahrnehme.
Da...
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