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Hätte man Anja gefragt, welcher Tag im Gefängnis der schwierigste sei, sie hätte gesagt: der erste. Seine Hauptschwierigkeit bestand darin, dass er nicht enden wollte und irgendwie unstetig war - mal dehnte sich die Zeit wie Gummi, dann raste sie pfeilschnell.
Alles begann mit einer unbequemen Wachstuchmatratze in einer Zelle der Moskauer Polizei. Anja war am Tag zuvor festgenommen worden, doch mit der Flucht vor den OMON-Gardisten, der Wanne, der Personalaufnahme auf der Polizeidienststelle war der Tag so ausgefüllt, dass sie fast nicht bemerkte, wie er zu Ende ging. Erst in der Zelle wurde ihr bewusst, dass sie im Gefängnis gelandet war.
Die ganze Nacht hatte sie sich auf der klebrigen Matratze gewälzt und immer wieder ihr T-Shirt zurechtgezogen, um das Wachstuch nicht mit der bloßen Haut zu berühren. Die Matratze lag auf dem Fußboden, Kissen und Decke gab es nicht, sie konnte keine bequeme Position finden: Die Hand, unter den Kopf gebettet, wurde taub, in Seitenlage tat nach einer Weile der halbe Körper weh. Dass sie überhaupt ab und zu einschlief, merkte Anja nur daran, dass sie immer wieder heftig aufschreckte. Wie spät es dann jeweils war, wusste sie nicht: Die Zelle hatte kein Fenster (nur eine immer brennende funzelige Lampe über der Tür), und das Telefon hatte man ihr weggenommen.
Wenn sie wach wurde, betrachtete sie in Ermangelung anderer Ablenkungen immer und immer wieder die Wand vor ihren Augen: abblätternde Farbe im Ton von Eierschalen, verdächtige Flecken, über deren Ursprung sie lieber nicht nachdachte, hingekritzelte Worte, «Ljocha», «Birjulevo» und «Allahu Akbar».
Als sie ein weiteres Mal wie von einem Schubs wach gerüttelt wurde, begriff Anja, dass es diesmal keine Einbildung gewesen war. Vom Boden her spürte sie ein Zittern - in der Metro fuhren die ersten Züge. Da wurde ihr klar, dass der frühmorgendliche Tag angebrochen war.
Nun kam Leben in die Polizeidienststelle. Anja hörte es durch den Spalt der Tür, die der gutmütige alte Bulle nicht ganz geschlossen, sondern eine Handbreit offen gelassen hatte. Weiter öffnen konnte Anja den Spalt nicht - sie war draußen mit einer Kette gesichert. Anja lag da und lauschte, wie die Polizisten sich im Dienstraum anfluchten, wie das Telefon schrillte, ein Türschloss quietschte, Wasser in der Toilette rauschte. Dann endlich kamen sie und führten auch Anja zu dieser Toilette - der Polizist ließ sie hinein und blieb draußen stehen, um die Tür zuzuhalten.
Anja trat von einem Bein aufs andere und sah sich um. Ihr fiel eine Szene aus Trainspotting ein, wo der Held gezwungen ist, etwas aus der schlimmsten Toilette von ganz Schottland zu fischen. Offensichtlich war er nie auf der Polizeidienststelle des Rayons Twerskoj gewesen. Der schartige Fliesenboden war mit flüssigem Unrat bedeckt, am Spülkasten baumelte eine rostige Kette. Dem Klosett, einem Loch im Fußboden, kam Anja dann doch lieber nicht zu nahe. Sie ließ zum Schein das Wasser rauschen und ging wieder raus, ohne den aufgeweichten Rest Seife am Waschbeckenrand auch nur berührt zu haben. Der Polizist brachte sie in die Zelle zurück.
Die Zeit zog sich hoffnungslos in die Länge. Diesmal schlossen sie die Tür fest zu, nun drang kein Laut mehr durch. Anja ließ den Blick über die Wände huschen, die in der Dunkelheit kaum mehr zu erkennen waren, ein zweifelhaftes Vergnügen. Die Gedanken, schwer und träge vom Schlafmangel, wälzten sich mühsam durch ihren Kopf. Anja wusste bald nicht, wie lange sie so dasaß. Es kam ihr vor, als würde sogar ihr Herz langsamer schlagen, als würde sie in einer Art Meditation oder Anabiose versinken. Als die Tür aufging und der Polizist hereintrat, zuckte sie zusammen und wusste nicht gleich, was nun los war.
Man führte sie in die Diensträume und setzte sie auf eine Bank neben eine traurige Zigeunerin, einen betrunkenen Burschen und einen Mann mit blauem Auge. Der Bullen-Opa, der gestern freundlicherweise ihre Tür angelehnt gelassen hatte, nahm die Schachtel mit ihren persönlichen Gegenständen aus dem Schrank.
«Macht euch fertig, gleich geht's ins Gericht», sagte er.
Anja schaltete ihr Telefon ein und sah rasch die Nachrichten durch, schnallte den Gürtel um und fing an, die Turnschuhe zuzuschnüren. Die Schnürsenkel hatte man ihr vor der Nacht in der Zelle abgenommen.
«Wozu die Mühe?», meinte der Bulle, als er das sah. «Sie fahren doch zum Gericht.»
«Na und, darf man da nicht mit Schnürsenkeln rein?» Anja wunderte sich.
«Schon, aber danach im Arrest müssen Sie sie wieder rausziehen», antwortete der Polizist. Anja war gerührt von seiner fürsorglichen Offenheit.
Im Gericht verging die Zeit - andersherum wäre es Anja lieber gewesen - unerwartet schnell: Hier war es endlich hell, frisch, geräumig; plötzlich waren Freunde da, die ihr Kaffee und Caesar Salad brachten, das Telefon wurde ihr nicht mehr weggenommen.
Als Richter erschien ein strenger, grau melierter Mann, dessen Pünktlichkeit Anja bedrückte: Die Sitzung begann ohne Verspätung, die Unterbrechungen dauerten exakt so lange wie von ihm angekündigt. Das gab aber auch Anlass zur Hoffnung. Wenn jemand so streng und unzugänglich wie ein Fels wirkte, durfte man vielleicht erwarten, dass auch seine Beschlüsse leidenschaftslos und gerecht sein würden.
Anjas Verbrechen bestand darin, dass sie auf der Demonstration einem OMON-Bullen in die Hände geraten war. Der hatte sie aus der Menge gezogen und in die Wanne gesteckt. In der Wanne war es lustig und heiß. Hier war sie zusammen mit vielen anderen Festgenommenen, alle redeten durcheinander, spaßten und lachten - die Atmosphäre war eher wie auf einer Party. Anja war die Allererste in der Wanne und hielt das, was hier passierte, für ein großes Abenteuer. Als sie auf dem Revier angelangt waren, hatte sie nicht den geringsten Zweifel, dass sie schleunigst entlassen würde. Mit allen anderen wurde sie in einen Aktenraum gesteckt - groß und voller Stuhlreihen, sodass es an ein Klassenzimmer erinnerte. An einer Wand stand ein Tisch, wie der Lehrertisch, darüber hingen Porträts von Putin (rechts) und Medwedjew (links) samt der russischen Flagge in der Mitte.
Die anderen, die mit Anja festgenommen worden waren, rief man nun einzeln vor an den Tisch und ließ sie gehen, nachdem sie irgendwelche Papiere unterschrieben hatten. Das dauerte, draußen wurde es langsam dunkel, Anja war immer noch nicht an der Reihe. Am Ende war nur noch sie da - vor dem Fenster stand undurchdringliche Finsternis, die Glühbirne an der Decke summte widerlich. Endlich kam ein Polizist herein und sagte, dass Anja über Nacht in der ZFO bleiben müsse - der «Zelle für wegen Ordnungswidrigkeit Festgenommene». Anja sah nicht ein, warum nur sie dableiben musste, und begann zu streiten. Der Polizist sagte, im Unterschied zu den anderen habe sie eine schwerwiegendere Tat begangen und müsse bis zur Gerichtsverhandlung auf dem Revier bleiben.
In der ZFO auf dem Boden liegend, hatte sie sich schwer vorstellen können, dass alles rasch und gut enden würde; hier aber, im Gericht, wo alles so sauber und adrett war und sich sogar die Toilette verriegeln ließ, gewann Anja wieder Zuversicht auf einen glücklichen Ausgang. Als der Richter ihr das Wort erteilte, war es ihr sogar ein bisschen unangenehm, dass sie ihm hart entgegentreten musste. Vielleicht war er ja drauf und dran, sie gleich laufen zu lassen, und sie würde, ohne es zu wollen, einen guten Menschen beleidigen. Nachdem der Richter sie angehört hatte, zog er sich für eine halbe Stunde in den Beratungsraum zurück, kehrte pünktlich wieder und schickte Anja mit undurchschaubarem, leidenschaftslosem Gesicht in den Arrest.
Der Transport in die Anstalt folgte sofort danach. Die zwei Bullen, die Anja hinbrachten, hatten es eilig nach Hause und fuhren deshalb mit Blaulicht am Moskauer Stau vorbei. Wie sie da mit heulender Sirene durch die Straßen raste, kam Anja sich vor wie ein großes Tier in der Verbrecherwelt. Auch dieser Teil des Tages endete dann enttäuschend rasch: Anja sah die Häuser draußen vorbeihuschen und dachte, dass noch die unansehnlichsten Fünfstöcker einen ungeahnten Reiz entfalten, wenn sie dir kurz vor Ende deiner Freiheit gezeigt werden.
Am Arrest angekommen, stellte sich heraus, dass sich Anjas Vollstrecker umsonst so beeilt hatten: Vor den Toren wartete eine ganze Schlange von Polizeifahrzeugen mit Verhafteten.
Wieder hieß es warten. Anfangs stiegen die Bullen einzeln aus, um zu rauchen. Dann zusammen. Dann stieg auch Anja mit aus und stand bei ihnen. Das Gespräch kam natürlich auf die Politik - der ältere erklärte in belehrendem Ton, wie sehr Anja und ihre Mitstreiter mit den ungenehmigten Demonstrationen der Polizeiarbeit schadeten. Nachdem er seine Strafpredigt beendet hatte, kam der Bulle auf das Gerichtssystem zu sprechen und kritisierte es dafür, dass Anja für ihre blöden Demos sitzen - und er sie kutschieren - müsse. Dann ging es gegen die Regierung, diese Diebe: Das Gehalt der Polizisten sinke immer weiter, die Arbeit beim Auseinandertreiben dieser Demos werde immer mehr. Anja erlaubte sich den schüchternen Einwand, dass zwischen dem staatlichen Diebstahl und den Demonstrationen ja ein direkter Zusammenhang bestünde, doch der Polizist brauchte gar keinen Gesprächspartner. Nachdem er all das Chaos ringsum erbarmungslos gegeißelt hatte, nahm er sich den Leiter der Arrestanstalt vor, der sie hier in der Hitze warten ließ und überhaupt ihr listigster und mächtigster Feind sei. Der Bulle...
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