Schweitzer Fachinformationen
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Beim Anblick des Zettels mit den anstehenden Aufgaben beschleunigte sich Julias Puls. Sie ließ ihren Blick durch das große Patientenzimmer der Frühgeborenenstation schweifen. Die Ruhe vor dem Sturm. Binnen kurzer Zeit gab es viel zu erledigen. Venenkanülen legen. Nabelvenenkatheter entfernen und eine Probe nehmen. Antibiotika vorbereiten. Den Kohlenstoffdioxid- und pH-Wert der Blutgase überprüfen. Brutkästen austauschen und Formulare für das vorläufige Elterngeld ausfüllen. Und das war nur das, was auf der Liste stand. Nebenbei musste sichergestellt werden, dass jedes Kind atmete und sein Herz schlug. Die kleinen Details eben.
Die meiste Zeit nahm das in Anspruch, was nicht auf der Liste stand. Das Unsichtbare zwischen den Zeilen. All die Vorbereitungen, all die Antworten und Kommunikation, die es brauchte, um die Angst in Schach zu halten. Manchmal hing sie wie ein schwerer, dunkler Nebel unter der Decke des Patientenzimmers, manchmal befand sie sich wie ein brennender, pulsierender Himmelskörper mitten im Raum. Stieß mit tiefen Seufzern schwarzen Ruß aus. Überzog alles und alle, die ihr zu nahekamen, mit Schwärze. Julia trug dafür Sorge, dass auch die Eltern das Atmen nicht vergaßen, wenn die Rußwolke der Angst mal wieder zu dicht wurde. Sie schielte zur Uhr. 8:30. Nahm dann drei große Schlucke aus der Wasserflasche. Als würde sie sich für eine Joggingrunde bereit machen.
Das Baby am Fensterplatz schrie in seinem Brutkasten. Eigentlich glich es eher einem mürrischen Stöhnen, wie eine Mischung aus einem blökenden Lamm und einem quietschenden Scharnier. Ein Arm des kleinen Mädchens hatte sich aus der Mullbinde gelöst, die Armen und Unterkörper Halt verlieh. Auf die kleinste Veränderung reagierte der ganze Körper mit einem Zittern. Als ob es frieren würde. Der Puls schnellte auf fast zweihundert hoch, der Alarm blinkte rot und gab einen dumpfen Ton von sich. Julia desinfizierte sich die Hände und rieb sie fest aneinander, um sie aufzuwärmen. Öffnete die Luken des Brutkastens und legte vorsichtig ihre Hände auf das Mädchen. Ein Brummen ertönte, bevor es kurz darauf zur Ruhe kam. Die rote Leuchte am Monitor erlosch. Der Puls verlangsamte sich. Handauflegen bei Frühgeborenen. Julia erinnerte sich, wie sie das vor mehr als zehn Jahren bei ihrer Einarbeitung von einer älteren Krankenpflegerin gelernt hatte. Eine Hand am Kopf, eine am Popo und dann leicht drücken. Julia hatte es kaum glauben können, aber als sie es zum ersten Mal selbst ausprobierte, glich es einem Wunder. Das winzige Kind kam zwischen ihren Handflächen zur Ruhe, als wären sie mit einem Schlafmittel eingepudert.
Die Arbeit mit Babys hatte etwas unglaublich Schönes und Befriedigendes. Die unmittelbaren Reaktionen. Mitzuerleben, wie die Babys sich mühelos beruhigen ließen. Wie sich ihr Schmerz allein mit Hilfe der Hände und Geborgenheit lindern ließ. Wie man dem noch nicht ausgereiften Nervensystem auf die Sprünge helfen konnte. Es war ein Geschenk.
Auch wenn das natürlich kein Ersatz für weitere eigene Kinder war, schuf es einen gewissen Ausgleich für das, was ihr zu Hause nicht glückte. Die Freude, Sicherheit und Stabilität vermitteln zu können. Die Babys zu umsorgen und zu sehen, wie sie zwischen ihren Händen einschliefen. Ihnen einen Schnuller in den Mund zu stecken und zu beobachten, wie sich ihre Atemfrequenz durch die Unterstützung verlangsamte. Wenn sie die beeindruckten Blicke der Eltern sah, wusste sie genau, was diese dachten. Sie ist so ruhig und behutsam. Magische Hände. Wie muss sie bloß als Mutter sein. Dann kam sie sich manchmal verlogen vor. Als würde sie eine Rolle spielen, die mit ihrem wirklichen Leben nicht das Geringste zu tun hatte.
Der Job war der einzige Ort, an dem Julia Dankbarkeit erfuhr. Wo sie nicht ständig das Gefühl hatte, anderen dankbar sein zu müssen.
Eine von Julias Kolleginnen kam ins Stationszimmer. Sie riss sich die Plastikschürze vom Leib, warf sie in den Mülleimer und setzte sich an den Schreibtisch. Julia hatte gehofft, endlich wieder mit Filippa zu arbeiten, aber aufgrund eines gerechteren Qualifikationsmixes wurde sie fast immer mit einer der neuen Pflegekräfte eingeteilt. Sie drehte sich um, schaute zum Monitor über einem Brutkasten und stellte fest, dass die Herzfrequenz des Babys stabil war.
»Magst du einen Kaffee?«, fragte die Kollegin. »Den kannst du gebrauchen, wenn du dir das da ansiehst.« Sie nickte in Richtung Computerbildschirm, an dem Julia gerade den Sommerdienstplan öffnete.
Es war Juni. Urlaubszeit. Als wäre das Leben nicht schon kompliziert genug. Eigentlich war es merkwürdig. Sie arbeiteten mit kranken Neugeborenen, aber Schweißausbrüche bekamen sie wegen des Sommerdienstplans. Er brachte bei allen auf der Station die unangenehmsten Seiten zum Vorschein. Und das nicht ohne Grund. Sommer bedeutete Personalmangel, unerfahrene Aushilfskräfte und eine reduzierte Anzahl an Behandlungsplätzen. Doch Kinder kamen immer zur Welt, rund um die Uhr, zu jeder Jahreszeit. Der Frust war mit den Händen zu greifen, und der Ton auf dem Flur der Neonatologie wurde rauer, je wärmer es wurde. Der aktuelle Plan entsprach keineswegs mehr den im Februar geäußerten Wünschen, im Gegenteil.
Julia hatte im Gegenzug für eine Prämie auf ihren Sommerurlaub verzichtet. Zehntausend Kronen pro Woche. Die konnte sie sich nicht entgehen lassen. Bei vier Wochen war das mehr als ein Monatslohn. Außerdem hatte sie entschieden, sich während des Sommers nicht für die Kinderbetreuung freistellen zu lassen. Sie registrierte die verwunderten Blicke ihrer Kollegen, vor allem von jenen mit Kindern. Doch Julia war Enttäuschungen gewohnt. Sie waren Teil ihres Lebens, damit hatte sie sich schon lange abgefunden. Lieber vereinbarte sie mit ihrer Mutter einen Deal für die Wochen, in denen der Kindergarten Ferien hatte, als Freistellungstage zu vergeuden. Denn diese waren Gold wert. Sie wusste nie, was Truls' Vater in den Sinn kam, wann die nächste Krise ausbrechen würde, und wenn es so weit war, waren solche Tage wie kleine Rettungsbojen, an denen sie sich durch den Alltag hangelte.
Wie durch ein Wunder sah Julias Plan keinen Wochenenddienst vor. Allerdings hing alles an einem seidenen Faden. Oder vielmehr an einer Kollegin, die eine Weiterbildung machte und bereitwillig jedes zweite Dienstwochenende von Julia übernahm. Dadurch verdiente sie sich etwas hinzu, und Julia bekam ihr Leben in den Mamawochen geregelt. Allerdings lief dieses Arrangement in einem Jahr aus, und wie sie dann ihren chaotischen Alltag meistern sollte, mochte sie sich gar nicht ausmalen. Noch weniger wollte sie darüber nachdenken, was ihr Ex unternehmen würde, wenn er davon Wind bekäme. Wie er das zu seinen Gunsten nutzen würde.
»Wie großzügig von dir, keine Freistellung zu nehmen«, sagte die Kollegin, leerte ihren Kaffeebecher, der seit der Visite auf dem Schreibtisch gestanden hatte, und verzog das Gesicht.
»Ich wünschte, es wäre Großzügigkeit, ist aber leider blankes Überleben.«
»So schlimm?« Sie schaute Julia mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Julia nickte, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
Die Kollegin beugte sich vor und schaute ihr über die Schulter. »Meine Güte, wie viele schwanger sind«, sagte sie und zählte murmelnd all die Namen der schwangeren Kolleginnen auf, die im Dienstplan deshalb gelb markiert waren. »Manchmal glaube ich, die Kinder hier wirken ansteckend. Diagnose: Babykrank. Meist fängt es mit einem Ziehen in der Gebärmutter an.«
Julia lachte. Babykrank. Das klang irgendwie süß, und die Kollegin hatte es auf den Punkt gebracht, auch wenn es scherzhaft gemeint war. »Es ist vermutlich ein Nachteil, an einem Ort zu arbeiten, an dem neunundneunzig Prozent Frauen im gebärfähigen Alter sind.«
»Das stimmt«, sagte die Kollegin, »natürlich darf jede Frau schwanger werden. Ich bin es nur einfach leid, dass Kinder eine Art Freifahrtschein sind, um nicht arbeiten zu müssen. Nicht nur im Sommer, sondern generell. Ich kann nicht, weil ich mein Kind vom Kindergarten abholen muss. Ich kann nicht, denn wer kümmert sich dann um mein Kind? Alles nachvollziehbare Gründe. Und absolut zulässig. Ich hätte nur auch gern eine Ausrede, um nicht vier Spätschichten hintereinander machen zu müssen. Wer sich bewusst gegen Kinder entscheidet, sollte auch in den Genuss von Privilegien kommen. Ein Kinderlosenbonus. Etwa: Danke, dass Sie auf Kinder verzichten, dafür bekommen Sie eine kräftige Lohnerhöhung und einen Präsentkorb von Åhléns.«
Julia musste wieder lachen. »Du weißt doch, dass wir unsere Kinder nur vom Kindergarten abholen, weil uns ansonsten langweilig wird«, sagte sie augenzwinkernd zu der jungen Kollegin, während sie die Medikamentenverordnung ihres ersten Patienten anklickte.
»Du weißt, wie ich das meine.«
Julia lächelte nur. Ihr war klar, dass die lästernde Fünfundzwanzigjährige neben ihr mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten zwei Jahre selbst schwanger werden und sich dann in eine von jenen verwandeln würde, die im Anschluss an den Sommerurlaub sämtliche Freistellungstage nahmen. Bevor die Kollegin noch etwas sagen konnte, ertönte der Notfallpiepser in Julias Tasche. Das Geräusch hallte durch das kleine Stationszimmer. Sie sprang auf und zog das beleuchtete Display heraus. Neo-Team Kreißsaal.
Ein...
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