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ANFANG MÄRZ
Nach vielen tausend Tagen Ehe warf Katja Schumann ihren Ring in die Dunkelheit hinaus. Mitten in der Nacht am Fluss, um vier Uhr morgens auf der Bank am Deich. Keine wache Seele weit oder breit.
Leises Klirren von Metall auf Stein. Der Ehering war nicht sehr weit geflogen, er musste nah am schlickigen Ufer zwischen den Felsen am Fuß der Böschung liegen.
Soll er verrotten.
Sie war sonst nie hier draußen. Nicht allein, nicht um diese Zeit. Sie hatte nie unterm Vollmond den Weg der Wellen verfolgt, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Nie den Ring vom Finger genommen, um ihn irgendwo hinzuschmeißen. Als ihre Nase zu laufen begann, nahm Katja die Hände nicht aus den Jackentaschen. Viel zu kalt.
Ablaufend Wasser. Tag für Tag wich der breite Fluss von seinem südlichen Ufer zurück, als hätte er auf der anderen Seite einen Termin, den er nicht versäumen durfte. Die Ebbe, die Flut, der Strom und sein Bett: sehr alte Verbündete der Gezeiten. Mit Stern, Planet, Trabant stieg das Wasser und fiel wieder, nach seinem eigenen Kalender, und brauchte keine Erinnerung.
Taschentücher hatte Katja nicht dabei.
Wenn die ersten Menschen am Morgen zum Hafen kämen - Lieferanten, Spaziergänger, der Abiturient, der mit Steigerungsläufen für die Aufnahmeprüfung an der Sporthochschule trainierte -, dann würde Ebbe herrschen, und in den Prielen würde glitzern, was vom Wasser zurückgeblieben war. Dann würde Rolf Kuntze die sehnigen Füße ins Watt setzen, einen nach dem anderen, die Turnschuhe zusammengeschnürt um den Nacken gehängt, und durch den kühlen Schlick waten wie an jedem Freitag seit 1980. Die Zeit schlug hier nur sachte Wellen.
Nach 43 Lebensjahren blinzelte Katja nun auf den Fluss hinaus wie auf ein lange verdecktes Gemälde im Museum. Er trug die Farben der Nacht, er war die Ruhe selbst. Und sie atmete sehr tief durch die Nase, wünschte sich, dass der Wind etwas freundlicheres Wetter über den Deich in die Stadt tragen möge. Vor wenigen Stunden hatte der Frühling begonnen, meteorologisch. Und ihr Mann hatte Katja aus der Bahn geworfen, beispiellos.
Jan hatte ein Verhältnis oder wie immer man das heutzutage nannte, und Katja fand wenig Trost in der Tatsache, dass dieses Wort so albern und plüschig klang: Verhältnis. Auf jeden Fall hatte er etwas, für das man die Formulierung >was Ernstes< benutzte und dabei zu Boden sah, beinah überrascht und ein bisschen gerührt von der eigenen unaufgeforderten, so selten angewandten Ehrlichkeit. Sobald Worte fielen wie >so viel Ehrlichkeit bin ich dir schuldig<, hieß das übersetzt: >Scheiße nochmal, mir sind die Heimlichtuerei und das Treuegedöns zu anstrengend!< Und wenn Katja all das nicht geträumt hatte, dann war Jan sogar seit einer Weile, was immer das bedeuten sollte, >verliebt< in dieses Verhältnis.
Ein Containerdampfer wälzte sich vorbei auf seinem Weg Richtung Nordsee. Blinkender Koloss, hoch beladen, in abblätterndem Rot und Blau. Die Schifffahrt hatte Nachtschicht, die Fahrrinne zwischen Hamburg und dem offenen Meer, sie schlief nicht.
In einer viel wärmeren, viel weniger deprimierenden Nacht hatte Katja, damals noch Behnke, von hier oben auf die vorbeifahrenden Schiffe gestarrt, kaum zu atmen gewagt, weil Jan Schumanns Lippen schon die Stelle zwischen T-Shirt-Kragen und Schlüsselbein berührten, und alles war warm und schön.
2001, dachte sie. Erster August. Oder schon der zweite. Bester August aller Zeiten jedenfalls, sie nannten ihn später ihren nackten August, und mit diesem Kitzeln hatte er begonnen: Es war perfekt, was diese Lippen taten, es war wunderbar, was sie forderten und versprachen. Das war eine gute Zeit, das war eine ehrliche Zeit. Nicht verhältnismäßig, sondern absolut ehrlich. Das war der August, in dem eine Zukunft ihren Anfang nahm, die nicht selbstverständlich war, mit der Katja sich aber schon bald sehr einverstanden erklärte. Eine Zukunft auf dem flachen Land ihrer Vergangenheit, an der vertrauten Küste, auf den wohlbekannten Schleichwegen zwischen Schulhof und Spielplatz, unter den riesigen Bäumen, in die sie Häuser gebaut hatten, hinter dem Deich, der die Stadt schützen sollte. Eine Zukunft in den Koordinaten ihrer Kindheit. Mit Jan Schumann und dem Rückenwind der guten, beherzten Entscheidung für dieses Leben: 53 Grad nördlicher Breite, 8 Grad östlicher Länge, und Katja Behnke war bereit, für immer nach Hause zu navigieren.
Die Zeit vor dem Heimatkuss: ein paar Jahre weg, die Semester und Erfahrungen in der dicken Luft vom dicken Berlin, mäßig wild, und zu keinem Zeitpunkt hatte sie die Entscheidung getroffen, auf jeden Fall nach Tallstedt zurückzukehren. Mit Mitte zwanzig und einer Matrikelnummer dreimal so lang wie Familie Behnkes Telefonnummer hatte Katja eher gehofft, ihr würde ein Grund über den Weg laufen, nicht zurückzugehen. Denn konnte in diesem Berlin nicht alles passieren? Sascha Kaminski hätte so ein Grund sein können, dachte sie, Sascha aus dem Einführungskurs, zumindest eher noch als Tilo Neumann von der Germanistikparty oder als Brian Larisco jr. Oder die freie Stelle am Germanistischen Institut, wer weiß. Doch dann fielen all die Ideen, Pläne und Optionen von ihr ab, als hätte sie nach dem Duschen ihre Haare nach vorn geworfen, den Kopf einmal kräftig geschüttelt und in ein Handtuch gewickelt, das nach Marlies Behnkes Waschpulver roch, auf dem Heizkörper vorgewärmt, direkt neben Katjas Kinderzimmer.
Wenn die Flut kommt, fiel ihr ein, ist der Ring weg. Die Deiche halten, die Beziehungen nicht unbedingt.
Sie fragte sich, wie sie so naiv hatte sein können, so blind vor Gemütlichkeit oder was immer ihr den Blick verstellt hatte auf den Riss in ihrem Leben: Sie hielt sich bis vorhin auf eine erwachsene Weise für zufrieden. Jan war nicht mehr glücklich.
Und wenn man so was nicht repariert, franst es aus, sagte eine altkluge Stimme in ihrem Kopf. Dann ist alles zu spät, zu mühsam, zu schmerzhaft.
Warum konnte sie sich, ausgerechnet jetzt, an den Druck seiner Finger erinnern, als Jan ihre Hand genommen und ihr den Ring übergestreift hatte im überheizten Standesamt?
Soll er doch verrotten.
Auch ein rauschender August musste einmal vorbei sein. Am Ende ihres ersten gemeinsamen Hochsommers hatte Jan gar nicht erwartet, dass Katja alle Berliner Zelte abbrechen und seinetwegen von jetzt auf immer zurück nach Tallstedt ziehen würde; dass sie käme, um zu bleiben. Nur dass sie nach diesem von allen Zweifeln freien Monat, ihrem nackten August in Haus und Garten, während Jans Eltern verreist waren, zumindest ein längeres Gespräch führen würden, ehe Katja zum 1. September in die Hauptstadt zurückfahren müsste - das erwartete Jan sehr wohl. Doch als er noch grübelte, wie sich mit ihr möglichst gelassen über Beziehungsstatus und Fernbeziehungsstatus diskutieren ließe und wann ihr ein Berlin-Besuch seinerseits gelegen käme, da wusste seine spätere Ehefrau längst: Jan ist ein Grund. Ob ich ihn gesucht habe oder er mich gefunden - wen interessiert das, wenn es passt und hält, wen interessiert der verblasste Anfang, wenn wir in fünfzig Jahren mit kleinen, schlurfenden Schritten und einem Lächeln die Reihen abschreiten auf dem Tallstedter Friedhof, um uns eine lauschige Stelle auszusuchen. Jan Schumann ist der Grund, ganz bestimmt ist er das. Ein Grund zu bleiben, fester Grund.
Und wenn der wegbricht, so hatte sie sich eingeredet, was soll's, dann ist Berlin immer noch da, so was wie Berlin geht niemals weg, und dann packe ich noch mal meine Sachen.
In der Jackentasche fühlte Katja das Handy. Würde ihr Mann sie zu erreichen versuchen? Sie nahm es heraus - kein Anruf, keine Nachricht - und legte es neben sich. Es schien ihr unvorstellbar, dass Jan einfach schlafen konnte, dass er nicht aufgestanden war und nicht die offene Gästezimmertür bemerkt hatte. Der Hintergrund des Displays war ein Foto aus dem letzten Jahr: Vater, Mutter, Kind auf dem Rummelplatz, ein sorglos buntes Bild von ihr mit Jan und Henry. Sie schmeckte Zuckerwatte auf der Zunge und wischte das Bild weg. Die Uhr stand auf elf Minuten nach vier.
Also gerade mal 22 Uhr in New York, wo Brian Larisco jr. vermutlich zu Hause war seit seiner Flucht aus der Berliner WG. Katja sah ihn vor einem riesigen Fernseher ein Football-Spiel verfolgen, mit der flachen Hand auf die Sessellehne einprügelnd bei jedem erfolglosen Angriff seines Lieblingsteams. Den Namen hatte sie vergessen, so was wie Heroes oder Kings, und den letzten Brian-Augenblick hatte sie verdrängt: den Nachmittag Ende der Neunziger, an dem sie mit weißem, knackendem Plastikbecher und Teststreifen in der Hand auf der Waschmaschine saß. Brian kam herein, seine drei allerliebsten Jogginghosen unter den Arm gestopft; sie hatte nicht abgeschlossen, er vermutete alle Mitbewohner in der Uni. Vergeblich bemühte sich Katja, den Becher hinter die Weichspülerflasche zu schmuggeln, und Brian verarbeitete seine Verblüffung, indem er im Rückwärtsgehen haspelnd erklärte, dass er die Hosen ohne weiteres später noch waschen könnte, dreimal raunte er >Sorry, Kat<. Weg war Brian Larisco jr. Fast pünktlich schaffte Katja es noch zur Vorlesung; den Zettel, den sie auf Brians Kopfkissen drapierte - WE NEED TO TALK .., mit zwei statt drei Pünktchen -, den ließ er zurück, dreimal gefaltet, wie er auch das Waffeleisen zurückließ, eine abscheuliche Stehlampe und drei ratlose Mitbewohner.
Es muss doch irgendwann mal...
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