Schweitzer Fachinformationen
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III
Charlotte trinkt ihren Kaffee und genießt die wachsende Aufregung. Es ist so weit: Sie reist ab.
Es klopft an der Esszimmertür, und der Hilfsprediger ihres Vaters tritt ein. Er zittert und reibt sich die Hände, denn draußen ist es noch nächtlich kalt.
»Na, Mr Weightman«, sagt Charlotte. »Haben Sie es so früh aus dem Bett geschafft?«
Es gefällt ihr, den jungen Prediger zu quälen. Er hat etwas von einem jungen Hund, der um einen herumspringt, weil er so gerne spielen will. Mit einem Gesicht, das der Schöpfer schön modelliert hat, mit seinem munteren Augenaufschlag und den langen, flinken Beinen ist er ein hübscher Mann. Da sind sich die Frauen in Haworth einig. William Weightman ist sich seiner Schönheit durchaus bewusst, wie ein Kind, das davon ausgeht, dass es süß und perfekt ist - doch er hat dabei überhaupt nichts Anmaßendes. Charlotte selbst ist immun gegen seinen Charme, er ist für ihren Geschmack zu weiblich. Aber sie weiß, dass Anne eine Schwäche für ihn hat.
»Davy vom Black Bull ist da.« Martha wischt sich die Hände an der Schürze ab und beginnt, geräuschvoll die Teller aufeinanderzustapeln. In ihren blassblauen Augen stehen die Tränen.
Tante Elizabeth hilft Emily in den Mantel und bindet die Bänder von Charlottes Haube. Rasch legt sie sich einen Schal um die Schultern und folgt ihnen dann nach draußen.
»Zeit zum Aufbruch!«, sagte Patrick Brontë mit bestimmtem Ton. Er fasst seine Schwägerin beim Ellenbogen und küsst sie auf die Wange.
»In ein, zwei Wochen bin ich wieder zu Hause.«
Elizabeth streichelt ihm die Hand und streckt dann die Arme nach ihren Nichten aus. Charlotte gibt ihr einen liebevollen Kuss, doch die Umarmung von Emily ist hölzern und geistesabwesend. Seit über zwanzig Jahren kümmert sich Elizabeth um den Nachwuchs ihrer Schwester Maria, und sie kennt die Kinder durch und durch. Anne, die Jüngste, ist ihr Liebling, ein Engel von einem Mädchen, und Branwell, der einzige Sohn, sucht auch immer noch ihre Gesellschaft, wenn er mal zu Hause ist. Die zwei Ältesten scheinen sie eher als konventionelle, einfältige Frau zu betrachten. Bei Charlotte wird die Geringschätzung durch ihre warme Gemütsart abgemildert, doch Emily treibt manches Mal ganz offen ihren Spott mit Elizabeth. Die Kinder schätzen sie aufrichtig, daran zweifelt sie gar nicht, aber sie werden sie nie so lieben wie eine Mutter, und das ist eine der größten Enttäuschungen ihres Lebens.
Damals hat sie alles verlassen, um ihrem Schwager zu helfen: ihre Geburtsstadt Penzance in Cornwall (»Dort schien die Sonne immer so herrlich, Patrick!«) und auch ihre Chance, selbst noch eine Familie zu gründen. Es gab keine andere Lösung, denn als Witwer mit sechs kleinen Kindern fand Patrick Brontë keine solide Frau, die ihn geheiratet hätte. In den ersten Jahren im Pfarrhaus verliebte sich Elizabeth heftig in ihren Schwager, und sie sah ihn gegen sein wachsendes Verlangen ankämpfen. Wie an dem Tag in der Küche, als sie an der Anrichte stand und er ihr die Hand aufs Haar legte - und sie dort minutenlang liegen ließ. Bis er mit frustrierter Miene aus der Küche rannte und mit seiner Pistole auf den Zaun schoss, bis sie leer war. Es gab keine Zukunft für sie als Eheleute, denn das Gesetz verbot es einem Witwer, die Schwester seiner verstorbenen Gattin zu ehelichen. Im Laufe der Zeit wich ihre Verliebtheit der Zärtlichkeit. Nun reicht sie ihm eben mit freundlicher Wärme den Korb mit den belegten Broten und sagt ihm, dass er seine Jacke gut zuknöpfen soll.
Tante Elizabeth sieht, wie Charlotte sich noch einmal umdreht, als die Pferde sich in Bewegung setzen, als wollte sie Abschied nehmen vom Pfarrhaus, der Kirche und den Gräbern. Sie ruft ihr noch etwas zu, aber ihre Nichte ist in Gedanken schon weit weg, in einer Welt, in die sie ihr nicht folgen kann. Sie bleibt stehen und blickt dem Wagen nach, bis er hinter dem Hügel verschwunden ist.
Davy und der Hilfsprediger sitzen auf dem Kutschbock, und die Pferde gehen vorsichtig die Hauptstraße hinab. Die kleine Stadt erwacht in der Morgendämmerung. Mabel, die Tochter des Metzgers, fegt gerade den Gehweg vor dem elterlichen Laden. Als sie die Kutsche sieht, lehnt sie den Besenstiel an ihre Schulter und winkt den Reisenden zu. Der Krämer schiebt einen Korb mit Rotkohl nach draußen und ruft: »Hochwürden, Sie kommen doch zurück, nicht wahr?«
Joseph - Vater von elf Kindern, der immer Probleme hat - läuft dem Wagen atemlos hinterher und ruft: »Hochwürden, bleiben Sie lange fort?«
Davy lässt die Pferde halten, denn Patrick Brontë zieht ihn am Hosenbein. Die Fragen seiner Kirchgänger dürfen doch nicht unbeantwortet bleiben! Er steht auf und erklärt, dass er seine Töchter auf ihrer Reise nach Übersee begleitet, nach Brüssel, der Hauptstadt von Belgien, wo sie zur Schule gehen sollen. Mabel reißt die sanften Kuhaugen auf. Belgien, was ist das denn für ein Land? Und sind die Fräuleins Brontë dort nicht in Gefahr? An der Hauptstraße gibt es fast einen Menschenauflauf, weil alle dem Prediger und seinen Töchtern eine gute Reise wünschen wollen. Charlotte muss lächeln. Emily scheint taub zu sein für die Grüße, die man ihr zuruft. Sie drückt keine Hände und lächelt nicht, so kennt man sie in Haworth. Charlotte hat durchaus Verständnis für ihre Schwester. Sie will sich mit den Einwohnern von Haworth nicht weiter einlassen, denn die Leute sind hier in allem so grob und ungeschliffen. Sogar die Großgrundbesitzer der Gegend sind kaum mehr als Großbauern und beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit der Jagd oder ordinären Festen. Die wahren Reichen von Haworth, die Besitzer der Textilfabriken unten am Fluss, mögen sich vielleicht in dem Glauben wiegen, dass sie Herren sind, aber sie trinken zu viel und veranstalten Hahnenkämpfe. Mitten in dieser Wüstenei haben ihre Eltern das Pfarrhaus von Haworth in eine Oase für den Geist verwandelt: Hier konnte sie sich mit ihren Schwester und Branwell an Schönheit und Weisheit laben. Ihre Mutter las ihnen Märchen und Legenden vor, und nach ihrem Tod sorgte der Vater dafür, dass es immer etwas zu lesen und zu lernen gab. Draußen war das Leben hart und der Wind scharf, und so kuschelten sie sich aneinander wie junge Füchse. An der Tafel am Kamin erschufen sie sich in begeisterten Versen ihre eigene ideale Welt. Ihr Vater musste sich in die Außenwelt hinauswagen, aber er fand Freude an seinem Amt.
Er ist ein guter Redner, und jeden Sonntag ist seine Kirche voll bis auf den letzten Platz. Es ist ganz besonders, wie einprägsam er zu den Leuten spricht! Sie findet, dass er an seiner langen, schmalen Nase entlang auf seine Gemeinde blickt wie ein Universitätsprofessor auf eine Gruppe noch unwissender Studenten. Ihr Bruder ist der Einzige in der Familie, der ein Talent hat, sich unters Volk zu mischen, wenngleich es bedauerlich ist, dass er das vor allem in der Kneipe tut. Sie hat Branwell schon seit sechs Monaten nicht mehr gesehen, denn er arbeitet als Beamter bei der Eisenbahn. Was er dort wohl macht - am Schalter Karten verkaufen? Und das, wo doch alle so große Pläne für ihn hatten! Er hat die größten Chancen bekommen. In seiner frühen Kindheit wurde er zu Hause von ihrem Vater unterrichtet, auch in Latein, während ihre Schwester und sie ins Internat geschickt wurden. Er hätte in Cambridge oder Oxford studieren können, aber das wollte er nicht. Er hätte sich in London um eine Zulassung der Royal Academy of Art bewerben können, aber dort tauchte er nie auf. Er bekam ein Atelier in Bradford und alles nötige Material, um sich als Portraitmaler einzurichten, kam aber mürrisch und niedergeschlagen wieder nach Hause. Und dann sein Schreibtalent - denn das hat er zweifellos, ihr Vater hält ihn für den begabtesten Schriftsteller von ihnen allen, aber er schafft es, wirklich alles zu vergeuden. Er ist ihr Bruder, ihr genialer und doch so unvernünftiger Bruder. »Charlotte, ich hab's geschafft!«, rief er, als er den Brief gelesen hatte, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass man ihn als Schalter-Assistenten am Bahnhof Sowerby Bridge angenommen hatte. Genau das, wovon junge Männer träumen - zur Eisenbahn gehen. Und die Linie von Leeds nach Manchester ist ja auch eine Pionierleistung. Dennoch konnte Charlotte seine Begeisterung nicht verstehen. In seinem Enthusiasmus hob er sie hoch, schwang sie einmal rundherum und brachte ihre Frisur ganz durcheinander. Sein ganzer magerer Körper bebte vor Freude. Er wirkte etwas angetrunken, aber sein langes, schmales Gesicht und seine von sich selbst eingenommene Art verliehen ihm die Ausstrahlung eines jungen Aristokraten. Er ist ihr Bruder, und sie vermisst ihn, aber auch ihn muss sie jetzt in England zurücklassen.
Unten, am Rande von Haworth, springt William Weightman vom Bock, und als er gerade sein Gleichgewicht wiedergefunden hat, nimmt er mit einer übertrieben tiefen Verbeugung seinen Hut ab.
»Adieu!«
Tatsächlich muss Emily lächeln.
Yorkshire, Yorkshire, du gnadenloses Land.
Charlotte schiebt ihre Hände in den Lammfellmuff auf ihrem Schoß. Ihr Weg nach Bradford führt sie weiter durch die Heidehügel. Trostlose Hügel mit niedrigen Mauern aus Steinen, die die Schäfer und Bauern aus dem Feld geklaubt haben. Saurer Moorboden, auf dem nur Flachs und Heidekraut gedeihen wollen. Die Heidehügel werden im September ein einziges schäumendes Violett, aber im Oktober beginnen die Sträucher schon zu verholzen. Der Boden ist jetzt braun, blassbraun wie Brot, fleckig braun wie ein Raubvogel, lohbraun wie Baumrinde, gelblich braun wie die Ausscheidungen eines Hundes, oder grün wie Moos...
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