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In ihren Träumen lebte er noch. Er schalt sie liebevoll, weil sie wieder mal so schusselig war und die Autoschlüssel verlegt hatte, und er wunderte sich, dass sie deshalb so traurig war.
Marle schreckte hoch und wischte sich mit beiden Händen heftig über das Gesicht. Es half nichts. Sie sah ihn vor sich. Konstantin. Groß, mit feinen, aristokratischen Gesichtszügen, mit hellbraunem Haar, ergrauten Schläfen und zärtlichem Blick.
In ihren Träumen war er kerngesund. Tränen schlichen sich in ihre Augen.
»Verdammt!«, rief Marle laut und sprang aus dem Bett. Von draußen drangen die Rufe der Möwen in ihr Schlafzimmer. Es klang, als würden die Vögel sie auslachen.
»Ihr habt ja recht«, erklärte Marle. Sie zog sich einen Morgenmantel über und trat ans offene Fenster. »Nach all der Zeit sollte ich wirklich damit aufhören.«
Ihr Blick ging zur Elbe hinunter. Ein riesiges Kreuzfahrtschiff hatte den Hamburger Hafen verlassen und strebte der Deutschen Bucht zu. Es wurde von zwei Schleppern begleitet, die fröhlich auf den Wellen tänzelten. Zwei kleinere Schiffe waren in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Signalhörner erklangen, der frische Wind ließ die Fahnen knattern, und es roch nach Flusswasser, vermischt mit einem fernen, salzigen Hauch Meeresluft. Am hohen Himmel segelten weiße Schäfchenwolken nach Süden.
Früher hatte Marle diesen Ausblick geliebt. Am Tag, als Konstantin sie zum ersten Mal mit in sein Elternhaus genommen hatte, war sie sofort verzaubert gewesen. Nicht nur von der herrschaftlichen, weiß verputzten Villa aus der Gründerzeit weit oben auf dem Süllberg im vornehmen Blankenese, sondern vor allem von der Weite, die sich den Augen darbot. Es gab keine Grenzen für den eigenen Blick, keine hohe dunkelrote Backsteinfront direkt gegenüber wie in Hammerbrook, dem Arbeiterviertel, in dem Marle aufgewachsen war.
»Wunderschön«, hatte sie geflüstert und das großartige Panorama in sich aufgenommen. Es war ein bisschen wie im Märchen gewesen. Bloß dass Konstantin kein Prinz war, sondern Spross einer hanseatischen Kaufmannsfamilie - und Marle war kein armes Aschenputtel, sondern eine junge Frau, die sich in ihrem Beruf als Erzieherin ein gutes, ausgefülltes Leben aufgebaut hatte. Ihre Eltern waren viel zu früh im Abstand von wenigen Jahren gestorben. Ihr Vater bei einem Arbeitsunfall, ihre Mutter an einer verschleppten Lungenentzündung. So hatte Marle gelernt, allein und stark durchs Leben zu gehen.
Außerdem schlossen die meisten Märchen damit, dass die beiden Liebenden glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage lebten. Wobei dieses Ende in sehr weiter Zukunft lag und nicht schon auf sie lauerte, bevor das dritte Ehejahr herum war.
Marle stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte sich schnell ab. Diesmal kam keine Antwort von den Möwen. Offenbar waren sie weitergeflogen. Stattdessen hörte sie jetzt ein leises Klopfen an ihrer Zimmertür.
»Alles in Ordnung, Liebes?«, fragte ihr Schwiegervater.
»Aber ja«, gab sie betont fröhlich zurück. »Guten Morgen!«
»Ich habe dich rufen hören. Brauchst du etwas?«
»Nein, Wilhelm, danke. Ich komme gleich runter.« Kummer riss an ihrer Stimme. Sie hörte es selbst, konnte aber nichts dagegen tun.
Ihr Schwiegervater entfernte sich, und Marle wandte sich vom Fenster ab. Sie zog ein Paar Jeans an und streifte ein T-Shirt über. Seit mehr als zwei Jahren kleidete sie sich so. Im Winter ein Pulli zu den Jeans, im Sommer ein leichtes Hemd. Als Konstantins Freundin und spätere Ehefrau hatte sie einen eleganten Look gepflegt. Hosenanzüge, Zweiteiler, und für die Feste in der feinen Hamburger Gesellschaft natürlich geschmackvolle Abendroben. Vor dieser Zeit jedoch hatte sie Kleider geliebt. Bunt und geblümt, mit weiten Flatterröcken und in allen denkbaren Längen. Einen ganzen Schrank voll hatte sie besessen. Ihre Kolleginnen in der Kita hatten sie liebevoll »Hippiegirl« genannt und behauptet, sie sei eine Zeitreisende aus den Sechzigern.
Marle lächelte bei der Erinnerung. Manchmal fehlte ihr die Arbeit. Sie vermisste das glockenhelle Kinderlachen, die strahlenden Augen, die unschuldige Neugierde auf die Welt. Sogar der Stress ging ihr ab. Wenn einige Kinder einen schlechten Tag hatten, andere kränkelten, wenn schlechtes Wetter einen Ausflug unmöglich machte, wenn sie länger arbeiten musste. All das war ihr Leben gewesen, und sie hatte sich nützlich gefühlt.
Vorbei. Sie würde nie wieder die Kraft für diesen Job haben. Und sie könnte es auch nicht ertragen, Kinder um sich zu haben, weil sie .
»Schluss jetzt!«, sagte sie laut. Solche Gedanken waren verboten. »Ich will nur an den heutigen Tag denken!«
Manchmal half es, sich selbst Befehle zu geben. Manchmal hatte Marle dann wirklich ein paar Stunden Ruhe vor den Erinnerungen.
Sie schlüpfte in flache Sandalen und band ihre rotblonden Haare zu einem lockeren Knoten.
Heute war ein wunderschöner Frühsommertag. Sie würde mit ihrem Schwiegervater frühstücken und dann mit ihm einen Spaziergang unternehmen. Unten am Strandweg, wo er am liebsten entlangging. Sie könnten bis zum Elbstrand laufen und sich zwei Sonnenliegen mieten. Es war schließlich Sonntag. Marle lächelte. Wilhelm war ein wunderbarer Mensch - der beste Schwiegervater, den sie sich hätte wünschen können.
Als sie ihr Zimmer verließ und die breite Marmortreppe nach unten lief, versank ihr Traum von Konstantin in ihrem Unterbewusstsein, und sie war bereit, den neuen Morgen anzugehen.
Der Frühstückstisch war im Wintergarten gedeckt. Er gehörte zu Marles Lieblingsorten im Haus. Die große Fensterfront ließ Licht und Wärme herein, eine gemütliche Sitzecke aus Korbmöbeln lud zum Entspannen ein, und ein langer Esstisch ermöglichte Mahlzeiten hier draußen, auch in der kalten Jahreszeit. In großen Kübeln wuchsen Zitronenbäume, Palmen und purpurfarbene Bougainvillea. Weißer Sternjasmin verströmte seinen betörenden Duft, und die Blätter von zwei kleinen Olivenbäumen schimmerten silbrig im Morgenlicht.
Mit leisem Missfallen bemerkte Marle feinstes Meißener Porzellan auf blütenweißem Damast. Auch silberne Kaffee- und Teekannen standen auf dem Tisch, dazu eine Kristallkaraffe mit frisch gepresstem Orangensaft, ein großer Korb voll mit Brötchen und Hörnchen, eine Schüssel mit Obstsalat, mehrere Gläser Marmelade, Honig, Butter sowie eine Aufschnittplatte, die für eine ausgehungerte Fußballmannschaft gereicht hätte.
Prompt drehte sich ihr der Magen um, und sie wusste jetzt schon, sie würde nichts hinunterbekommen.
Warum musste Olga auch immer so übertreiben? Olga Kowalsky war die Haushälterin ihres Schwiegervaters, und Marle verstand sich gut mit ihr. Die ältere Frau war inzwischen ihre einzige Freundin - aber beim Thema Essen waren sie sich niemals einig.
Marle gab Wilhelm einen Kuss auf die Stirn und setzte sich ihm gegenüber mit dem Rücken zur Fensterfront.
»Wir hätten auch draußen frühstücken können«, sagte sie. »Es ist ein warmer Tag.« Auf der Terrasse stand der Gartentisch hinter einigen Büschen, die die Aussicht verdeckten.
Wilhelm hob kurz die Schultern. »Olga meint, der Wind wäre noch ziemlich kalt. Du weißt ja, wie sehr sie um meine Gesundheit besorgt ist.«
Er selbst passte perfekt in dieses Ambiente. Zu einem gestärkten weißen Hemd trug er eine dunkelblau melierte Weste und eine maßgeschneiderte Leinenhose. Im Kragen steckte ein seidenes Halstuch. Sein einziges Zugeständnis an den Sonntag war das Fehlen eines Sakkos.
»Ja«, erwiderte Marle. »Sie verhätschelt dich. Kaffee, Tee und Toast würden völlig ausreichen.«
Wilhelm nickte leicht. Obwohl sie aus verschiedenen Welten stammten, waren sie beide von Natur aus bescheidene Leute. Marles Vater war dreißig Jahre lang Polier auf dem Bau gewesen, Wilhelms Vorfahren hatten den Reichtum der Familie mit dem Gewürzhandel begründet. Sie seien echte Hamburger Pfeffersäcke gewesen, erzählte er gern. Vor zweihundert Jahren wurden fast alle Gewürze der Einfachheit halber Pfeffer genannt, ganz gleich, ob es sich um Ingwer, Zimt, Nelken, Safran oder Kumin handelte. Und die Hamburger Kaufleute, die damit zu Geld kamen, hießen im Volksmund schnell Pfeffersäcke.
Allerdings hatte sich eine gewisse Protzsucht seiner Ahnen spätestens bei ihm selbst verloren. Wilhelm Severin war ein Mensch, der jegliche Verschwendung hasste. Seine Vorliebe für gute Kleidung war der einzige Luxus, den er sich gönnte. Nun saß er mit leicht erschrockenem Gesichtsausdruck vor dem viel zu reich gedeckten Tisch. Von Natur aus ein hagerer, groß gewachsener Mann, hatte er noch nie zur Völlerei geneigt.
Marle legte sich eine Serviette auf den Schoß und lächelte. »Gib es zu, dir reichen eine Banane und ein halbes Brötchen mit Orangenmarmelade.«
Wilhelm erwiderte das Lächeln, und sein gütiges Gesicht legte sich in hundert Falten. »Stimmt, Liebes. Und dazu drei Tassen Earl Grey. Aber wie um...
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