Schweitzer Fachinformationen
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Avalon
Mårten ist nicht da, als ich nach Hause komme. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: Bin zu meinen Eltern gefahren.
Ich nutze die Gelegenheit für einen Besuch bei meiner kleinen Schwester. Fia wohnt mit ihren Lebenspartnerinnen Avalon und Jenny in einem gelben Backsteinhaus in Garpenberg. Bis vor drei Monaten hieß Avalon noch Nils, ehe er überraschend seinen Namen geändert hat. Ich hab nie verstanden, wieso das polyamouröse Trio ausgerechnet nach Garpenberg gezogen ist, zu den Bergarbeiterfamilien und einsamen Rentnern. Der Tratsch über die ungewöhnliche Familienkonstellation hatte es wahrscheinlich längst über die Stadtgrenze hinaus geschafft. Und gerade in kleineren Orten gibt es ja oft die unschöne Tendenz, die Dinge zu verzerren, bis irgendwann niemand mehr weiß, was wahr ist und was nicht. Aber das Wohnen ist dort billig.
Der Volvo kämpft sich die lange Steigung nach Garpenberg hoch. Jemand hat mit schwarzem Isolierband ziemlich treffend Gänsefüßchen um das »Zentrum« auf dem Hinweisschild geklebt, das nur noch mit einer Pizzeria aufwarten kann, nachdem der Lebensmittelladen zugemacht hat. Ich biege in eine Straße ein, die sich zwischen in der Dämmerung eingekuschelten Einfamilienhäusern vorbeischlängelt, vor denen in der Straßenbeleuchtung Ausschnitte von Familienleben in Form von Kinderrädern, Trampolinen und Bandytoren zu sehen sind. Im Hintergrund ist der Bergwerksee, aber der ist im Dunkeln nicht zu sehen.
In Fias Garage brennt Licht. Dort verbringt sie ihre Tage mit dem Reparieren kaputter Auspuffrohre oder dem Einbau neuer Schalldämpfer in Autos oder Motorräder. Sie tritt aus einer Seitentür ins Freie und bleibt im gelben Lichtkegel der Außenlampe stehen. Sie trägt das schwarz gefärbte Haar kurz und die Piercings an ihrem rechten Ohr scheinen sich seit unserem letzten Treffen vermehrt zu haben. Eine Wange schmückt ein Ölfleck, ihr drahtiger Körper steckt in einem weiten blauen Overall. Ist sie noch dünner geworden? Ich muss aufhören, ständig nach Zeichen Ausschau zu halten, wie es Fia geht, die Mama zu spielen. Aber während ihrer chaotischen Teenagerjahre habe ich mich so verdammt verantwortlich für sie gefühlt, dass ich es nur ganz schlecht ablegen kann.
Fia wischt sich die Hände an einem Lappen ab.
»Sis! Du hier?«
Ich steige auf einen mit Sand bestreuten Eisfleck aus dem Auto und nehme sie in den Arm. Ihre Wirbelsäule fühlt sich hart an auf meinen Unterarmen.
»Ich brauchte mal Tapetenwechsel.«
»Ist was passiert?«
Ich blähe die Backen auf und puste die Luft langsam wieder aus. Jetzt ist nicht Fia das Sorgenkind, sondern ich.
»Ich hab zu Mårten gesagt, dass ich eine Auszeit brauche.«
»Holy shit. Ich setz Kaffee auf. Avalon ist leider nicht zu Hause.«
Bedauerlich, die Chance auf einen Vortrag über Drachen und Dämonen zu verpassen von einem 39-Jährigen in zu engen Hosen und dem Tattoo eines schuppigen Orks am Hals.
»Aber Jenny ist da«, sagt Fia und geht zum Haus.
Ihr Garten sieht ungefähr so aus wie unserer um diese Jahreszeit, eine traurige Mischung aus Schlamm, Schneeresten und kahlen Büschen, die das Gefühl vermitteln, dass es nie mehr Frühling wird.
Jenny, die immer gute Laune zu haben scheint, strahlt uns an, als wir in den Flur kommen. Eine schwarze Katze, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann, streckt sich und springt vom Fensterbrett.
»Hallo, Annie! Wie ist das Leben?«
Jenny, die auf die Waldorfschule gegangen ist, überspringt galant den Small Talk und steigt direkt auf die Gefühls- und Erlebnisebene ein. Sie trägt eine Latzhose mit aufgenähtem Herzflicken auf dem linken Knie und hat sich einen bunten Schal ums Haar gebunden. Als Handarbeitslehrerin bringt Jenny das halbe Haushaltseinkommen heim. Für die andere Hälfte steht Fia. Als Fia sich aus ihrem Overall schält, sieht sie weder dünner noch dicker aus als sonst. Dann geht es ihr offensichtlich gut.
»Und wo steckt Avalon?«, frage ich, um nicht auf die Frage antworten zu müssen, wie es mir geht. »Hat er endlich einen Job gefunden?«
»Er macht einen Silberschmiedekurs in Hedemora«, sagt Fia. »Das hier hat er selbst geschmiedet.«
Sie dreht an einem Ring und mein Herz beginnt schneller zu schlagen, bis ich sehe, dass er am kleinen und nicht am Ringfinger sitzt. Die Verlobung von meiner Schwester und Avalon wäre in meinem momentanen Zustand nur schwer zu verarbeiten.
Jenny streckt ihre Hand aus und zeigt einen genauso individuellen Silberring an ihrem Daumen.
»Schön«, sage ich und versuche, einigermaßen überzeugend auszusehen. Ich drehe meinen Ehering am Ringfinger, wie immer, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll. Legt man den Ring während einer Auszeit ab? Wenn Mårten und ich das tatsächlich machen sollten. Das fühlt sich alles so unwirklich an.
»Wir wollten gerade Pizza bestellen«, sagt Jenny. »Magst du auch eine?«
»O Gott, gerne. Mårten foltert mich mit seinen Smoothies.«
»Wir haben auch Rotwein.«
Ich will gerade abwinken, weil ich morgen arbeiten muss, aber dann fällt mir ein, dass ich ja am Mittwoch freihabe.
»Kann ich auf euerm Sofa übernachten?«
Fia streckt den Daumen hoch.
»Das weißt du doch.«
Zwei Stunden später liegt mir die Pizza schwer im Magen. Avalon ist von seinem Kurs nach Hause gekommen und führt uns den Embryo vor, der, wie ich vermute, ein Kerzenständer sein soll. Ich habe es mir auf dem weichen Cordsofa gemütlich gemacht und nippe an meinem Wein. Avalons Stimme klingt ein bisschen wattig, weit weg, obwohl er am anderen Ende des Sofas sitzt. Sein dickes rotes Haar wippt auf seinem Kopf und das Leinenhemd schlägt Wellen, als er über dem Couchtisch gestikuliert. Die Mädels sitzen aneinandergekuschelt in der Mitte und lauschen interessiert. Wie halten die das bloß aus?
»O Gott, ich bin meinen Job auch so leid«, sage ich und stelle das Weinglas so energisch auf dem Tisch ab, dass es überschwappt. Die roten Flecken werden augenblicklich von dem dunklen Holz aufgesogen, weshalb ich mir nicht die Mühe mache, einen Lappen zu holen.
»Ich bin noch nicht fertig, Annie«, sagt Avalon. Er hält die Unterseite des Kerzenständers ins Licht und zeigt uns eine Art Signatur.
»Ist der fertig?«, frage ich.
»Wie meinst du das?«
»Was ist das?«
»Wie - was ist das?«
»Na ja, was soll das darstellen?«
Avalon legt die Stirn in Falten.
»Darauf antworte ich dir, wenn du wieder nüchtern bist.«
Er verlässt den Raum mit seinem Silberembryo in der Hand. Das Knarren der Treppe in die obere Etage ist zu hören. Jenny steht auf und geht hinter ihm her.
»Ist er jetzt eingeschnappt?«
Fia zuckt mit den Schultern.
»Er ist sehr empfindlich, was seine Kunst angeht.«
Kunst? Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht zu lachen, aber als ich zu meiner Schwester schaue, sehe ich ihr Grinsen.
»Er wird drüber wegkommen«, sagt sie. »Aber was willst du stattdessen machen? Wenn du deinen Job so leid bist? Und Mårten.«
»Ich kann genau genommen nichts anderes als mobile Altenpflege und Bus fahren. Aber ich glaube nicht, dass ich den Nerv habe, wieder als Busfahrerin zu arbeiten, das war ein ziemlicher Druck und so öde, fünfmal am Tag die gleiche Strecke zu fahren. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich will.«
»Mmh. Aber wenn ihr euch scheiden lasst, nimmst du auf alle Fälle deinen Mädchennamen wieder an, oder?«
Wir haben bei unserer Hochzeit Mårtens Familiennamen Grefling angenommen, weil ich ihn interessanter als Andersson fand.
»Ich glaube nicht, dass wir uns scheiden lassen. Das ist bestimmt nur eine vorübergehende Flaute. Ich weiß nicht genau, was mit mir ist, und ich weiß, dass ich wie ein Teenager klinge.«
Meine Schwester dreht an ihrem Ohrring wie ich an meinem Ehering.
»Könnte das vielleicht daran liegen, dass du nie ein richtiger Teenager warst?«
Vielleicht liegt es am ungewohnten Weinkonsum oder daran, dass ich nie in solchen Bahnen gedacht habe. Aber Fia hat recht und jetzt kommen mir wirklich gleich die Tränen. Ich war nicht wie die anderen Teenager, war keine Rebellin und hab nicht im Folkets Park mit meinen Freunden gesoffen. Ich bin nie von zu Hause abgehauen. Und ich erinnere mich nicht, dass ich jemals eine einzige Tür so geknallt habe wie Simon dreimal täglich, bevor er in sein Snowboard-Gymnasium in Malung gezogen ist. Stattdessen saß ich mit Fia auf der Rückbank im Auto und hab über Kopfhörer Musik gehört, während wir gewartet haben, dass Mama und Papa aus dem Krankenhaus kamen. Ich habe meine Wange an die kalte Seitenscheibe gedrückt und in den Dunst auf dem Glas geschrieben: Mama muss gesund werden. Und danach habe ich mich dann um Fia gekümmert. Ich habe mich für sie verantwortlich gefühlt, wenn sie mal wieder unterwegs war und nicht nach Hause kam.
»Ich weiß«, sagt Fia und rückt näher an mich heran, legt den Kopf an meine Schulter und tätschelt meinen Oberschenkel. »Das macht mich jedes Mal ganz traurig, wenn ich daran denke.«
»Hm.« Ich ziehe die Nase hoch.
»Aber du bist wieder gesund. Und du hast jede Menge Möglichkeiten.«
»Wenn ich nur nicht so müde wäre.«
»Ich hole dein Bettzeug.«
Fia versteht nicht, dass ich nicht müde im Sinne von Schlafmangel meine, sondern die andere, größere Müdigkeit. Den Hirnnebel, die zähen Stunden bei der Arbeit, der Körper, der sich einfach...
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