Schweitzer Fachinformationen
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Ich kniete auf dem Boden unseres Wohnzimmers. Um mich herum stapelten sich Pullover, Halstücher, ein Schmuckdöschen und Parfumflakons, Socken, eine Krawatte und jede Menge Spielsachen. Daneben weihnachtliches Geschenkpapier, bunte Bänder, Schere und Tesafilm. Ich war dabei, die Weihnachtsgeschenke für meine beiden Töchter Debbie und Sandy und für meine Enkel Christopher und Jason zu verpacken; da sie in den USA leben, mussten die Pakete rechtzeitig abgeschickt werden, damit sie, wie es in den Staaten Brauch ist, rechtzeitig am Morgen des 25. Dezember unter dem Christbaum liegen. Mein Mann Alex hatte es sich mit einer Zeitschrift auf unserer Couch gemütlich gemacht und nippte an einer Tasse Tee. Vor uns prasselte das Kaminfeuer, und hin und wieder warf Alex mir einen amüsierten Blick zu und schmunzelte über meine vorweihnachtlichen Aktivitäten. »Soll ich lieber das Papier mit den Engeln oder das mit dem Nikolaus auf dem Schlitten nehmen?«, fragte ich ihn gerade, als das Telefon klingelte. »Egal, nimm am besten das mit dem Nikolaus. Guck mal, da sind sogar Schneeflocken drauf - wer weiß, vielleicht schafft das ja ein bisschen europäische Weihnachtsstimmung bei den Kindern, wo doch in Arizona kein Schnee fällt«, riet mir mein Mann und erhob sich, um zum Telefon zu gehen. Ich schenkte dem Anruf zunächst keine Beachtung. Erst als mein Mann sagte: »Sandy, jetzt mal ganz langsam!«, horchte ich auf. Er winkte mir aufgeregt. Als ich neben ihm stand, hielt er mit einer Hand die Sprechmuschel zu und flüsterte: »Christopher ist verschwunden!«
Ich fühlte einen dicken Kloß im Hals und riss ihm sofort den Hörer aus der Hand. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, sprudelte meine Tochter Sandy aufgeregt los: »Mom, Christopher ist weg. Debbie ist total verzweifelt, weil die Polizei ihn schon seit Stunden sucht und er wie vom Erdboden verschluckt ist. Sogar die Nachbarn und ihre Freunde durchkämmen inzwischen die Metro Hall, aber er ist einfach weg! Ich mach' mir solche Sorgen, vielleicht ist er ja entführt worden .« Ich musste den Redeschwall meiner Tochter unterbrechen, weil es mir schwerfiel, den Zusammenhang herzustellen. »Sandy, Moment mal, ich verstehe gar nichts. Was ist passiert? Fang bitte noch mal von vorne an, aber ganz langsam.« Meine Tochter war völlig aufgelöst, schaffte es aber, mir die Situation einigermaßen verständlich darzulegen. Mein vierjähriger Enkel Christopher, Sohn meiner Tochter Debbie, war am Morgen mit Jim Styers, bei dem Debbie zur Untermiete wohnte, in die Stadt gefahren, um den Weihnachtsmann zu sehen. Die beiden wollten in die Metro Hall, wo in der Adventszeit ein Weihnachtsmann kleine Geschenke an die Kinder verteilte und man ein Foto mit ihm machen lassen konnte. Christopher war, wie die meisten Kinder seines Alters, völlig fasziniert von dieser Figur, und seine Begeisterung für den Weihnachtsmann war kaum zu bremsen.
Nach Sandys Schilderungen war Christopher ganz plötzlich verschwunden. Jim Styers hatte die Polizei alarmiert, weil er das Kind nicht mehr auffinden konnte. »Gibt es wenigstens schon irgendeine Spur?«, fragte ich Sandy. »Keine«, lautete ihre Antwort, und das Fünkchen Zuversicht, das gerade in mir aufflackern wollte, erlosch sofort wieder. »Und wie geht es Debbie?«, war meine nächste Frage. Ich machte mir große Sorgen um meine Tochter, die in den vergangenen Monaten eine schwere Zeit hinter sich gebracht hatte. »Nicht gut«, war Sandys ehrliche Antwort. »Kannst du sie nicht anrufen? Vielleicht schaffst du es ja, sie zu beruhigen. Sie ist völlig mit den Nerven am Ende und weint nur noch.«
Meine Hände zitterten, als ich den Telefonhörer auflegte. Ich fühlte mich elend, mein Kopf war leer, meine Arme und Beine wurden so schwer, dass ich mich setzen musste. Sandy hatte es zwar am Telefon nicht ausgesprochen, aber wahrscheinlich hatte auch sie gleich den Gedanken an Debbies Exmann, Mark Milke, im Kopf gehabt. Er war Christophers Vater und hatte seit Jahren große Drogenprobleme. Meine Tochter hatte aus diesem Grund nach ihrer Trennung von Mark das alleinige Sorgerecht bekommen und durchgesetzt, dass Mark sein Besuchsrecht nur unter Aufsicht wahrnehmen durfte. Erst vor wenigen Monaten hatte Debbie ihren Exmann zusammen mit dessen Freunden im Drogenrausch vorgefunden, als sie Christopher bei seinem Vater abholen wollte. Mark hatte sich geweigert, Christopher herauszugeben, und Debbie sogar tätlich angegriffen. Zum Glück war es ihr schließlich gelungen, mit ihrem weinenden und völlig verstörten Kind aus dem Haus zu flüchten. Aber Mark tobte und hatte gedroht, Christopher zu entführen und Debbie umzubringen. Eigentlich traute ich Mark diese Tat nicht zu; ich wusste, er liebte seinen Sohn und würde ihm - zumindest im nüchternen Zustand - sicher nichts antun. Aber konnte ich auch sicher sein? Vielleicht hatte er seine Drohung nun doch wahr gemacht? Ich schauderte, als ich an meinen kleinen Enkel dachte. Vier Jahre war er erst alt - und noch so zart und verletzlich. Ich musste mit Debbie reden.
Es hatte kaum geklingelt, als Debbie schon am anderen Ende abhob. »Debbie? Ich bin es, Mom. Was um alles in der Welt ist denn passiert?« Sie schluchzte laut auf, im Hintergrund hörte ich Stimmen. »Mom, Christopher ist weg und wir haben einfach keine Ahnung, wo er sein könnte«, weinte sie. »Die Polizei ist hier, vielleicht ist er ja entführt worden! O Gott, ich weiß nicht, was wir tun sollen. Ich muss Schluss machen - die Entführer, vielleicht rufen sie an und wollen mit mir reden.« Debbie war völlig hysterisch. Ich hatte Verständnis dafür, dass wir die Leitung nicht so lange blockieren konnten, und versuchte trotzdem, beruhigend auf sie einzureden. »Du wirst sehen, Christopher taucht bestimmt bald auf. Vielleicht wollte er nur Verstecken spielen oder ist irgendwo mit anderen Kindern in ein Spiel vertieft. Denk noch mal scharf nach. Wo geht er denn am liebsten hin? Gibt es keinen Ort in der Metro Hall, an den du dich besonders erinnern kannst?« Ich konnte nicht abschätzen, ob meine Tochter in ihrer Verzweiflung in der Lage war, meine Worte aufzunehmen und zu begreifen. Deshalb bat ich sie, mir kurz den zuständigen Detective zu geben. Als der Beamte am Telefon war, fragte ich ihn, ob sie schon Näheres wüssten. Er verneinte und konnte mir nur sagen, dass mehrere Polizisten, Nachbarn und Freunde das Einkaufszentrum, in dem Christopher verschwunden war, nach ihm durchforsteten. Debbie, so versicherte er mir, sei sehr kooperativ, sie habe Fotos des Kindes herausgesucht und beantworte bereitwillig alle Fragen, die man ihr im Augenblick leider stellen müsse. Jim Styers und Roger Scott, die beiden Männer, die Christopher begleitet hatten, würden im Moment vernommen. An den Namen Roger Scott konnte ich mich nur vage erinnern, Debbie hatte ihn einmal in einem Brief als Bekannten von Jim Styers erwähnt. Ich wunderte mich, da ich zu wissen meinte, dass er ihr ausgesprochen unsympathisch war und sie jeden Kontakt mit ihm vermied. Da ich aber die Telefonleitung wieder frei machen wollte, verzichtete ich darauf, genauer nachzufragen. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Christopher zu finden!«, versicherte mir der Detective. Ich gab ihm noch meine Telefonnummer mit der Bitte, mich sofort zu verständigen, wenn es Neuigkeiten gäbe. Uns blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
In dieser Nacht war nicht an Schlaf zu denken. Mein Mann versuchte immer wieder, mich zu beruhigen, und ich rief alle zwei Stunden bei Debbie an, um mich zu erkundigen, ob man Christopher schon gefunden hatte. Von Mal zu Mal war sie verzweifelter. Das stundenlange Warten auf einen erlösenden Anruf zermürbte sie. Sie klammerte sich an ihre Hoffnung, dass es Christopher - falls er entführt worden war - gelang anzurufen, da er seine Adresse und Telefonnummer auswendig kannte.
Bei unserem letzten Gespräch, am Nachmittag des darauf folgenden Tages, teilte sie mir mit, dass Maureen, die zweite Frau ihres Vaters, und ihre Stiefschwester Karen bei ihr seien. Debbie hatte seit Stunden weder geschlafen noch etwas gegessen. Die beiden versuchten sie zu überzeugen, dass es besser wäre, mit nach Florence zu ihrem Vater - meinem Exmann - Richard »Sam« Sadeik und dessen Familie zu fahren. Auch die Polizisten rieten ihr dazu, da sie im Augenblick nichts mehr tun konnte. Es beruhigte mich ein wenig, sie nicht mehr allein zu wissen. Mein Mann Alex überredete mich irgendwann, ins Bett zu gehen, und ich fiel in einen leichten, nervösen Schlaf, aus dem ich immer wieder hochschreckte.
Vorsorglich hatte ich mir das Telefon bereits neben das Bett gestellt und war sofort hellwach, als es Stunden später wieder klingelte. Sandys Mann Ron meldete sich. Seine Worte werde ich, wie so vieles, was in den folgenden Stunden und Tagen geschehen sollte, niemals vergessen: »Sie haben Christopher in der Wüste gefunden. Er ist tot.«
In diesem Augenblick verließen mich alle Kräfte. Ich brach am Telefon völlig geschockt zusammen und war nicht einmal Stunden später in der Lage zu weinen. Wie in einem Film spulten sich Bilder aus Christophers kurzem Leben vor meinem inneren Auge ab. Noch vor wenigen Wochen hatten mein Mann Alex und ich unseren Jahresurlaub in den USA verbracht und Debbie und Christopher in Phoenix besucht. Sie hatten uns beide am Flughafen abgeholt, und mein vierjähriger Enkel war hinter der Absperrung immer wieder auf und ab gehopst vor lauter Ungeduld. Zur Begrüßung war er mir um den Hals gefallen; ich konnte seine kleinen Arme noch um meinen Oberkörper spüren. Er war ein Kind, das Liebe aufsog wie ein Schwamm, und...
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