Schweitzer Fachinformationen
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Hamburg März 2002
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Der Sommer war die Zeit der vielen Mücken, der sternenklaren Nächte und der schwülen Tage. Ihm ging Renées und mein Frühling voraus. Er würde mir immer als unser Frühling in Erinnerung bleiben, die einzigartigen Momente, die sich heraushoben aus der langen Reihe endloser Apriltage: Renées Augen, dunkel vor Begierde, Gier nach meinem Atem, meinen Händen, meiner Haut. Doch zu mehr reichte ihre Lust nicht aus. Es wurde der Sommer, in dem ich sie verlor, der Sommer, in dem ich Miriam begegnete. Und mir selbst.
Mit Barcelona verband ich im März nicht mehr als einige verblasste Erinnerungen und ein paar Postkartenmotive. Zwar war mein Vater Spanier, doch ich hatte lediglich dreimal die Sommerferien dort verbracht, und zwar lange bevor ich auf das Gymnasium überwechselte. Seit meinem neunten Geburtstag war die Herkunft meines Vaters in unserem Hause tabu. Meine Mutter litt an Migräne, die immer dann einsetzte, wenn Themen zur Sprache kamen, die ihr Unbehagen verursachten, und die Familie ihres Mannes gehörte dazu. Wahrscheinlich zog die temperamentvolle Lebensfreude meine Mutter, die ihr Leben lang unterkühlt und beherrscht wirkte, magisch an und stieß sie gleichzeitig ab.
Ich war fünfundzwanzig Jahre alt. Wir lebten in Hamburg, wo mein Vater als erfolgreicher Anwalt für Steuerrecht arbeitete. Meine Kindheit verbrachte ich in einer perfekten Illusion von Geborgenheit, inmitten einer Vorortidylle. Sorgfältig gehätschelte Rosenrabatten und penibel gestutzte Hecken machten die Gedanken träge, und meine Eltern besaßen sehr genaue Vorstellungen davon, was richtig und was falsch war. Als ich meinen Wunsch, Malerin zu werden, erst einmal durchgesetzt hatte, verplanten sie mein Leben auf Jahre: Privatlehrer, Kunsthochschule, anschließend Praktikum in der Werbeagentur eines Geschäftsfreundes meines Vaters. Das Gefühl zu ersticken wuchs langsam, aber stetig.
Im Jahr 1999 starb mein einziger Bruder durch einen Autounfall.
Meine Mutter lebte weiter wie zuvor, indem sie alles verdrängte - die Trauer, die Wut, selbst seinen Tod. Ihr Tagesablauf war minutiös geplant, die Rituale gaben ihr Halt und ließen keinerlei Spielraum: um elf Uhr Friseur, um zwölf Uhr dreißig Essen mit ihrer besten Freundin, um vierzehn Uhr Tennis oder Golf, um siebzehn Uhr fünfzehn ein Bad, um zwanzig Uhr eine Theateraufführung, ein Konzert oder eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Ihre Perfektion war bewundernswert und beängstigend zugleich.
Mein Vater spielte mit, so gut es ging. Er liebte sie abgöttisch, und wenn er weinen wollte, zog er sich in die Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers zurück. Er tat stets, was sie verlangte, und begriff nicht, dass sie ihn mit den Jahren gerade dafür zu verachten begann. Die Blicke, die sie ihm beim Frühstück zuwarf, sprachen Bände, doch er schien sie nicht zu bemerken. Ich verspürte oftmals den Drang, ihn anzuschreien - »Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!« -, doch es gelang mir nicht, mein Schweigen zu durchbrechen, viel zu tief war ich in meiner eigenen Trauer gefangen, viel zu sehr durch das fehlende Interesse an mir selbst verletzt. Nach außen waren wir die perfekte Familie. Nach innen herrschte nichts als Schweigen und Lüge.
Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass meine Mutter die Beherrschung verlor. Drei Tage hatte ich in meinem Zimmer gesessen, wortlos, ohne zu essen, die immer gleiche CD auf »Repeat« gehört, eine Zigarette nach der anderen geraucht, den Blick starr auf die weiße Wand gegenüber meinem Bett gerichtet. Es war der Zeitpunkt, zu dem ich begann, das Gesicht meines Bruders zu vergessen. Ich verspürte deswegen ein Schuldgefühl, das mich völlig lähmte. Schließlich stürmte meine Mutter in mein Zimmer. Ihre Stimme überschlug sich vor Hysterie: »Was denkst du, was du hier tust, Elena?«
Sie zog den Stecker meiner Stereoanlage heraus, und die plötzliche Stille war unerträglich laut, mein schneller Atem auf einmal hörbar, ihr Schluchzen, als sie die Hände vors Gesicht schlug. Ich starrte sie an, sprachlos, sah sie zum ersten Mal seit langer Zeit, ihre Hände, die alt geworden waren in den letzten Jahren.
»Kannst du dich noch an seine Augen erinnern?«
Meine Stimme rauh und kratzig, ungeübt. Sie erwiderte meinen Blick, eine Sekunde, vielleicht auch zwei, dann drehte sie sich um und ging wortlos hinaus. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass ich sah, dass sie etwas fühlte - ich sah, wie verletzbar sie hinter ihrer Maske der Normalität war.
Doch von Stund an begegneten wir uns wie Fremde. Sie versank in einer mehrere Tage anhaltenden Migräneattacke, während mein Vater mich stumm und schuldbewusst ansah. Vielleicht hasste sie mich, weil ich ihre Schwäche gesehen hatte; vielleicht war es ihr aber auch gleichgültig, was ich über sie erfahren hatte. Mit Olivers Tod schienen meine Eltern jedes Interesse an mir verloren zu haben. Manchmal denke ich allerdings, dass es vorher nicht anders gewesen war, ich es nur nie hatte wahrhaben wollen, weil ich ihn so sehr liebte.
Es fiel ihnen nicht auf, dass ich längst keinen Freund mehr mit nach Hause brachte, und ich verspürte keine Lust, ihnen von meiner Liebe zu Frauen zu erzählen, zumal meine Beziehungen so flüchtig waren, dass es kaum lohnte, ihretwegen das Schweigen zu brechen. Ich fand es ganz normal, sich nach einer kurzen Phase von Lust und Verliebtheit zu verabschieden, nichts anderes erlebte ich Woche für Woche in den Bars und Cafés. Einige Drinks zusammen, ein Abendessen vielleicht, schließlich miteinander ins Bett und dann die Trennung, wenn der Hunger auf die Haut der anderen nachließ. Mir ging es nicht einmal schlecht dabei. So dachte ich zumindest.
Anfang März besorgte mir eine Freundin eine Karte für das Konzert einer damals ziemlich angesagten Band. Das Event war seit Wochen ausverkauft, doch meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, als ich am Freitagabend in die U-Bahn stieg. Der dämmrig-graue Himmel trug nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben, und die Menschenmassen im Waggon, ein Vorgeschmack auf die überfüllte Halle, machten mich zunehmend aggressiv.
Als ich mich in der Menge endlich halbwegs nach vorn gedrängelt hatte und einer durchgestylt wirkenden Vorband lauschte, sah ich sie zum ersten Mal. Sie stand gut zwei Meter rechts von mir, ihr knallrotes Haar leuchtete im Scheinwerferlicht. Sie wippte leicht auf den Zehenspitzen im Takt der Musik, sang halblaut mit und sah dabei unverschämt glücklich aus. Ich versuchte unauffällig, näher an sie heranzukommen, was mir nach einer Weile hartnäckigen Schiebens auch gelang. Nun standen wir Arm an Arm, nur wenige Millimeter voneinander entfernt, und als die Hauptgruppe die Bühne betrat, war ich mit meinen Gedanken überall, nur nicht bei der Musik.
Zwei oder drei Mal lächelte sie mich von der Seite an, und ich lächelte zurück und spürte, wie allmählich eine Spur ihres Glücksgefühls auf mich abfärbte. Weit weg schienen die Eiseskälte daheim und der Alltag an der Uni, weit weg selbst die allgegenwärtige Trauer seit Olivers Unfall.
»Gut, oder?«
Ihre Stimme in meinem Ohr, laut und rauh. Ich nickte nur. Jede weitere Antwort war bei der Lautstärke zwecklos.
Als die Lichter in der Pause angingen, drehte sie sich zu mir um und lächelte mich an. »Ich heiße Renée.«
»Elena.«
»Bist du immer so schweigsam, Elena?«
Das Lächeln in ihren Augen vertiefte sich.
»Nein.«
Sie griff in die Hosentasche, zog einen Zettel und einen Stift hervor und kritzelte eilig etwas nieder.
»Hier - ich würde mich freuen.«
Eine Telefonnummer, weiter nichts. Als ich aufsah, war sie schon fort und blieb für den Rest des Konzertes verschwunden, so sehr ich auch den Hals nach ihr reckte.
Auf dem Heimweg, gedankenversunken, festigte sich bereits das Gefühl, mich verliebt zu haben. Das Entscheidende daran war, dass ich mich verlieben wollte und dass ich mir dessen vollauf bewusst war. Vielleicht wäre damals jede die Richtige gewesen, solange sie mir nur das Gefühl gab, besonders zu sein. Ein dringend ersehnter Kontrapunkt zu der Gleichgültigkeit, die zu Hause herrschte, eine Bestätigung, die meine Unsicherheit aufwog, die alles umfasste, allem voran meine Gefühle, meine Träume. Ich schätze, an diesem Anspruch wäre jede Frau gescheitert.
In der Küche brannte Licht. Meine Mutter saß am Tisch und erwartete mich, was sonst nie passierte. Meistens gingen wir uns aus dem Weg. Wir waren so verschieden, wie zwei Menschen es nur sein können, und nicht bereit, unsere Enttäuschung darüber, dass wir offensichtlich nicht die gleiche Sprache sprachen, zu verbergen.
»Und - war es nett?« fragte sie, bemüht freundlich. Sie wirkte verändert, ihre Gesichtszüge entspannter als sonst, beinahe weich.
Ihre kühle Reserviertheit hatte meine ganze Kindheit geprägt, ihre absolute Beherrschtheit, die sie davon abhielt, fröhlich und ausgelassen und spontan zu sein, so wie ich es in Barcelona mit meinem Vater gewesen war. Ihr furchtsames Zurückschrecken vor allem Leben trieb sie immer tiefer in ihre Migräne, die ihr gleichzeitig eine wirksame Waffe gegen die Wünsche meines Vaters in die Hand gab.
Ich ging zur Spüle, füllte ein Glas bis zum Rand mit Wasser und trank es in einem Zug aus.
»Ganz okay«, antwortete ich und wandte mich zum Gehen.
»Elena?«
»Was ist?«
Meine Stimme lauter als nötig.
»Nichts.«
Wieder verfiel sie in ihr Schweigen und verknotete hilflos die Finger ineinander. Diese Geste war so untypisch für meine Mutter, dass ich aufmerkte.
»Ist Vater noch nicht...
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