Schweitzer Fachinformationen
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Warum ihm der Vogel im Rinnstein aufgefallen war, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, war ihm doch der Anblick toter Tiere in diesem Land, in dem man seit jeher über das Sterben gnädig hinweggeblickt hatte, dafür aber umso inniger den Tod zu feiern verstand, durchaus geläufig: jeden Freitag, wenn er, um in sein Wochenendhaus zu gelangen, die Calzada Ermita Iztapalapa und danach die Carretera Federal Mexico-Puebla hinausfuhr, vorbei an den ausufernden Stadtrandsiedlungen mit ihren fahlen Beronkolossen, den Werkstätten, die oft nur aus einfachsten Wellblech- und Bretterbuden bestanden, den Schwarzbauten aus zusammengestohlenen Ziegeln und den engen, staubigen Gassen, auf denen die Kriminalität gedieh wie ein ansteckender Virus, sah er dutzende Kadaver halbverhungerter Köter am Straßenrand liegen, aufgebläht oder zerhackt von den Schnäbeln unverschämter Vögel, die sich auf ihrer Suche nach Nahrung immer tiefer in die Stadt vorwagten (ein Anblick, der eine arbeitsreiche und meist von Streß und Ärger mit unfähigen oder unwilligen Kollegen und Handgeld erwartenden Beamten geprägte Woche beendete und den er sich bei der Rückfahrt nach einem erholsamen Wochenende ersparte, weshalb er immer erst spätabends heimkehrte, wenn die Nacht die Sicht auf die dunklen, meist nicht oder nur unzureichend elektrifizierten Viertel nahm); alle paar hundert Meter lag ein toter Hund auf dem Schorterstreifen neben der Fahrbahn, manchmal auch eine Katze oder ein anderes nicht mehr identifizierbares Tier, und wenn er bedachte, mit welch stumpfen, fiebrigen Blicken diese Kreaturen die Straßen entlangtrotteten, auf den Beinen gehalten nur noch vom Wunsch, irgend etwas Preßbares zu finden, und sei es ein Papier, das man gierig ausschlecken konnte, und wie sie unvermittelt, ohne auf den vorbeirollenden Verkehr zu achten, die Straßenseite wechselten, dann wunderte ihn die Zahl der von Autos überfahrenen Hunde nicht mehr, die in diesem Land in die Tausende gehen mußte; wo auch immer er hinkam, es lagen tote Tiere in den Straßengräben, nur daß es auf den Überlandstrecken andere, größere waren, Ziegen, Schafe, Esel, auch an den aufgeblähten Kadaver eines Pferdes konnte er sich erinnern, auf dem diese schwarzen, krummschnäbligen Vögel hockten und in den leeren Augenhöhlen wühlten, die Ratten, die über den Körper huschten und an Haut- und Gewebefetzen zerrten, und die beiden Hunde, die sich um ein Stück rotes Fleisch stritten; und jetzt lag da vor ihm ein gewöhnlicher Vogel im Rinnstein, und ausgerechnet der hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
Er trat vom Gehsteig und schubste das tote Tier mit dem Schuh an. Bei Tieren kannte er sich nicht besonders aus, bei Vögeln schon gar nicht. Für eine Taube schien er ihm jedenfalls zu klein; wahrscheinlich zählte er zu jener Spezies, die in Scharen die Parkbäume bevölkerte und jeden Abend ein Gezeter anstimmte, als gelte es, den restlichen Lärm der Stadt zu übertönen. Er konnte auch keine Verletzungen erkennen. Der Vogel lag einfach da, Schnabel und Augen aufgerissen, als hätte ihn jemand erwürgt. Das Gefieder war aufgeplustert und nur wenig verschmutzt: der Vogel konnte also noch nicht lange hier liegen. Er schob das Tier mit dem Fuß unter einen Wagen, bis es nicht mehr zu sehen war. Dann ging er weiter.
Unten an der Kreuzung Balderas/lndependencia stieß er auf Guillermo, der gerade versuchte, eine Quesadilla in seinen Mund zu stopfen, ohne sich dabei anzupatzen.
¿Algo nuevo?
Guillermo konnte man fragen, worüber man wollte, er war immer auf dem laufenden und gab stets bereitwillig Auskunft.
Nur das Übliche. Der Peso fällt, die Arbeitslosigkeit steigt. Ansonsten gehts uns gut, wenn man Señor Presidente Glauben schenken darf.
¿Nada extraordinario?
¿A qué te refieres?
Keine Katastrophen? Kein Erdbeben? Nicht einmal ein Chemieunfall?
Guillermo hob den Kopf und glotzte ihn an, die Lippen rotverschmiert von der Salsa.
Ist was mit dir heute?
Nein, gar nichts. Ich dachte nur.
Guillermo verheimlichte etwas, soviel stand für ihn fest.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, drehte er sich noch einmal um: Guillermo war bereits im Menschengewühl des Metroeingangs untergetaucht.
An der Ecke Balderas/Victoria klingelte es. Instinktiv blieb er stehen, gerade noch rechtzeitig, um nicht von einem Radfahrer zusammengefahren zu werden, der, einen mindestens zwei Meter hohen Turm aus Zeitungen auf dem Gepäckträger balancierend, die Straße weiterschwankte und irgend etwas brüllte, was in dem Lärm zwar nicht zu verstehen war, er sich aber leicht zusammenreimen konnte.
Er atmete ein paarmal durch, wartete, bis sich das Trommeln in seinen Schläfen beruhigt hatte, und ging dann hinunter ins La Habana.
Enrique wartete bereits. Mehr als zwanzig Jahre kannten sie einander, aber noch nie war er in Enriques Wohnung gewesen; er kannte nicht einmal dessen Adresse, nur die Telefonnummer und sein Postfach. Man munkelte, er wohne in Lomas, aber das war wohl nur eine Spekulation, ein Gerücht, vielleicht von Enrique selbst in Umlauf gebracht, genauso fragwürdig und dubios wie seine Frauengeschichten und alles andere, was man sich über ihn erzählte.
¡Siéntate!
Enrique winkte mit seiner fleischigen Hand der Kellnerin und bestellte zwei Mokka.
Wenn man Enrique treffen wollte, brauchte man nur in eines der Lokale gehen, in denen er den Großteil seines Lebens zu verbringen schien; man mußte bloß wissen, wann er sich wo aufzuhalten pflegte: montags beispielsweise frühstückte er in der Casa de los Azulejos mit ein paar Verlegern und Redakteuren, Dienstag nachmittag und abend war er im Café der Librería Gandhi in Coyoacán anzutreffen (wo er sich allerdings nur ungern beim Schachspiel stören ließ), Mittwoch tingelte er abends durch die Cantinas südlich des Zócalo, die Donnerstage verbrachte er unter anderem im La Habana, Freitag fand man ihn im El Parnaso (lesend oder im Gespräch mit irgendwelchen Jungautoren und Verehrerinnen, deren Huldigungen er zwischen Cappuccini und flüchtiger Lektüre von Neuerscheinungen hinnahm) oder vor dem Cafe Jarocho, die Spezialität des Hauses schlürfend, während er mit dem Besitzer einen Plausch hielt, und samstags im Córdoba, wo er mit Schriftstellerkollegen Texte diskutierte, Untergänge heraufbeschwor, Intrigen spann und die nächste Revolution vorbereitete.
Wir müssen etwas unternehmen, begann er, auf jeden Fall dürfen wir nicht dazu schweigen!
Zunächst geht es darum, daß wir uns artikulieren, gemäß unserer Rolle als Journalisten und Schriftsteller. Ich habe an eine Resolution gedacht, die wir in den Sonntagsausgaben veröffentlichen könnten. Ich habe auch schon einen Text vorbereitet. ¡Escucha!
Daß die Unterzeichneten ihrer Besorgnis über die jüngste Entwicklung unten im Chiapas Ausdruck verleihen würden; daß es nicht angehe, wenn; daß man nicht hinnehmen könne, daß; daß man die Regierung, namentlich den Präsidenten, auffordere, schnellstens; daß man sich andere Schritte des Protests überlege, wenn nicht bald; daß die Unterzeichneten aber auch die Hoffnung nicht -
Enrique stockte.
Sag einmal, hörst du mir überhaupt zu?
Ich habe einen toten Vogel gesehen, vorhin, im Rinnstein.
Einen toten Vogel!
Enrique schlug mit der rechten Handfläche auf die Tischplatte, daß die Tassen klirrten, und starrte ihn entgeistert an.
Da empört sich die ganze Welt darüber, daß der Präsident und seine korrupten Minister die Vorgangsweise des Militärs nicht nur decken, sondern auch noch öffentlich gutheißen, und dann faselst du etwas von einem toten Vogel!
Der Vogel hatte keine Verletzungen.
Bist du nicht ganz richtig?
Er war erst seit kurzem tot. Es sah aus, als hätte ihn jemand erwürgt.
Schlag mich, komm, schlag mich! - Enrique tippte sich mit dem Zeigefinger auf die rechte Wange. - Bitte, schlag mich, ich muß aus diesem Alptraum aufwachen.
Du verstehst mich nicht ganz: Der Vogel hätte noch zu leben gehabt, hatte vielleicht eine Brut aufzuziehen oder war auf der Suche nach einem Weibchen, aber irgend etwas hat ihn daran gehindert und ihn umgebracht.
Enrique lehnte sich mit einem Seufzer zurück.
Was für ein Land und was für Menschen! Aber sie verdienens nicht besser.
Laß dein Pathos für einen Augenblick, Enrique! Ich habe eine Entdeckung gemacht, die mich beunruhigt.
Daß alle Lebewesen einmal sterben müssen?
Spotte nicht!
Daß irgendein Straßenjunge das Produkt seiner Mutprobe oder Aggression liegengelassen hat?
Mach dich nicht lustig über mich!
Daß ein Ich-bin-ja-so-eine-empfindsame-Seele-Dichter den Anblick toter Tiere auf einmal nicht mehr ertragen kann?
Du verstehst mich nicht.
Ich würde dich sehr gerne verstehen, ich - Enrique beugte sich vor - bemühe mich sogar ernsthaft, dich zu verstehen, aber - Enrique warf das Papier mit der Resolution auf die Tischplatte zwischen ihnen - es gibt eben Dinge, die mich mehr beunruhigen - Enrique trommelte mit dem rechten Zeigefinger auf das Papier vor ihm - als ein...
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