Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein Aasfresser - ein Vogel, der totes Fleisch aß.
Arindam hörte die Skua, bevor er sie sah, bevor er das Bewusstsein ganz wiedererlangt hatte. Er war immer noch in seinen Flugzeugsitz geschnallt und hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Der Aufprall bei der Landung musste ihn ausgeknockt haben. Als er wieder zu sich kam, hallte das andauernde Gurren des Vogels durch das leere weiße Tal.
Normalerweise gab es an diesem gottverlassenen Ort kein Leben, nichts, was essen oder atmen oder auch nur ein Geräusch erzeugen konnte - keine Bäume, keine Hunde, keine zirpenden Insekten. Jetzt aber war da dieser eine Vogel irgendwo vor seinem Fenster. Es musste eine Skua sein, eine Raubmöwe, bekannt dafür, dass sie die Kadaver von Robben und Pinguinen fraß. Sie jagte und raubte auch die Nahrung anderer Vögel und tötete und fraß deren Jungtiere. Aber vor allem fraß sie totes Fleisch.
Na großartig, dachte Arindam verzweifelt.
Er wusste, dass seine Verletzungen nicht gravierend waren: nur dieses schmerzhafte Pochen im Kopf und ein furchtbar steifer Nacken - seine ausgekugelte Schulter letzten Sommer hatte ihm schlimmere Schmerzen bereitet. Und doch ließen sich der übelerregende Schwindel und das rasende Herzklopfen nicht ignorieren. Er litt unter einem schweren Schock und war nicht für minus acht Grad Celsius angezogen. Ein Such- und Rettungsteam würde es nicht rechtzeitig schaffen. Als Spezialist für Eisbohrungen hatte er zu viele Geländeübungen absolviert, um sich etwas vorzumachen: Bald würde auch er nur totes Fleisch sein.
Vor dem Absturz hatte ihre zweimotorige Maschine jedwede Orientierung verloren. An jedem anderen Tag hätte der Kapitän die Witterungsbedingungen mit Leichtigkeit gemeistert. Noah, ein erfahrener Pilot und ebenfalls Brite, kannte sich mit Flügen über schneebedecktem Gelände aus. Er war diese Inlandsroute in die Ostantarktis schon dutzendmal geflogen - schließlich hatte er Arindams Forschungstrupp in dieser Saison schon zweimal transportiert -, und er wusste, was bei einem Whiteout zu tun war. Heute jedoch, als der Pilot wieder nach Instrumenten geflogen war, hatte irgendetwas nicht gestimmt. Der Höhenmesser könnte defekt sein, vermutete Noah.
»Wir sind nicht da, wo wir sein sollten«, fügte er mit einem Anflug von Besorgnis in der Stimme hinzu. »Ich glaube nicht, dass wir an der richtigen Position sind. Ich werd mal unter diese Wolkenbank abtauchen und nachschauen.« Er sprach dabei zwar mit seinem Co-Piloten Roger, doch von seinem Platz in der ersten Reihe aus konnte Arindam jedes Wort verstehen. Sie waren schon zu lange in der Luft und hätten längst im Anflug auf die Landebahn sein müssen.
»Wenn ich nur den Horizont finden könnte«, murmelte Noah, »dann hätte ich einen sichtbaren Anhaltspunkt.«
In einem antarktischen Whiteout ließ sich kein Unterschied ausmachen zwischen Himmel und festem Untergrund. Es gab keinen Kontrast mehr zwischen den Wolken, der riesigen Eisdecke auf dem Wasser und dem Schnee, der die Oberfläche einhüllte - alles war ein endloses, einheitliches Weiß. Für gewöhnlich konnte der Pilot zumindest einen Schatten oder eine zerklüftete Bergspitze erhaschen. Aber unter den jetzigen Bedingungen hatte er sogar Mühe, seine Anflughilfen auszumachen.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Noah und drehte sich zu seinen drei Passagieren um. »Das kommt mir seltsam vor.«
Seine Stimme hatte ruhig geklungen, doch als Arindam die Miene des Piloten sah, wurde ihm flau im Magen. Es war dieses Flackern in Noahs Augen, ein Aufblitzen von Panik.
Danach konnte sich Arindam an kaum etwas erinnern. Da war das dumpfe Dröhnen der Motoren, als Noah versuchte, das Flugzeug noch herumzureißen, und Rogers fieberhafter Notruf an die Zentrale. Arindam hatte sich an seinen Sitz geklammert, während das Flugzeug wie wild hin und her geschaukelt war, und seine Muskeln hatten vor Anstrengung gebrannt. Vor dem Fenster waren weiße Schemen vorübergerast, bevor sich ein grauer Bergrücken abgezeichnet hatte.
Jetzt lag das Flugzeug still und reglos da. Wo eben noch das Cockpit gewesen war, war jetzt ein großer Haufen Schnee. Oben ragte steif ein bleicher Arm hervor, in einem merkwürdigen Winkel abgeknickt. Arindam bemerkte noch, dass der Arm Noahs Pilotenuhr trug, bevor ihn eine Woge der Übelkeit übermannte und ihn in die Tiefe zog.
Als er wieder zu sich kam, fegte ein eisiger Wind durch den Rumpf. Sein Kopf fühlte sich noch schlimmer an als zuvor. Langsam drehte er sich um und sah, dass das Heckteil abgerissen war. Nun klaffte hinter ihm ein Loch, durch das Schnee ins Innere des Wracks wehte. Es war noch hell, doch der Himmel hatte sich zu einem dreckig-trüben Grau verfärbt.
»Hallo?«, krächzte er in die Leere. Seine Kehle fühlte sich so trocken an, als hätte er geschrien.
Niemand antwortete. Niemand sonst war noch an Bord. Ihm wurde klar, dass er allein sterben würde. Es sei denn, da war noch jemand im Heckteil der Maschine? Jemand, der noch in seinem Sitz festgeschnallt war? Draußen?
Als er den Gurt lösen wollte, schoss ihm ein jäher Schmerz durch die Hand, ein brennendes, kribbelndes Gefühl. Arindam stöhnte auf, blickte hinab und sah, dass sich auf der freiliegenden Haut an seinem Unterarm eine feine kristalline Eisschicht gebildet hatte. Sie reichte vom Ellbogen bis zum Handgelenk und bedeckte auch das Freundschaftsband, das seine Tochter Aisha ihm geflochten hatte. Mit Entsetzen fiel ihm auf, dass seine Haut aussah wie tiefgekühltes Fleisch. Die Kälte verschlang allmählich seinen Körper. Bald würde selbst das Blut in seinen Adern gefroren sein. Er stellte sich vor, wie sich Ranken aus Eis seinen Hals empor und hoch in seine Kopfhaut wanden.
Draußen vor dem Fenster schrillte wieder der Warnruf der Skua. Arindam beugte sich vor, um besser sehen zu können. Der mächtige braungraue Vogel hockte auf einem Flugzeugsitz, nur wenige Meter vom abgetrennten Rumpf entfernt. Er wippte ständig auf und ab, die spitzen Flügel nach hinten gestreckt. Mit seinem furchterregenden Schnabel riss er ruckartig an irgendetwas herum.
Der Anblick des Vogels erfüllte Arindam mit nackter Angst. Er stöhnte in die Stille, sein Herz raste noch immer. Keine gute Art zu sterben, dachte er, wenn dieses Ungetüm da draußen auf ihn wartete.
Er musste daran denken, wie die achtjährige Aisha ihm das Armband überreicht und ihn angefleht hatte, sie ja nicht zu vergessen. Seiner Tochter zuliebe sollte er aufstehen und mit den Füßen stampfen; er könnte seine Durchblutung in Gang bringen, um etwas Wärme zu erzeugen. Vielleicht würde dann ja das Gefühl in seine Finger zurückkehren, und er könnte eine Nachricht schreiben. Anschließend würde er vielleicht einen seiner Kollegen finden - Pete oder Barry -, um gemeinsam Schutz zu suchen und einen Plan zu schmieden.
Mit klammen, ungelenken Fingern löste er den Sicherheitsgurt. Er ließ sich aus dem Sitz hinab auf die Knie gleiten. Der Sitz war gebrochen und verbogen, beinahe aus seiner Verankerung gerissen. Arindams gelbe Jacke raschelte, als er sich langsam in den Gang schob und ächzend und stöhnend in den hinteren Teil des Flugzeugs kroch. Ohne Gespür in Händen und Füßen blieb er immer wieder in dem Chaos aus Taschen und Ausrüstungsgegenständen hängen. Als er endlich an der Öffnung ankam, ließ er sich nach unten auf den Boden plumpsen. Mit einem leisen Knirschen und einer wie Rauch aufstiebenden Schneewolke landete er auf dem Rücken. Irgendwo in seinem trägen Hirn nahm er noch wahr, wie seine Polartec-Hose kalt wurde und nass.
Schwer atmend hievte er sich auf die Knie und warf einen Blick über die Absturzstelle. Vor ihm verlief ein dreckig-dunkler Streifen, der sich wie eine Einfahrt in den Boden gefräst hatte, und er sah mehrere Trümmerhaufen in einem von Eisspalten zerfurchten Schneefeld. Der größte Teil des Wracks war im Schnee versunken. Zu seiner Linken konnte er die Umrisse einer Tragfläche erkennen und weiter hinten etwas, das womöglich das Heck gewesen war. Ihm sank der Mut, als er bemerkte, dass nirgends andere Menschen zu sehen waren, weder tot noch lebendig. Einem Teil von ihm wäre sogar ein Blutbad lieber gewesen als diese menschenleere Ödnis.
Dann entdeckte er die Skua, die noch immer auf der Rückenlehne des Flugzeugsitzes hockte.
Er stürzte auf den Vogel zu, mühte sich auf Knien durch den hohen Schnee. »Schsch!«, zischte er heiser, während er vorwärts taumelte. »Schsch!«
Seine Stimme kam ihm kraftlos vor, doch sie schreckte den Vogel so weit auf, dass dieser zu Boden hüpfte, wo er ungeduldig mit den Flügeln schlug.
Als sich Arindam hinter dem Sitz aufrichtete, sah er, dass ein Arm über die Seitenlehne hing. »Hallo?«, rief er und spähte auf die Vorderseite.
Ihm blieb beinahe das Herz stehen.
Der zerschmetterte, verdrehte Leichnam war tief in die Sitzpolster gepresst. Sein Kopf war in einem grauenhaften Winkel verdreht, der Hals unnatürlich lang gestreckt, und eine Wange ruhte auf der Schulter. Das Gesicht war fahlweiß, und statt Augäpfeln klafften nur zwei blutige Löcher.
Bevor er den Blick abwenden konnte, sah er, dass die Augenhöhlen von Hautfetzen und freiliegenden Schädelknochen umgeben waren, wo sich die Raubmöwe bereits an ihm gütlich getan hatte. Auf der einen Seite gab der aufgesperrte Mund der Leiche eine Reihe von verfärbten Zähnen frei, auf der anderen zog sich eine Spur gefrorener Spucke an einem weißen Bart hinab.
Er hatte Pete gefunden.
Auf dem Flug hatte der wissenschaftliche Leiter zunächst hinter Arindam gesessen. Der langbeinige Mann hatte so lange immer wieder von hinten gegen die Sitzlehne gepresst, bis sich Arindam...
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