Schweitzer Fachinformationen
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Steffi Finn
Donnerstag, 28. Dezember 2017
Tag 37 im Gefängnis
»Kalt draußen«, stellte die Vollzugsbeamtin Manning fest. »Hab schon befürchtet, dass mein Wagen heute Morgen nicht anspringt.«
Obwohl Steffi zu schätzen wusste, dass die Frau sich um ein normales Gespräch bemühte, fiel es ihr schwer, für jemanden Mitgefühl zu entwickeln, der im eigenen Bett schlafen, den Tee aus der eigenen Tasse trinken und mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren durfte.
»Ist schon Schnee gefallen, Miss?«, fragte sie.
»Nur oben in den Peaks ein bisschen«, sagte Manning. »Der Snake Pass und die Cat and Fiddle Road sind wieder gesperrt.«
Steffi liebte es, die Namen von Orten zu hören, an denen sie noch nie gewesen war. Sie verstaute den Klang der Worte in einer Ecke ihres Gedächtnisses, um sie später, wenn sie allein war, wieder hervorzuholen und von den Namen der Straßen ihre Fantasie anregen zu lassen.
Das Hillstone-Gefängnis galt gemeinhin als zivilisierter als andere Haftanstalten, in die sie hätte geschickt werden können. Es hatte sieben Trakte und zweihundert Insassinnen, sodass es niemals einen ruhigen Moment gab. Steffi freute sich schon darauf, wieder in ihre Zelle eingeschlossen zu werden, die sie bisher zum Glück mit niemandem teilen musste.
Sie warf einen Blick auf die Zeitung, die vor ihr auf dem Tisch lag. Solange sie den Blick gesenkt hielt und sich so klein machte, dass sie beinahe unsichtbar war, ließen die Wärterinnen und die anderen Häftlinge sie in Ruhe. Solange sie sich nicht wehrte, konnte man keinen Spaß mit ihr haben.
Diese Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr war unerfreulich, egal ob man eingesperrt war oder nicht. Das Gefängnis hatte weitgehend erfolglose Versuche unternommen, für ein wenig fröhliche Weihnachtsstimmung zu sorgen. Es hatte gebratenen Truthahn und Weihnachtslieder gegeben, und die Frauen hatten sich nachmittags Der Polarexpress anschauen dürfen. Außerdem waren von den Gefangenen gebastelte Papiergirlanden aufgehängt worden. Einige Frauen wirkten aufgekratzt, beinahe fröhlich. Steffi vermutete, dass sie sich damit vor weit unangenehmeren Gefühlen schützten.
Steffis einziges Zugeständnis an den Festtag war ein Anruf bei ihren Eltern, auf den sie besser verzichtet hätte. Es tat ihnen allen zu weh. Die beiden brachten es nicht fertig, zu Hause mit Papierkronen herumzusitzen, während ihre Tochter im Gefängnis saß. Und Steffi schaffte es nicht, so zu tun, als ginge es ihr nicht dreckig.
Doch es hätte schlimmer kommen können. Es gab verschiedene Arten, eine Tochter zu verlieren. Für die Eltern von Katy Foster und Anna Atkins wäre eine Tochter im Gefängnis ein großes Geschenk gewesen. Stattdessen besuchten sie wahrscheinlich ein Grab und deckten zum Abendessen für jemanden, der nie kommen würde. Steffi fragte sich, ob ihre Eltern sich hin und wieder wünschten, sie wäre tot. Dann würden die Nachbarn - statt ihnen aus dem Weg zu gehen - sie mit Umarmungen und Einladungen zu Glühwein und Mince Pies verwöhnen.
Einmal in der Woche war es den Gefangenen gestattet, die Gefängnisbibliothek zu besuchen. Das war die Zeit, auf die Steffi sich am meisten freute. Was nicht nur an der Einförmigkeit der geraden Buchrücken oder der Ordnung in den Regalen lag, von der sie sich angezogen fühlte wie eine Motte vom Licht - vor allem lockten sie die Zeitungen. Sie stellten Steffis Verbindung zur Außenwelt dar, waren der Beweis, dass die Welt mit dem Antritt ihrer Strafe nicht aufgehört hatte, sich zu drehen. Dann saß sie da und las jede einzelne Ausgabe von der ersten bis zur letzten Seite, egal wie wichtig oder unwichtig der jeweilige Artikel sein mochte.
Die Titelseiten waren voll vom Chaos auf den Straßen und den Schlangen, die sich vor den Geschäften mit den nachweihnachtlichen Sonderangeboten bildeten. Sie fragte sich, ob sie nach ihrer Entlassung weniger materialistisch denken würde als zuvor - oder vielleicht mehr. Klar, sie würde sich an den einfachen Dingen erfreuen, doch sie wollte sich auch eine neue Lampe, einen Schlafanzug oder eine Tafel Schokolade kaufen können, wann immer ihr der Sinn danach stand.
Für die Zeitungen war Steffi kein Thema mehr. Ein Teil von ihr war darüber enttäuscht, sogar verletzt. Sie wollte, dass die Wahrheit gedruckt wurde, wusste aber, dass es nie dazu kommen würde. Stattdessen erfuhr sie, dass Frauen in Partykleidern »ihre Kurven zur Schau stellten«. Sie registrierte, dass die Geschichte einer Frau, die Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden war, mit einem Urlaubsfoto illustriert war, auf dem sie im Bikini posierte. Und dass der Bericht detailliert auflistete, was sie am betreffenden Abend getrunken hatte.
Bevor sie selbst zum Opfer der Regenbogenpresse geworden war, hatte Steffi kaum einen Gedanken an die dort verwendete Sprache und die Art und Weise verschwendet, wie diese in ihr Unbewusstes eingesickert war. Wären sie und Lee von den Medien nicht so unterschiedlich porträtiert worden, hätte sie es wahrscheinlich nie bemerkt.
Steffi fragte sich, wie es in Lees Gefängnis aussehen mochte. War es größer oder lauter? Hatte es einen besseren Fitnessraum, besseres Essen, bessere Bücher in der Bibliothek? Bekam er irgendwelche Vergünstigungen, weil er zweimal lebenslänglich absaß? Immer noch dachte sie jeden Tag an ihn. Und sie war sicher, dass er auch an sie dachte. Selbst wenn seine Berufung Erfolg hätte, würde Lee Fisher noch Jahre im Gefängnis verbringen müssen. Wie lange würde sein Groll lebendig bleiben? Länger als mehrfach lebenslänglich, darauf würde sie wetten. Der Lee, den sie einmal geliebt hatte, hätte ihr in Windeseile verziehen, doch der wirkliche Lee - der, den er vor ihr verborgen hatte - war zu unsagbaren Grausamkeiten imstande.
Steffi blätterte die Zeitung durch. Jedes Mal, wenn sie las, dass »eine verlässliche Quelle sagt .« oder »eine Quelle aus dem engeren Umfeld der Schauspielerin behauptet .«, lachte sie spöttisch. Davon hatte sie genug gelesen, als ihr eigener Fall vor Gericht kam. Bis heute wusste sie nicht, ob diese Kommentare echt oder von den Journalisten frei erfunden waren. War so etwas erlaubt? Sie hatte Conor damals unterstellt, mit den Zeitungen geredet zu haben. Sie waren seit ihrer Schulzeit beste Freunde gewesen, dann für eine Weile ein Paar, und schließlich hatte seine Kanzlei sich bereit erklärt, sie zu vertreten. Im Augenblick kümmerten sie sich um den Verkauf des Hauses, in das sie niemals mehr einen Fuß setzen würde. Sie wünschte, sie wäre nicht so auf ihn angewiesen. In einer idealen Welt wäre sie auf niemanden angewiesen.
Er hatte zerknirscht aus der Wäsche geschaut, als Steffi gefragt hatte, ob seine Freundin - Gott, wie hieß sie noch? - Informationen an die Presse durchsickern ließ. Conor war damals seit achtzehn Monaten mit Der Freundin zusammen, aber Steffi war ihr noch nie begegnet. Conor sagte, sie sei Schauspielerin, ohne jemals eine Hauptrolle in irgendeiner Produktion zu erwähnen. Lee war Der Freundin - nein, ernsthaft, wie hieß die Frau? - einmal auf der Geburtstagsparty von Max begegnet. Er hatte in aller Ausführlichkeit beschrieben, wie faszinierend sie war, wie schön, amüsant, so groß und schlank. »Sie hätte als Model arbeiten können«, hatte er gesagt. »Und sie war so aufmerksam.«
Jedes einzelne dieser Komplimente fühlte sich für Steffi wie eine direkte Beleidigung an. Vielleicht war sie tatsächlich ein winziges bisschen eifersüchtig, weil Die Freundin sich so interessiert an Lee gezeigt hatte. War Conor ihr etwa nicht genug? Mit ihrem heutigen Wissen hätte sie sich natürlich gewünscht, Lee wäre auf der Stelle mit der Schauspielerin durchgebrannt. Es hätte Steffi eine Menge Ärger erspart.
Sie hatte Partys nie gemocht, und Lee hatte nichts für Alkohol übrig. Nichts fand er schlimmer als betrunkene Frauen. Vor ihrem Kennenlernen hatte Steffi hin und wieder in Gesellschaft etwas getrunken, doch Lee hatte sie gebeten, den Alkohol aufzugeben. Im Gegenzug versprach er ihr, um ihretwillen mit dem Rauchen aufzuhören. Damals hatte sie Lee in jeder Hinsicht perfekt gefunden, mit Ausnahme des Rauchens. Erst später hatte sie entdeckt, dass das bei Weitem nicht sein schlimmstes Laster war.
Nach seiner Festnahme war Lee in Untersuchungshaft gekommen. Steffi glaubte eine Weile, dass er das bessere Los erwischt hatte - wenigstens musste er anders als sie kein halbes Leben in der realen Welt führen. Er wurde nicht angespuckt und beleidigt. Dann aber landete er mit einem gebrochenen Kiefer im Krankenhaus. Das Gefängnis war doch nicht der sichere Hafen, für den Steffi es gehalten hatte.
Ihr Anwalt - nicht Conor, sondern einer seiner Kollegen - hatte ihr geraten, ihre Strafe stillschweigend zu akzeptieren. Im größeren Zusammenhang gesehen, waren zehn Monate kaum mehr als ein Wimpernschlag, hatte er behauptet. Natürlich hatte er gut reden. Aber sie hatte tatsächlich den Mund gehalten. Das war nicht besonders schwierig, da sie schon immer verschwiegen gewesen war. Sie hatte kein Wort gesagt, als Lee Fisher sie anlog. Später hatte sie zwar hinter geschlossenen Türen ausgepackt. Doch als Lee versuchte, ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben, hatte sie sich wortkarg allen Journalistenfragen entzogen. Sie lehnte jedes Interview ab, obwohl die Presse ihr vorwarf, mehr über die Morde zu wissen, als sie zugab. Und sie ließ es zu, dass Anwälte, Zeitungen und der wütende Mob über sie verbreiteten, was ihnen gerade einfiel. Steffi war zuversichtlich...
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