Schweitzer Fachinformationen
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Obwohl er direkt vor dem Haus hätte parken können, fuhr Simon bis ans Ende des Blocks – ungefähr sechs Häuser weiter –, bevor er seinen Volvo an den Straßenrand lenkte und den Motor abstellte. Auf seiner rechten Wange klebten inzwischen keine Pflaster mehr. Sie wurde jetzt von einer fleischigen weißen Narbe geziert. Wo die Wunde nicht vollständig verheilt war, schimmerte es noch rosa, aber er hatte sich nicht überwinden können, noch länger zu warten. Er hatte bereits tagelang nur dagesessen und darüber nachgedacht.
Er wusste jetzt mehr über Mathematik als je zuvor.
Er fuhr mit der Zunge von innen über die Wange. Ungefähr ein Dutzend Haare wuchsen dort. Als die Wunde heilte, waren Haarfollikel ins rosa Innere seines Mundes gelangt, und allmählich waren Haare daraus gewachsen, die ihn nun juckten.
Er betastete die einen Zentimeter langen Haare mit der Zunge, während er ausstieg. Vor sechs Tagen schon hatte er bemerkt, dass in seinem Mund Haare wuchsen, aber auf der Herfahrt war das Spiel seiner Zunge mit ihnen zu einem Zwang geworden – trotz der Sache, die er heute Morgen hier vorhatte. Er griff sich mit der linken Hand in den Mund, erwischte eines der Haare zwischen Daumen und Zeigefinger, presste es mit dem Daumennagel gegen die andere Fingerkuppe und riss es aus.
Er spürte einen stechenden Schmerz, Tränen schossen ihm in die Augen, und er schmeckte Blut. Einen Augenblick lang betrachtete er das kleine graue Haar, studierte es genau – die Art, wie es sich krümmte und einen Halbkreis formte, die winzige weiße Stecknadelspitze aus Fleisch, die an der Basis hängen geblieben war – und warf es dann fort.
Wieder wanderte seine Zunge die Innenseite der Wange entlang, aber diesmal zwang er sich aufzuhören. Es beschäftigte ihn nicht, obwohl er das hier heute Morgen vorhatte; es beschäftigte ihn, weil er es heute Morgen vorhatte. Zur Ablenkung. Aber das führte zu nichts. Er würde keinen Nutzen daraus ziehen.
Er wandte sich von seinem Wagen ab und ging auf das Haus der Shacklefords zu. Er sah Samanthas Mercedes in der Auffahrt stehen.
Bald würde er wissen, ob sie ihm glaubte.
»Hey, Jeremy. Was ist mit dem Hammer, den ich dir geliehen hab?«
Simon hielt inne. Er befand sich auf der ersten Stufe der Treppe, die zur Vorderveranda führte. In der Morgenbrise konnte er Basilikum und Rosmarin riechen. Die Pollen in den lila Blüten auf der Veranda trieben ihm die Tränen in die Augen und brachten seine Nase zum Laufen. Die Stimme kam von hinten – die Stimme eines Mannes, der mit Kieseln gurgelte.
Simon schluckte und drehte sich um.
Ungefähr drei Meter von ihm entfernt joggte ein schwergewichtiger Mann Ende vierzig auf der Stelle. Er trug fleckige graue Trainingshosen und ein T-Shirt, das seinen glühbirnenförmigen Bauch nicht ganz bedeckte. Zwischen seinen Trainingshosen und dem Shirt war ein weißer Streifen behaartes Fleisch zu sehen. Er hatte ein Gesicht wie aus feuchtem Pappmaschee, das von den Knochen troff, und sein Hals war von Rasierpickeln übersät. Ein paar weiße Schnipsel Toilettenpapier mit Flecken von trocknendem Blut klebten an seiner Haut. Simons Adoptivvater hatte diese blutbefleckten kleinen Fetzen Toilettenpapier japanische Flaggen genannt, zum Beispiel wenn er sagte: »Du hast da ’ne japanische Flagge am Hals, Kumpel.«
Sechs Jahre war er jetzt schon tot. Simon war nicht zur Beerdigung gegangen, aber nachdem seine Mutter ihm erzählt hatte, dass der alte Mann tot in seinem Wohnmobil in Nevada aufgefunden worden war (sie hatten sich scheiden lassen, als Simon fünfzehn war), war er zwei Wochen lang wie betäubt umhergelaufen. Geweint hatte er nicht. Auch besonders traurig war er nicht gewesen, aber er hatte etwas gespürt, das mit Trauer verwandt war, etwas, das gleich neben ihr wohnte, ein Echo, das in der Leere widerhallte. Einen Monat später weinte er zum ersten und zum letzten Mal über den Tod seines Vaters. Es war seltsam. Er hatte den Mann nicht gemocht, ja, er hatte ihn gehasst, aber er war der einzige Vater, den Simon kannte, und er hatte ihn auch geliebt.
»Wie bitte?«, fragte er.
»Mein Hammer. Hast du ihn?«
»Aber ja«, sagte er. »In meiner Garage. Macht es dir was aus, wenn ich ihn später vorbeibringe? Ich hab im Moment viel zu tun.«
»Null Problemo. Ich kann ihn ohnehin jetzt nicht mitnehmen. Bin dabei, ’ne Runde zu joggen. Ich hab dich gesehen und dachte, da geb ich dir mal ’n kleinen Wink.«
»Oh«, sagte Simon. »Okay. Ich bring ihn später vorbei.«
»Hört sich gut an. Dann bis dahin.«
»Genau.«
Der Mann drehte sich um und joggte ein paar Schritte, bevor er stehen blieb und wieder zurückkam.
»Übrigens – was ist eigentlich mit deinem Gesicht passiert?«
»Mit meinem Gesicht?«
»Die Narbe.«
Simon berührte seine Wange.
»Ach das. Mein Friseur hatte einen Krampfanfall.«
Der Mann war einen Augenblick sprachlos.
»Tatsächlich?«
Simon nickte.
Der Typ pfiff, indem er Luft zwischen den Zähnen einsaugte. »So ein Pech aber auch.«
»Kann man wohl sagen.«
»Okay, bis später dann.«
»Bis später.«
Der Mann joggte davon.
Simon blickte ihm nach und seufzte erleichtert: Immerhin schon einer, der ihn für Jeremy Shackleford hielt.
Aber warum hatte er die Narbe angesprochen? Hatte Shackleford nicht genau so eine gehabt?
Er stieß leise die Eingangstür auf, trat ein und ging den Flur entlang. Ihm war übel. Obwohl er seine Zähne geputzt hatte, schmeckte der trockene Zungenkloß eklig. Er schluckte oder versuchte es zumindest, aber es fehlte an Speichel.
An der Schlafzimmertür blieb er stehen. Sie stand einen Spalt offen. Er hörte das Geräusch ihres flachen Atmens – des flachen Atmens im Schlaf, ein langer Seufzer nach dem anderen –, und er nahm den sauberen Geruch von Frauenschweiß wahr und das Muffige benutzter Bettlaken. Er hob die Hände, presste die Finger gegen die raue Maserung des Holzes, streckte sie aus und drückte. Die Tür öffnete sich problemlos, glitt sanft über den üppigen Schlafzimmerteppich und blieb stehen. Im Flor des Teppichs hinterließ sie einen plattgedrückten Halbkreis, der an den Flügel eines Schneeengels erinnerte.
Samantha schlief auf dem Bett. Sie lag unter einer weißen Bettdecke auf gestreiften burgunderroten Laken. Ihr Kopf ruhte auf einem Kissen, die Arme hatte sie um ein zweites geschlungen, wohl weil ihr die Nähe eines Menschen fehlte – des Menschen, dachte Simon, der bei ihm in der Badewanne lag. Nun, zumindest noch teilweise. Als der Geruch unerträglich geworden war und ein Nachbar sich über den Gestank beschwert hatte, als er es aufgegeben hatte, mit Räucherstäbchen und Eis dagegen anzukämpfen, war er losgefahren und hatte ein halbes Dutzend Flaschen Abflussreiniger gekauft. Er hatte ihn über der Leiche ausgegossen, damit er das Gewebe zerfraß, und anschließend mit warmem Wasser aus der Dusche nachgespült. Das hatte er vier Tage lang durchgezogen (wobei er jedes Mal in einem anderen Laden eingekauft hatte). Der Abfluss war mehrere Male verstopft gewesen, aber es war ihm gelungen, die Leitung mit der Saugglocke wieder frei zu bekommen. Jetzt waren fast nur noch Knochen und Zähne übrig und das Haar, das noch nicht weggespült worden war. Den Rest musste er natürlich auch noch entsorgen, aber er hatte Angst. Identifizierung durch zahnärztliche Unterlagen und dergleichen. Er würde die Zähne ausschlagen müssen und …
Aber das musste warten.
Er ging ans Bett heran und stand nun über Samantha. Jetzt musste er sich um Samantha kümmern.
Sie war blass und ebenmäßig und schön.
Er musste sie davon überzeugen, dass er Jeremy Shackleford war.
Als er sich auf die Bettkante setzte, gab sie ein leises Stöhnen von sich. Er streckte einen Arm aus und strich mit dem Handrücken über ihre Wange. Dabei spürte er die blonden Härchen wie den Flaum auf einem Pfirsich. Er ließ eine Daumenspitze über ihre weichen Lippen gleiten. Er atmete schwerer. Er schluckte.
Ja, jetzt musste er sich um Samantha kümmern.
Er stellte sich vor, wie er bei ihr lag und sie liebte. Er stellte sich vor, wie sie seine Liebe erwiderte. Es kam ihm vor wie ein Traum. Würde sie merken, dass er nicht Jeremy war? Neben der äußeren Erscheinung gab es so vieles, das einen Mann charakterisierte – die Art, wie er die Augen schloss, wenn er zornig war und sich zwingen wollte, wieder ruhig zu sein; die Art, wie er sich auf die Unterlippe biss; die Art, wie er sich beim Gehen aufrecht hielt – und die Ehe, dachte Simon, führte zu einer solchen Intimität, dass es einem Partner wohl unmöglich war, nicht irgendwann sämtliche Eigenarten registriert zu haben. Zwillinge zum Beispiel mochten für einen Fremden identisch aussehen, aber Eltern und Ehepartner erkannten auf den ersten Blick die Unterschiede. Würde sie ebenso schnell erkennen, dass er nicht Jeremy war? Würde sie ihn...
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