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VERONIKA
»Verdammt!«, entfuhr es Veronika. Sie hatte eine randvolle Kiste mit Einkäufen aus dem Kofferraum geladen, dabei war eine Packung Hafermilch heruntergefallen und auf dem Waldboden zerplatzt. Einige Tropfen landeten auf ihrer Jeans.
Ihre Freundin Luna würde sie jetzt rügen. Sie hatte die Stille des Waldes erst kürzlich als heilig bezeichnet. Und als heilsam. »Wusstest du, dass Menschen, die in der Nähe von Wäldern leben, mehr Killerzellen produzieren, die Krankheitserreger bekämpfen?«
Veronika hatte es nicht gewusst.
Sie wusste nur, dass sie immer noch von Luna enttäuscht war. Diese hatte versprochen, sie in den Wald zu begleiten, und dann kurzfristig abgesagt. So erdend ein Trip in das Forsthaus, wo Veronika ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, auch sein mochte - mit dem auf den letzten Drücker frei gewordenen Platz in einem Klangschalenseminar hatte er nicht mithalten können.
Veronika bückte sich. Beim Aufheben riss die Packung noch weiter auf, die Hafermilch ergoss sich über den Ärmel ihrer Jacke. Diesmal verkniff sie sich einen Fluch, stampfte wütend auf. Prompt drang Matsch in die Ritzen ihrer Schuhe.
Stadtschuhe, hätte ihre Mutter dazu gesagt, obwohl die Absätze nur drei Zentimeter hoch waren.
Auf Walderde geht man am besten mit nackten Füßen, behauptete Luna. Sie hatte für die paar Tage im Wald viele Pläne gemacht. Shinrin Yoku, das Waldbaden, reize sie schon seit Langem, die Japaner meinten damit nicht bloß einen Waldspaziergang, sondern eine Aromatherapie, eine Stressmanagement-Methode, eine Achtsamkeitsübung.
Veronika hatte keinen Sinn für ein Bad im Wald. Die Hafermilch war im Boden versickert, sie warf die leere Packung in den Kofferraum. Er schloss sich auf Knopfdruck, ganz leise. Ihre Schritte waren auch kaum zu hören, als sie vom Waldrand zum Forsthaus ging, auf einem schmalen Weg, beschattet von alten Birken und Kiefern. Lauter klang der Ruf eines einsamen Waldkauzes, und er war ähnlich melancholisch wie die Erinnerungen, die in ihr hochstiegen, als sie ihr Elternhaus erreichte.
Nur zwei der weißen Sprossenfenster waren zu sehen, die anderen verbargen sich hinter Fensterläden, von denen grüne Farbe blätterte. Das Holz darunter war verwittert. Das Haus schien sie aus müden Augen anzustarren. Risse zogen sich durch die Fassade, Putz bröckelte ab, die Dachbalken waren größtenteils von grauem Moos überwuchert. Durch die löchrige Dachrinne tropfte es. Gut möglich, dass es auch durchs Dach ins Haus tropfte, aber darum musste Veronika sich nicht mehr kümmern, das wäre das Problem der künftigen Besitzer. Lange blieb sie ohnehin nicht, für die paar Tage hatte sie eigentlich zu viel eingekauft.
Sie stellte die Kiste ab, um das Gartentor zu öffnen. Der Zaun aus dünnen Fichtenstämmen war morsch, das Holz des Tors rumpelte über den unebenen Boden. Sie musste mit ganzer Kraft dagegendrücken, um sich mitsamt der Kiste in den Garten zwängen zu können.
Ihre Erinnerungen hatten nun nichts mehr mit dem Schrei des Waldkäuzchens gemein, gedämpft vom Wald und so weit entfernt, dass man ihn geflissentlich überhören könnte. Hartnäckig klopften sie an wie ein Specht, der mit dem Schnabel Baumrinde bearbeitet. Sie drangen durch die Schichten der Zeit, die zwischen Veronika und der Vergangenheit stand, ganze siebenundzwanzig Jahre, in denen sie nur sporadisch hier gewesen war. Seit dem Tod ihrer Mutter Ilse im letzten Herbst hatte sie das Forsthaus überhaupt nicht mehr betreten. Doch jetzt stand sie in Ilses Garten - und in ihrem eigenen früheren Leben.
Ilse Pichlers Garten war immer schon der Schauplatz eines langen, zermürbenden Stellungskriegs gewesen. Die Front verlief rund um die Beete, wo Kohl, Rote Rüben und Rettich angebaut wurden, rund um die Salbei-, Thymian- und Ziermohnstauden, um die Narzissen, Tulpen und Rosen. Auf diesem Schlachtfeld galt keine Genfer Konvention, sammelte kein Rotes Kreuz die Verletzten ein. Ilse Pichler hatte mit Schaufel und Spaten, Sichel und Rasenkantenstecher, Unkrautjäter und Blumenkralle, mit Dicamba, Glyphosat und Rasenherbiziden gekämpft. Der Wald mit Pollen, Samen, Insekten und Wühlmäusen.
Sie hatte die giftigeren Waffen, er das beweglichere Heer, manchmal auch die bessere Taktik. Die blauen Vergissmeinnichtpolster, die sich einmal übers ganze Gemüsebeet ausbreiteten, konnten auf Allianzen setzen. Ameisen mochten die nährreichen Samenkappen und verteilten freudig die Samen.
Als Veronika etwa zwölf Jahre alt war, erklärte sie das einmal der Mutter. Gerade hatte diese verlangt, sie solle ihr beim Ausreißen der Vergissmeinnicht helfen. »Wusstest du«, sagte Veronika und ließ sich, anstatt zu pflücken, zu rupfen, zu jäten und zu tilgen, auf der Gartenbank nieder, »dass das Gesamtgewicht aller Ameisen dem Gewicht sämtlicher Menschen auf der Erde entspricht?«
»Hmpf«, machte die Mutter und wiederholte ihre Bitte nicht. Sie kämpfte gegen den Wald, nicht gegen den Widerstand der Tochter. Während die auf der Gartenbank ihre Hausaufgaben machte, arbeitete sich die Mutter durch die Beete, bis nicht nur die Vergissmeinnicht verschwunden waren, sondern auch sämtliches Unkraut und etliche ihrer Blumen. Die schwarze Erde, die zwischen armseligen Farbtupfern zurückblieb, war zwar nicht unbedingt Zeichen für einen Sieg, aber auch nicht für eine Kapitulation.
Ilse Pichler konnte nicht lange stolz darauf sein. Kurze Zeit später schickte der Wald ein Reh als Verstärkung, das Salat, Erdbeeren und Johannisbeeren liebte. Es schaffte es, den Gartenzaun zu überwinden, der bislang alle Artgenossen abgehalten hatte, und innerhalb einer Nacht das Ergebnis von mehreren Monaten Arbeit wegzufressen.
Die Mutter streute ein Gemisch aus Wasser und Blutmehl auf ihre Pflanzen, aber das Reh scheute den Geruch von Tierblut nicht. Sie platzierte ungewaschene, naturbelassene Schafwolle strategisch günstig rund um die Gartenbeete, aber anders als erhofft ließ sich das Reh auch davon nicht stören. Sie drohte, Goldregen, Rhododendron und Kirschlorbeer anzubauen - Gift für das Reh -, aber bis das alles angewachsen war, hätte sie den Garten in einen Bunker verwandeln müssen. Beim Gift blieb sie, sie vermischte Rattengift mit Wildfutter und verteilte es auf dem Rasen. Das Reh verschmähte es und hinterließ Rehlosung als Gruß.
Das Waffenarsenal der Mutter war aufgebraucht.
»Erschieß es«, befahl sie dem Vater, doch der schob die leidige Pflicht wieder und wieder auf. Er schoss lieber Hirsche.
Veronika betrachtete den Garten. Am Ende hatte doch der Wald gewonnen. Die Beete waren von überbordenden Sträuchern, Wildkräutern, Gräsern, Farnen, Moosen und Flechten bedeckt. Auf dem Rasen, einst eine glatte grüne Fläche, wucherten Huflattich, Klee und Wegerich. Und auf dem Weg zum Haus riss sie sich die Hose an einer dornigen Ranke auf. Als sie die Einkäufe abstellte, wanderte ihr Blick hoch zum Türstock aus Sandstein - neben dem Gewölbekeller der älteste Teil des Hauses. Die darauf eingeritzte Jahreszahl war einmal deutlich zu lesen gewesen, jetzt waren da nur verwischte graue Spuren. Veronika wusste auch so, dass der erste Bewohner das Forsthaus Anfang des 16. Jahrhunderts bezogen hatte.
An den Sandstein schlossen sich die Reste einer pechschwarzen Holzvertäfelung an, übersät von Vogelkot. Darüber befand sich der Balkon mit der hohen gedrechselten Balustrade. Die Mutter hatte damals auch hier Blumen angepflanzt, Geranien, so prächtig, dass man den Balkon nicht betreten konnte, ohne von ihnen gekitzelt zu werden. Der Feind der Geranien war nicht der Wald gewesen, sondern der Sturm. Wenn der anrückte, blieb nur die Flucht, alle Blumentöpfe mussten so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden.
»Hilf mir doch!«, sagte Ilse dann zu Veronika, aber die war wieder mal in ein Buch vertieft und stellte sich wie so oft taub, wenn die Mutter um Hilfe bat.
Veronika sperrte das widerspenstige alte Türschloss auf und zog den wurmstichigen Holzriegel zurück. Der Dielenboden war zerkratzt und uneben. Sie hatten den Flur nie mit Schuhen betreten, doch jetzt tat sie es, obwohl an ihren Sohlen noch Waldboden klebte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als wäre die Fläche vermint.
Der modrige Geruch, der sie empfing, erinnerte sie an jene Gläser mit Himbeermarmelade, die die Mutter eingerext hatte, nicht immer sorgfältig genug, sodass sich oft eine graue Schimmelschicht bildete. Ilse pflegte den Schimmel mit einem Messer abzukratzen. »Das darunter kann man noch essen«, meinte sie, auch wenn sich zum süßen Aroma eine muffige Note gesellt hatte. »Wenn der Pilz bereits sichtbar ist, ist das ein Zeichen, dass das ganze Lebensmittel mit Pilzgeflecht durchzogen ist«, erläuterte Veronika altklug. Aber gegen Unsichtbares kämpfte die Mutter nicht.
Mit...
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