Schweitzer Fachinformationen
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Minus 24 Stunden
In dem rumpelnden S-Bahn-Waggon war ich mit meinen vier besten Freunden unterwegs. Meinen einzigen Freunden. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würden zwei von uns tot sein und die Dritte mit einem kaputten Bein auf dem Asphalt liegen.
Diese Dritte würde ich sein.
Wir waren bereit zuzuschlagen, hatten uns in dem nach Knoblauch stinkenden Waggon verteilt. Zwei Stationen noch, signalisierte uns Verboten, wie sich mein Kumpel nannte, unauffällig, indem er sich an der Schläfe kratzte.
Die Nacht begann dem Tag zu weichen.
Verboten hielt einen Regenmantel in den Armen und lehnte gegen die Stirnwand des Waggons, damit wir ihn jederzeit sehen konnten. Er hatte versprochen, uns im entscheidenden Moment ein Zeichen zu geben. Er las in einem Buch, blickte manchmal auf, wenn der Waggon ruckelte, checkte die Strecke, feuchtete dann den Finger an und blätterte um.
Ein aufmerksamer Beobachter hätte an ihm gleich zwei seltsame Dinge bemerkt: Warum schleppte diese rotwangige Vogelscheuche an einem Sommermorgen einen Regenmantel mit sich herum, obwohl für diesen Tag mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit ein wolkenloser Himmel und der Beginn einer Hitzewelle vorhergesagt gewesen waren? Und zweitens: Wie konnte dieser Mann ein Buch lesen, das er verkehrt herum hielt?
Und noch etwas: Wieso trugen fünf Fahrgäste ein Shemagh, ein Palästinensertuch, um den Hals?
Verboten hätte ohnehin nicht lesen können, denn er hatte seine Brille zu Hause vergessen. Er war nervös. Der Streckenabschnitt war neu für uns, und es ist was anderes, im Hellen zu operieren als in der Nacht. Das hier war unser erster Einsatz bei Tag. Unbedingt notwendig, hatte Verboten erklärt: Wir bräuchten Material, das bei Licht entstanden sein müsste. Deshalb waren wir Kinder der Nacht jetzt bei Tagesanbruch unterwegs.
Der Regenmantel war sein Deckmäntelchen. Unter dem raschelnden Stoff verbarg sich ein spitzköpfiger Steinmetzhammer.
Beim Einsteigen hatte Verboten einen schwarzen Aufkleber auf die Linse der Überwachungskamera gedrückt - mit einem flinken Daumendruck, schneller als Klitschkos rechte Gerade.
Schwarze runde Aufkleber hatte jeder von uns in der Tasche. Sie waren in unserem Job so unentbehrlich wie für einen Kaufmann die Kugelschreiber in der Brusttasche.
Ich betrachtete die unschuldigen Menschen auf den Bänken, die nicht ahnten, was gleich passieren würde.
Das Paar, das mir gegenübersaß, stritt sich so heftig, dass die Sitzbank zitterte. Die Frau - sehr schmales Gesicht - hatte soeben angekündigt, sie werde sich das schulterlange Haar raspelkurz scheren, und jetzt protestierte der Mann vehement und verlangte stattdessen, sie solle sich die Haare bis zum Steißbein wachsen lassen. Die beiden glotzten einander unterkühlt an wie Flundern im Winterschlaf. Dann wieder deuteten sie mit der Hand die entsprechende Haarlänge an, als ginge es darum, ein Metermaß neu zu kalibrieren.
Neben mir hockte ein ungefähr sechzigjähriger Typ mit hohlen Wangen, dessen Beine so kurz waren, dass seine Füße ein paar Zentimeter über dem Boden baumelten. Auf dem Kopf hatte er ein moosgrünes Käppi ohne Krempe, dafür aber mit einer schwarz-weißen Feder. Bestimmt hatte Robin Hood bei seinen Abenteuern im Sherwood Forest auch so eins getragen. Statt geschnitzter Pfeile aus Eibenholz schoss der Hohlwangige Kugeln auf den Boden, die er aus seiner Nase gepult hatte.
Was würde wohl in seinem Nachruf stehen, wenn der Zug jetzt entgleiste?
ER WAR EIN MANN, DER IN DEN LETZTEN MINUTEN SEINES LEBENS MIT POPELN UM SICH SCHOSS.
Der Zug bremste und hielt an der nächsten Station. Niemand stieg aus, aber eine Mutter mit Kinderwagen kam rein.
Beschissene Wahl, dieser Waggon. Aber davon ist das Leben voll. Für solche falschen Entscheidungen könnte man sich ohrfeigen - und bei den allerschlechtesten begreift man nicht mal, dass man sie getroffen hat.
Verboten machte der Mutter Platz, trat einen Schritt beiseite und hielt sich an der Haltestange fest.
Unmittelbar bevor die Schiebetüren zugingen, sprang noch eine Polizistin in den Waggon. Gähnend ließ sie sich auf die Bank neben mir fallen. Ich presste die Knöchel fester um die Stofftasche zwischen meinen Füßen.
Prüfend sah ich Verboten an, der sich auf sein kopfstehendes Taschenbuch konzentrierte.
Der Zug beschleunigte, Hochhauswände sausten draußen an uns vorbei. Wenn ich die Augen leicht zusammenkniff, verwandelten sich die Straßenlaternen in ein endloses Perlenband.
Workuta saß zwei Reihen von mir entfernt. Hinter ihm mimte Aljoscha den müden Pendler. Beide sahen Verboten hinter dem Rücken der Polizistin kopfschüttelnd an.
Verboten tat so, als hätte er es nicht gesehen. Er blätterte um und streckte dabei kurz den Zeigefinger. Nach der nächsten Station.
Der Zug war halb leer, die Frühschichtler standen noch zu Hause vor dem Spiegel, putzten sich die Zähne oder drückten Pickel aus.
Die Polizistin gähnte und musterte säuerlich den Streckenplan über ihr, als wäre es ihr Steuerbescheid. An ihrem Gürtel hing eine Pistole. Das Lederholster war am Rand verschlissen, als hätte diese Bullenschnalle echt fleißig geübt, die Waffe zu ziehen.
Der Zug hielt an der nächsten Station. Ich ballte die Fäuste so fest, dass die Knöchel weiß wurden - näher an ein Gebet kam ich nicht ran -, und hoffte, die Polizistin würde aussteigen.
Doch sie band sich bloß die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und blieb.
Ein zweiter Bulle sprang rein, ein Mann. Er steuerte auf seine Kollegin zu und setzte sich neben sie.
Ich schnitt eine Grimasse in Verbotens Richtung. Inzwischen hatte er das Buch zugeklappt und studierte andächtig den hinteren Einbandtext, als stünden dort ein paar lang verschollene Zeilen des Vaterunsers. Den Regenmantel hatte er sich unter den Arm geklemmt.
Ich schwitzte wie in der Sahara, obwohl durch die einen Spaltbreit geöffneten Fenster kühle, nach Koks riechende Tunnelluft in den Wagen strömte. Das Kunstlederpolster unter meinem Hintern fühlte sich klitschnass an.
Als die S-Bahn aus dem Bahnhof fuhr, entdeckte ich im Beton der Lärmschutzwand erst ein tiefes Loch, dann schimmerte in diesem Loch ein gelber Fleck, als hätte irgendjemand es geschafft, mit einer Hacke einen Goldklumpen aus der Wand zu hauen.
Sowie die S-Bahn sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, war Workuta aufgestanden und im Durchgang auf Verboten zugetreten. Sie zischelten leise miteinander - bis Verboten urplötzlich die Notbremse zog. Obwohl ich auf den Halt gefasst gewesen war, kam er doch so überraschend, dass ich auf das streitende Pärchen geschleudert wurde. Der Mann hatte gerade die Haare seiner Freundin gepackt und riss ihr, als er von seinem Platz rutschte, ein ganzes Büschel aus. Damit war der Streit um die Haarlänge wohl entschieden. Das Mädchen schrie vor Schmerz laut auf.
Die beiden Bullen waren ebenfalls vom Sitz gekippt. Er hatte sich den Kopf an der Haltestange angeschlagen, hockte jetzt auf allen vieren auf dem Boden und hielt sich die Schläfe.
Als ich auf den Gang stolperte, hatte Verboten schon die Waggontür aufgestemmt. Ich war die Letzte, selbst Gänsesäger war vor mir rausgeschlüpft. Im nächsten Moment schlug Verboten mit seinem Hammer zehn Zentimeter lange Stahlkeile so unter die Tür, dass zwischen den beiden Hälften ein faustbreiter Spalt offen blieb. Solange die Keile sie fixierten, würde die Tür weder auf- noch zugehen. Verboten eilte bereits weiter und trieb Keile in die anderen Türen, damit man auch die nicht von innen aufschieben konnte.
Und Gänsesäger filmte.
»Shemagh«, sagte er, und ich schob das Tuch höher und wickelte es mir so um den Kopf, dass von meinem Gesicht nur noch ein millimeterbreiter horizontaler Spalt in Augenhöhe zu sehen war. Dann streifte ich Latexhandschuhe über.
Solange auch nur eine Tür einen Spaltbreit offen stand, konnte der Zug nicht weiterfahren, das verhinderte das Sicherheitssystem.
Die S-Bahn hatte vier Waggons. Ich war für die Seiten zuständig, Aljoscha und Workuta besprayten den Rest. Verboten hatte die Aufgabe zu verhindern, dass Leute ausstiegen, und Gänsesäger sollte die ganze Aktion filmen.
Ich begann mit dem Wagen, in dem ich gerade noch gesessen hatte: ein stahlblaues Zickzack, weiße Schneeflecken, und in die Mitte kam mit schwarzer Farbe:
ICE RATS
Ich bemalte die Fenster, verdeckte die Gesichter der Gaffer mit eiskalt schimmernder Farbe. Irgendjemand knipste mit dem Handy.
Ich zog mein Tuch höher und sprayte das Fenster zu.
Die Polizistin hämmerte von innen gegen die Scheibe. »Aufhören!« Von mir aus konnte sie befehlen, was sie wollte.
»Zwei Minuten«, verkündete Verboten.
Die Sicherheitsleute würden innerhalb von fünf Minuten aufkreuzen. Wir würden es in vier Minuten schaffen müssen.
Ich schleuderte die leere Dose neben das Gleis. Die Zeit war zu knapp, um nachzusehen, wie die anderen vorankamen. Ich nahm mir eine neue Dose Blau, die andere Hand versprühte weiße Farbe, ich malte mit beiden Händen gleichzeitig.
Die Bahn verwandelte sich nach und nach in einen großen Eisblock.
Irgendwer packte mich bei der Schulter, als ich gerade beim letzten Fenster war. Die Polizistin hatte ihren Arm durch die schmale Öffnung zwischen den...
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