Kapitel 1
April
Aurélie
Wie jeden Morgen bei Tagesanbruch ging Aurélie am Strand entlang und genoss es, ihn noch so unberührt und in seiner vollen Schönheit erleben zu können. Keine Sonnenanbeter, keine Schnorchler, keine Kite- oder Windsurfer. Nur ein Fischerboot am Horizont und Möwen, die ihre Runden drehten. Es war fast halb sieben, und allmählich ging die Sonne auf, färbte den Himmel in den unterschiedlichsten Orange- und Gelbtönen. Die Luft war erfüllt von Salz und Seetang, und Aurélie fühlte sich durch diesen Duftcocktail wie gestärkt, vergaß sogar für einen Moment das deprimierende Gespräch mit dem General Manager von gestern Abend. Sie ließ den gepflegten Hotelstrand mit seinen Strohschirmen und Liegestühlen hinter sich. Anstelle von Kokospalmen - die nur gepflanzt worden waren, weil sie der Idealvorstellung eines Paradieses entsprachen - säumten nun Filaos den Strand. Ihre benadelten Zweige wippten im Wind. Aurélie wusste, dass Touristen die Filaos, die auch Kasuarinenbäume genannt wurden, oft mit Pinien oder Lärchen verglichen.
Sie blieb stehen und atmete tief durch. Ein Gefühl tiefen Friedens breitete sich in ihr aus. Hier kam das wahre Mauritius zum Vorschein, sogar der Sand war rauer und wilder durch das vermehrte Schwemmholz und Korallengestein. Sie setzte sich in den Sand und betrachtete das Meer, dessen schäumendes Wasser über das Ufer und wieder zurück schwappte und unzählige Muscheln und Gestein zurückließ.
Plötzlich überfiel sie wieder eine bleierne Schwere, und auch wenn sie sich noch so sehr dagegen wehrte, kreisten ihre Gedanken erneut um das Gespräch von gestern Abend. Enttäuschung, aber auch Wut überkamen sie. Sie hätte diesen Posten als Vizedirektorin bekommen sollen, sie! Als sie erfahren hatte, dass Divash Gungaphul in Rente gehen würde, hatte sie sich gleich beworben und war zuversichtlich gewesen, als seine Nachfolgerin auserwählt zu werden. Tja, so konnte man sich täuschen.
Energisch ergriff sie etwas Sand und warf ihn weg. Dann sprang sie auf, zog ihre Tunika über den Kopf und rannte ins Meer hinein, tauchte ins Wasser und kraulte hinaus. Sie liebte dieses Gefühl der Schwerelosigkeit und Befreiung, wie wenn alles Negative von ihr abgewischt würde.
Als sie sich mit den sanften Wellen wieder ans Land spülen ließ wie eine gestrandete Meerjungfrau, sah sie drei Jeeps mit Surfbrettern auf den Dächern heranfahren, die hinter den Bäumen parkten und mehrere Leute in Neoprenanzügen ausspuckten. Aurélie seufzte. Die Windsurfer kamen auch immer früher. Aber kein Wunder, denn der Le Morne Public Beach gehörte zu den beliebtesten Surf Hotspots der Welt. Eigentlich umgab ein Korallengürtel die Insel - bis auf den Süden - und hielt Wellen und gefährliche Fische von den Stränden fern. Hinter dem Riff jedoch befand sich ein Surferparadies, welches sich von der Flachwasserlagune über das Little Reef entlang des Platin Rouge bis nach Manawa, Chameau und den berühmten Wellenspot »One Eye« erstreckte.
Aurélie hatte es auch schon versucht, aber leider war sie mehr im Wasser gewesen als auf dem Brett und musste irgendwann aufgeben. Bis auf das Schwimmen war sie leider vollkommen unsportlich.
Sie beobachtete, wie die Surfer mit erwartungsvollen Gesichtern auf das Meer schauten, und entschied sich zu gehen. Auf dem Weg zurück fiel ihr auf, dass über den Le Morne Brabant ein paar orange gefärbte Wölkchen zogen, die aussahen wie eine Schäfchenfamilie. Der 556 Meter hohe Berg, zu dessen Fuße die weißen Korallenstrände lagen und um den herum sich viele Hotels angesiedelt hatten, war das Wahrzeichen der Halbinsel Le Morne im Südwesten der Insel, wenn nicht sogar von ganz Mauritius. Seine Vergangenheit war jedoch überschattet von einem Drama, über das Aurélies Großvater oft sprach. Nach der Abschaffung der Sklaverei 1835 schickten die Briten eine Armee auf den Berg, um die versteckten Sklaven von ihrer neu gewonnenen Freiheit in Kenntnis zu setzen. Die Sklaven jedoch - überzeugt, man würde sie zurückholen - stürzten sich den Berg hinunter in den Tod, um einer erneuten Versklavung zu entgehen. Aurélies Großvater erzählte jeweils von einem Vorfahren namens Nouel, der den Tod gewählt hatte und seine schwangere Frau Gaelle zurückließ. Es existierte sogar eine Aufzeichnung von Gaelle, die Aurélies Großvater hütete wie einen Schatz. Trotz dieser Tragödie fühlte sich Aurélie durch Le Morne Brabant auf eine besondere Art beschützt, und für die Kreolen war er ein heiliger Berg.
Als Aurélie kurz darauf über den Vorplatz des Personalhauses schritt, sah sie vor der Kantine ein paar müde aussehende Angestellte aus dem Housekeeping und dem Service, die den Kaffee aus der Kantine tranken und die erste Zigarette am Morgen rauchten. Aurélie, die den wässrigen Kaffee aus dem Automaten nicht ausstehen konnte, ging beim Gedanken an eine dampfende Tasse aus ihrer eigenen Espressomaschine gleich schneller und sprang die Stufen hoch zu ihrem Apartment im zweiten Stock. Als sie die Tür öffnete, dröhnte ihr Justice Lecoqs Song Bizin Twa Mo Baba entgegen. Ihre Mitbewohnerin Liliane hörte die Musik des mauritischen Sängers momentan rauf und runter, besonders die kreolischen Lieder. Inoffiziell war Morisyen-Kreolisch - das sich im Laufe der Jahrhunderte zwischen dem französischen Volk und den afrikanischen und indischen Sklaven entwickelt hatte - die Hauptsprache auf Mauritius. Offiziell jedoch waren es Französisch und Englisch.
Mit einem »Guten Morgen!« schritt Aurélie ins Wohnzimmer, wo Liliane summend im Schneidersitz vor dem großen Spiegel saß und ihre langen schwarzen Haare mit einem Glätteisen bearbeitete. Eigentlich hatte sie Afrolocken wie Aurélie, führte aber nach jeder Haarwäsche eine aufwendige Prozedur durch, für die Aurélie zu ungeduldig gewesen wäre.
»Wie schaffst du das nur immer, so früh aus dem Bett zu kommen?«, fragte Liliane. »Mir reicht es zweimal die Woche, wenn ich die Haare waschen und glätten muss.«
»Es tut einfach gut. Ich fühle mich danach gestärkt für den Tag.« Aurélie öffnete die Balkontür und hängte das Badetuch über den Stuhl.
Später, nachdem sie geduscht hatte, gesellte sie sich mit einem Kaffee zu Liliane und setzte sich auf die Couch. Liliane wusste noch nichts von dem Gespräch, das sie gestern Abend mit Joachim Schröder, dem General Manager, geführt hatte, denn sie hatte bereits geschlafen, als Aurélie nach Hause gekommen war.
»Ist gestern mal wieder spät geworden bei dir, hm?«
»Ja, war einiges los wegen der schwedischen Reisegruppe. Und dann hatte ich noch ein Gespräch mit Joachim Schröder.« Sie atmete tief durch. »Ich habe den Posten als Vizedirektorin nicht erhalten.«
»Nein!« Liliane schaltete das Glätteisen aus, legte es zur Seite und drehte sich zu Aurélie um. Sie sah witzig aus, eine Seite ihrer Haare glatt, die andere kraus.
»Der Vorstand hat sich für Raoul Branquart entschieden.«
»Ach, Aurélie, es tut mir echt leid. Ich weiß, wie sehr du den Posten wolltest.«
Sie nickte. Und wie sie ihn wollte!
Liliane stand auf und setzte sich neben sie auf die Couch. »Ich verstehe das nicht. Joachim hatte dich doch empfohlen, oder?«
»Ja, aber Raoul hat sich auch beworben. Er ist immerhin Gastronomieleiter und viel älter als ich. Ah, und er ist Absolvent der César Ritz Hotelfachschule in der Schweiz, hat er mir mal gesagt. Da kann ich natürlich nicht mithalten.« Sarkasmus hatte sich in ihre Stimme geschlichen, und Liliane schaute sie mitleidig an.
»Du bist genauso qualifiziert wie er. Immerhin hast du es bereits zur Rooms Division Managerin geschafft und hast mehrere Abteilungen unter dir.«
»Ja, nur zählt das offenbar nicht.« Dabei arbeitete sie bereits seit ihrem achtzehnten Lebensjahr im Sunset Hotel Golf & Spa Le Morne. Als Praktikantin hatte sie begonnen, und inzwischen leitete sie Empfang, Reservierung, Housekeeping und die Wäscherei. Das Sunset gehörte zur Kette Royal Beach Hotels and Resorts, die nicht nur auf Mauritius, sondern auch auf den Seychellen, den Malediven und in Thailand Luxushotels besaß.
»Irgendwann wirst du schon noch weiter aufsteigen«, meinte Liliane aufmunternd. »Du hast noch Zeit, bist jung und -«
»Eben: jung! Deshalb haben die mich nicht genommen. Und weil ich eine Frau bin.« Und vielleicht wegen Patrice, dem Inhaber und CEO der Royal-Beach-Kette, fügte sie gedanklich hinzu, behielt es aber für sich. Liliane wusste nicht, dass zwischen ihr und Patrice etwas gelaufen war und sollte es auch nicht erfahren. Sie hätte kein Verständnis dafür gehabt.
»Hat dir Joachim das so gesagt?«, fragte sie.
»Nein. Er meinte nur, der Vorstand wolle jemanden mit mehr Führungserfahrung. Und Raoul hat, schon bevor er nach Mauritius kam, ein kleines Hotel in Paris geleitet.«
Liliane schaute grimmig auf die Topfpflanze neben der Couch, als wäre diese für...