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Zürich Donnerstag, 16. Juni 2016
Benjamin schielte auf seinen dunkelblauen Kugelschreiber. In silberner Schrift war das Logo des Hotels darauf eingraviert: Grandhotel Schwanenhof Zürich. Leonie hatte sich damals für dieses Exemplar entschieden, da es edler wirkte als so manch anderer billiger Werbekuli. Dank ihres Verhandlungsgeschicks hatte sie sogar einen großzügigen Rabatt erhalten, doch am Ende hatten die Kugelschreiber immer noch ein Vermögen gekostet. Benjamin klickte mehrmals, als wolle er sich vergewissern, dass der Stift seinem hohen Preis gerecht würde. Klick. Klick. Klick.
»Ben!«
Klick. Klick. Klick.
»Ben! Be-eeen! Hörst du mir gar nicht zu?«
Er schaute auf. Mara blickte ihn verärgert an. Zwischen ihren Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Sie sollte nicht immer so böse schauen, sonst bliebe die Falte womöglich irgendwann bestehen. Immerhin war sie auch schon dreiunddreißig, und obwohl sie mit ihrem dunkelbraunen langen Haar und den meerblauen Augen sehr hübsch war, umspielte oft ein harter, verbissener Zug ihren Mund.
»Ich höre dir zu, Mara«, erwiderte er scharf.
»Na, da bin ich aber froh. Ich dachte schon, der Kugelschreiber habe deine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen.« Ihre Stimme strotzte nur so vor Sarkasmus. Die anderen Anwesenden des Kadermeetings starrten verlegen auf den Tisch oder blätterten in ihren Unterlagen.
»Gut, fahren wir fort.« Mara wandte sich an den Chefconcierge Pedro, einen fünfzigjährigen Portugiesen mit dickem Schnurrbart. Sie warf ihm die Schwanenhof Morgenpost zu, einen Flyer mit aktuellen Informationen, den die Gäste beim Frühstück erhielten. »Pedro, die Nachrichten in der Morgenpost waren heute schon wieder falsch. Die Ukraine spielt nicht gegen Irland, sondern gegen Nordirland. Und weißt du, wer mich darauf aufmerksam gemacht hat? Ein Gast, Pedro, ein Gast! Das war richtig peinlich! Solche Fehler dürfen einfach nicht vorkommen, okay?«
Pedro nickte knapp und kritzelte etwas auf seinen Notizblock.
Benjamin klickte wieder mit dem Kugelschreiber und hatte sofort Maras Aufmerksamkeit. »Wenn der falsche Spielplan der Fußballeuropameisterschaft unser größtes Problem ist, sind wir ja gut dran«, bemerkte er.
Pedro prustete laut los, doch Mara brachte ihn mit ihrem giftigen Blick schnell zum Verstummen. Ihre vor Wut lodernden Augen wanderten zu Benjamin, doch sie schwieg und wandte sich wieder ihrer Liste zu. »Also, kommen wir zum Marketing. Jessica, schon Ideen für den nächsten Newsletter? Wir müssen unbedingt mehr Werbung für den Wellnessbereich machen.«
Benjamin hörte nicht mehr zu. Marketing. Das Wort versetzte ihm nach wie vor einen kleinen Stich. Leonie war dafür zuständig gewesen. Er schaute zu Jessica, der unscheinbaren Marketingleiterin, die seiner Meinung nach viel zu wenige kreative Ideen einbrachte. Aber es war ihm egal. Alles war ihm egal.
So sah er während Jessicas PowerPoint-Präsentation die ganze Zeit nach draußen und verfolgte das wechselhafte Juniwetter. Feiner Regen umsprühte die Dächer der Stadt. Gelegentlich versuchte sich die Sonne zwischen den grauen Wolken durchzupressen, allerdings vergeblich.
»Was für eine gute Idee!«, jubelte Mara plötzlich. »Findest du nicht auch, Ben? Jessica, zeig ihm doch mal dein Konzept. Ich vermute nämlich, er hat deiner Präsentation keine Beachtung geschenkt.«
Jessica schob ihm einen schwarzen Ordner über den Tisch zu.
»Was ist das?«, fragte er.
»Jessicas Werbekonzept für den Wellnessbereich«, erklärte Mara. »Aus der Präsentation, die sie uns soeben gezeigt hat«, fügte sie bissig hinzu.
Während Jessica weiterhin ihre Einfälle anpries, überflog er das Konzept. Nicht schlecht, musste er zugeben. Anscheinend hatte er sie vorschnell verurteilt. Er blätterte weiter, bis er beim Anblick einer Seite stutzte. Eine Mindmap von Leonie! Sie hatte es geliebt, für alles Mögliche altmodische Mindmaps zu gestalten. So würden die Ideen viel besser fließen, hatte sie sich stets verteidigt, wenn er sie damit aufgezogen hatte.
Er starrte auf das Blatt. Ihre Mindmaps entsprachen immer dem gleichen Schema: In der Mitte stand das Hauptthema, und außenrum waren sämtliche Schlagworte aufgelistet. Alles war von Kreisen umrundet und mit Verbindungspfeilen versehen wie ein Baum mit vielen Ästen.
»Woher hast du das?«, fragte er und stand auf.
Jessica errötete. »Das ist eine Mindmap von Leonie.«
»Ich weiß sehr wohl, was das ist! Ich wollte aber wissen, woher du es hast!«
»Ben, jetzt beruhige dich mal, okay?«, warf Mara ein. »Setz dich wieder.«
Doch er hörte nicht auf sie, ging um den Tisch herum und warf Jessica den Ordner hin. Sie zuckte zusammen. »Ich habe es in Leonies Unterlagen gefunden und gedacht, dass ich ihre guten Ideen doch übernehmen könnte.« Hilfesuchend wandte sie sich an Mara. »Da ist doch nichts Falsches dabei, oder?«
»Natürlich nicht«, beruhigte Mara sie und funkelte Benjamin an.
Die peinlich berührten und mitleidigen Gesichter aller anwesenden Mitarbeiter waren auf ihn gerichtet. Hört auf, mich so anzuglotzen, hätte er am liebsten geschrien, doch er blieb stumm. Er verspürte den heftigen Drang wegzurennen. Einfach auf und davon, bevor seine Gefühle ihn komplett überwältigten. »Ich muss gehen«, stammelte er und packte seine Unterlagen zusammen.
Mara hatte es offenbar die Sprache verschlagen und sie starrte ihn leicht dümmlich an. »Das Meeting ist noch nicht vorbei«, wandte sie ein. Benjamin stand bereits vor der Tür und drehte sich nochmals um. »Ich nehme die nächsten Tage frei.«
»Wie bitte?«
Wortlos zog er die Tür hinter sich zu und rannte in sein Büro, um seine Aktentasche zu holen. Er musste einfach weg.
»Ben!« Mara, die ihm gefolgt war, stand im Türrahmen. »Was ist los?«
»Ich muss weg.«
»Wie, weg? Du kannst nicht einfach weg!«
»Es wird ziemlich ruhig morgen und über das Wochenende, ihr braucht mich hier nicht.« Er griff nach seinem Handy, dem Notebook und einer Packung Gummibärchen auf dem Schreibtisch und verstaute alles in der Aktentasche.
Mara war inzwischen nicht mehr wütend, sondern ungewohnt verzweifelt. »Wo willst du denn hin?«
»Ins Tessin.«
»Aha.« Sie kam auf ihn zu. »Ben, ich weiß, dass dich Leonies Mindmap gerade an sie erinnert hat. Und ich bin mir dessen bewusst, dass es nicht einfach für dich ist. Auch für mich, Kim und Mutter ist es nicht leicht. Aber inzwischen ist schon fast ein Jahr vergangen seit dem Unglück. Du musst irgendwann darüber hinwegkommen. Und einfach wegrennen, nur weil du etwas gefunden hast, das dich an sie erinnert, ist keine Lösung.«
»Mara, ich habe meine Frau verloren. Am Tag meiner kirchlichen Hochzeit! Wir waren gerade mal einen Tag offiziell verheiratet. Seither habe ich jeden einzelnen beschissenen Tag gearbeitet! Doch ich halte es gerade nicht mehr aus. Ich brauche ein paar Tage für mich.«
»Ausgerechnet im Tessin? Dort erinnert dich doch auch alles an Leonie! Und im Gegensatz zu hier kannst du dich dort nicht mit Arbeit ablenken.«
Er griff nach seiner Mappe. »Egal.«
***
Fast eine Stunde hatte Benjamin in der Kolonne vor dem Gotthardtunnel warten müssen, bis er endlich weiterfahren konnte. Aber es war Donnerstagnachmittag, die Wetteraussichten für das Wochenende in der Deutschschweiz waren zum Heulen, und im Tessin wurde strahlender Sonnenschein erwartet. Kein Wunder, dass es viele Leute in den Süden zog. Er hätte besser die Bahn nehmen sollen, genau wie er und Leonie das immer getan hatten. Leonie. Mara hatte schon recht, hier unten würden ihn die Erinnerungen an sie ebenso quälen wie zu Hause. Vielleicht sogar noch mehr. Aber das war auch gut so, er hatte es nicht anders verdient.
Inzwischen hatte er das Dorf Maggia, benannt nach dem gleichnamigen Fluss, der sich durch das Alpental wand, erreicht. Er stellte den Wagen im Dorf ab, da es weiter oben in der Nähe des Ferienhauses wenige Parkmöglichkeiten gab und die Anfahrt durch die schmalen, gepflasterten Gassen recht mühsam war.
Er sammelte den Abfall im Auto zusammen - eine Pet-Flasche, ein Sandwichpapier und die bereits leere Packung Gummibärchen - und griff nach seiner Aktentasche. Als er aus seinem klimatisierten Audi stieg, erschlug ihn die drückende Hitze beinahe. In voller Stärke brannte die Sonne auf ihn hinunter, und er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Bei der Bäckerei Poncini kaufte er sich zwei große Panettoni. Leonie und er waren süchtig gewesen nach dem luftigen Süßgebäck mit den kandierten Früchten und Rosinen.
Nachdem er in einem kleinen Supermarkt noch ein paar Lebensmittel besorgt hatte, ging er durch die Gassen des Dörfchens, vorbei an Steinmauern, mit Traubenpflanzen überwachsenen Pergolen und den für das Tessin so typischen Rustici, kleinen rustikalen Häuschen aus Stein und Holz.
Vor einem Eisentor in einer hohen Steinmauer blieb er stehen, um den Schlüssel aus der Tasche zu kramen. Wie gut, dass er den am Bund gelassen hatte, selbst als er nicht mehr hierhergefahren war. Leonie und ihre Schwestern hatten das Rustico von ihrem Großvater Oskar erhalten, der aufgrund seiner Altersdemenz in einem Pflegeheim in der nahegelegenen Ortschaft Ascona lebte. Während Leonies Schwestern kaum Interesse an dem Ferienhaus gezeigt hatten, waren Leonie und er sehr gerne hergekommen.
Als er das Tor...
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