Schweitzer Fachinformationen
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Nervosität äußerte sich bei Helena nicht nur durch ein schneller pochendes Herz, sondern auch in der Form eines eigenartigen Kribbelns im linken Handgelenk. Schon früher vor den Ballettauftritten hatte sie damit zu kämpfen gehabt. Und jetzt, als sie sich dem Kronenberg näherte, kam es ihr vor, als würden tausende feine Nadeln in ihr Handgelenk stechen. Mit jedem Schritt verstärkte sich das unangenehme Gefühl. Sie ging an der Seepromenade entlang, zwischen einer Allee von Kastanienbäumen, die ein schattenspendendes Baumdach bildeten, vorbei an prachtvollen Jugendstilhotels, dem Casino, dem Tennisplatz beim Tivoli. Als sie das schmiedeeiserne Eingangstor des Kronenbergs erreichte, blieb sie stehen und atmete tief durch. Die Gitterstäbe waren mit einem Monogramm, einem großen K, verziert. An das Tor grenzten hohe Steinmauern, hinter denen sich kräftige Birken erhoben. Obwohl das Tor leicht offen stand, zögerte Helena kurz und bewunderte von hier aus die alten Mauern des imposanten Herrschaftsbaus. Dann straffte sie die Schultern und betrat den Hotelpark. Kieselsteinchen knirschten unter ihren Schuhen, als sie sich dem Gebäude näherte. Vor dem Terrassencafé blieb sie stehen und fragte sich plötzlich, ob es klug wäre, das Hotel durch den Hintereingang zu betreten. Am Ende würde sie sich noch verirren und musste jemanden vom Servicepersonal fragen, wie zum Beispiel die junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz, die sie gerade arrogant musterte.
Sie eilte um das Gebäude herum zum Haupteingang bei der Haldenstraße. Direkt vor dem überdachten Eingangsbereich stand ein schwarzer, glänzender Wagen. Ein Hotelpage in blauer Uniform lud Gepäck hinein, während ein Mann mit Chauffeursmütze einem asiatischen Geschäftsmann die Wagentür öffnete.
Unsicher betrat Helena die drei breiten Treppenstufen. Sofort öffnete sich die automatische Eingangstür und ließ sie eintreten in eine andere Welt. Ehrfürchtig schaute sie sich in der Lobby um, die an Prunk kaum zu übertreffen war. Der gewienerte, hellgraue Steinboden - war das Marmor? - glänzte so stark, dass sich die Lichter des riesigen Kristallleuchters an der Decke darin spiegelten. Farblich war alles perfekt aufeinander abgestimmt; von den rauchgrauen und cremefarbenen Chintzsesseln bis hin zu den hohen, mit weißen Lilien gefüllten Porzellanvasen. Als Helena den Empfang ansteuerte, musste sie drei Geschäftsmännern ausweichen, die so vertieft in ihre Unterhaltung waren, dass sie sie nicht sahen. Am Empfang stand eine Dame in geblümtem Seidenkleid und sprach mit dem Rezeptionisten. Helena stellte sich hinter sie und schnappte ungewollt ihre Worte auf.
»Wie tragisch!«, rief die Dame. »Noch vor zwei Wochen habe ich mit ihm telefoniert.« Sie sprach gut Deutsch, aber mit starkem englischen Akzent.
»Ich wollte ihn heute treffen.« Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und fixierte das Liliengesteck auf dem Tresen. Eine Locke ihrer tizianrot gefärbten Haarpracht fiel ihr in das perfekt geschminkte, aber schon recht faltige Gesicht. Sie strich sie hinter das Ohr. Ein langer, mit Diamanten besetzter Chandelier-Ohrschmuck blitzte auf, der die schlaffe Haut ihres Halses zu liebkosen schien.
»Unser Vizedirektor ist hier. Sie können sich mit ihm unterhalten«, schlug der Rezeptionist vor.
Die Dame drehte sich zu ihm. »Nein, das geht nicht. Ich muss mit jemandem von der Familie Kronenberg sprechen.«
»Nun, da wäre noch sein Vater, Ralph Kronenberg. Er leitet die Hotelkette.«
»Ralph Kronenberg!«, spie sie regelrecht aus. »Ausgerechnet der!«
Helena horchte auf. Die Frau war offenbar nicht gut auf Ralph Kronenberg zu sprechen. Helena trat einen kleinen Schritt näher, um die Worte besser aufzuschnappen.
»Aber eine andere Wahl habe ich wohl nicht. Kann ich mich mit ihm unterhalten?«
»Tut mir leid, Mrs Dixon, aber er ist auf der Beerdigung seines Sohnes.«
»Natürlich, die Beerdigung. Dann richten Sie ihm bitte aus, er soll mich bei Gelegenheit kontaktieren. Ich bin ja eine Weile hier.« Sie griff nach der Chaneltasche auf dem Tresen und verabschiedete sich. Als sie sich umdrehte, stieß sie beinahe mit Helena zusammen.
»Bitte entschuldigen Sie«, murmelte Helena.
»Nichts passiert«, sagte die Dame mit gewinnendem Lächeln und rauschte davon, eine Wolke zartes Rosenparfüm zurücklassend.
Helena sah ihr nach. Zu gerne hätte sie gewusst, was sie für ein Problem mit Ralph Kronenberg hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Rezeptionist freundlich.
»Ich . äh . ja. Helena Saxer ist mein Name. Ich habe einen Termin bei Frau Geiger.«
Er griff zum Hörer. »Ich melde Sie an. Bitte nehmen Sie Platz.«
Frau Geiger, Hauswirtschaftsleiterin im Kronenberg, erschien zwei Minuten später in der Halle. Sie war eine massige Person Mitte fünfzig mit aufgedunsenem Gesicht. Nachdem sie sich kurz vorgestellt hatte, führte sie Helena in ein Sitzungszimmer auf der ersten Etage. Im Gegensatz zur pompösen Hotellobby war der Raum schlicht gehalten und enthielt nur einen langen Glastisch mit schwarzen Lederstühlen und einen riesigen Flachbildfernseher an der Wand. Zwei Wasserflaschen und vier Gläser standen auf dem Tisch bereit, doch Frau Geiger bot Helena nichts davon an.
Helena erinnerte sich an ihr Vorstellungsgespräch bei Graziella vor ein paar Jahren, das ihre ehemalige Chefin in ihrem chaotischen kleinen Büro geführt hatte. Sie hatte sich auf Anhieb mit der damals sechzigjährigen Frau namens Graziella verstanden, und im Laufe der Jahre war eine Freundschaft entstanden. Vor neun Monaten hatte Graziella einen Schlaganfall erlitten. Ihre Tochter übernahm das Geschäft und änderte bereits in den ersten Wochen das ganze Konzept. Neue Kleidermarken, neue Ladeneinrichtung, und am Ende sogar ein Roboter. Nur der Name war geblieben. Helena würde sich allerdings nicht wundern, wenn auch der bald zur Geschichte gehörte.
Sie konzentrierte sich auf Frau Geiger, die schon die ganze Zeit auf den Lebenslauf starrte und über das Hotel berichtete. Helena musterte sie. Mit der langen, geröteten Nase und den kleinen Äuglein, die durch das schwammige Gesicht beinahe verschluckt wurden, machte sie einen witzigen Eindruck. Ihre dunkelgraue Kurzhaarfrisur in Topfform glich dem Fell einer Maus und wirkte wie eine schief aufgesetzte Perücke. Die Frau erinnerte Helena an den Maulwurf Grabowski aus dem Kinderbuch.
»Sie sind also Balletttänzerin?«, fragte Frau Geiger mit ihrer nasalen Stimme, nachdem sie ihre Präsentation des Kronenbergs beendet hatte.
»Ich war Balletttänzerin, vor langer Zeit. Ich konnte die Tanzausbildung wegen der Schwangerschaft nicht abschließen.«
»Sie haben Zwillinge«, sagte sie und blinzelte auf den Lebenslauf, als traute sie ihren Augen nicht.
»Ja. Die beiden werden im September sechzehn.«
»Mhm . Hier steht, Sie sprechen Französisch. Ein Diplom haben Sie aber nicht?«
»Nein. Aber ich hatte damals an der Ballettakademie eine Tanzlehrerin aus Paris, die nur französisch mit uns sprach. Es war ihr wichtig, dass wir nicht nur die Begriffe der Ballettsprache beherrschen, sondern uns richtig mit ihr unterhalten können. Später wollte ich meine Kenntnisse nicht verlieren und lese seither regelmäßig französische Bücher.« Wenigstens eine Fähigkeit, die sie hatte. Die Bücher lieh sie sich in der Bibliothek aus, und unbekannte Wörter schlug sie in ihrem alten Wörterbuch aus der Schule nach. So erweiterte sich ihr Wortschatz nach und nach, worauf sie stolz war.
»Französisch hilft Ihnen hier nicht groß weiter«, bemerkte Frau Geiger abschätzig. »Portugiesisch oder eine slawische Sprache wären vorteilhafter, dann könnten Sie sich besser mit den anderen Zimmermädchen verständigen. Und die Gäste reden meistens Englisch. Das können Sie aber nicht?«
»Nur ein wenig Schulenglisch.«
Frau Geiger kritzelte etwas auf ihren Block und stellte anschließend weitere Fragen über Stärken und Schwächen. Am Ende schlug sie Helena einen Probetag vor. »Passt es Ihnen morgen?«, fragte sie.
Helena atmete erleichtert auf. »Ja, das passt.«
»Perfekt. Wenn alles gut geht, unterzeichnen wir Montag den Vertrag und Sie können Dienstag beginnen. Ihr Bruttogehalt beträgt übrigens 3.417 Franken.«
Helena erschrak. Das Glücksgefühl, welches sie soeben verspürt hatte, löste sich jäh wieder auf. 3.417 Franken! Fast siebenhundert Franken weniger als bei Graziella!
Frau Geiger räusperte sich. »Das entspricht dem Mindestgehalt für Mitarbeiter ohne Berufslehre«, sagte sie, da sie Helenas Gedankengänge anscheinend spürte. »Laut Gastgewerbe-Gesamtarbeitsvertrag.«
»Ja, ist gut«, bemerkte Helena kleinlaut. Sie hatte keine andere Wahl.
Auf dem Heimweg radelte Helena ein Stück am See entlang und überlegte, wie sie mit dem Gehalt durchkommen sollte. Jetzt mit dem Arbeitslosengeld erhielt sie zwar noch weniger, aber...
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