Schweitzer Fachinformationen
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"You won't return the same person." Lässig winkt mich der glatzköpfige Hostelangestellte heran, zwinkert mir zu, steht da in Kranichmusterkimono und Ledersandalen, aus denen blanke Zehen lugen. "Are you sure you want to do this?"
Ich zucke mit den Schultern, woher soll ich das wissen.
Er kramt kurz, reicht mir zwei Wanderstöcke, Quechua, Eigenmarke Decathlon. "Take these at least then."
Wieder zucke ich mit den Schultern, nicke ihm zu, nehme die Stöcke und lege sie auf den Boden neben das Doppelstockbett. Lege sie zu meinen anderen Utensilien für die Besteigung: eine Packung Cranberries für die schnelle Kohlenhydratversorgung, eine salzige Nussmischung für Fette und Mineralien, eine Wasserflasche und die Plastikpackung Udon-Nudeln vom 7-Eleven um die Ecke für das Mittagessen auf dem Gipfel.
Der Wecker ist auf 4 Uhr gestellt. Um 23 Uhr lege ich mich in die untere Ebene des Doppelstockbetts. Obwohl ich allein im Achterzimmer bin, ziehe ich den am Bett über mir befestigten dunkelblauen Vorhang zu. Wie immer, wenn ich weiß, wenig Schlaf liegt vor mir, habe ich eine unruhige Nacht.
Am Morgen stecke ich mir Kopfhörer in die Ohren und höre einen Radiobeitrag vom Deutschlandfunk, den ich mir vor zwei Tagen heruntergeladen habe, als ich beschloss, von Tokyo aus zum Fuji zu reisen.
"Mögen unsere sechs Sinne gereinigt und möge das Wetter an diesem ehrenwerten Berg schön sein", klingt es beschwörend aus dem Lautsprecherwagen, der die Prozession zur alljährlichen Gipfeleröffnung des Fuji anführt.
Ich frühstücke hastig, Toastbrot, Tofu und salzig eingelegte Ume-Früchte, schnappe meinen Rucksack, trete aus der Hosteltür. Ich blinzle, als ein frischer Windhauch mich berührt.
Der Morgen ist verheißungsvoll: Über dem erst matt beleuchteten Himmel sind kaum Schleier zu erkennen. Der Fuji steht fest, klar sichtbar. Dabei heißt es, der Fuji sei schüchtern, lieber bedecke er sein Gesicht hinter Dunst und Wolken. Folgt man dem Bild - der Fuji-san als empfindsames Wesen -, gibt er sich heute offenherzig. "Komm", sagt er, "worauf wartest du?"
Das Wetter ist schön.
44 Kilometer, 3000 Meter aufwärts, 3000 Meter abwärts. Zahlen, die ich vor mich hin wiederhole, um ihre Bedeutung zu erfassen. Normalerweise begeht man den Fuji von hier aus in zwei Tagen, am ersten bis zu einer der Unterkünfte an den oberen Bergstationen, am zweiten die letzten Meter zum Gipfel und wieder bergab. Ich nehme mir nur diesen einen Tag, mein Reisegepäck lasse ich im Hostel liegen. Vor mir der lächelnde Berg, unverrückbar.
Ich mache die ersten Schritte. Bald schon merke ich: Auf zwei leichte, wie verflogene, folgt ein schwerer, hinkender. Etwas hängt noch an mir, bedrückt mich. Aus dem Alltag ist es mir bis an den Fuß des Fuji gefolgt: Die Arbeit an meiner Dissertation drückt auf meine Schultern; sie ist ein Ungeheuer, übergroß und wabernd, ich bekomme es nicht zu fassen; nicht zu zähmen, nicht abzuwerfen.
Es wird nicht leichter dadurch, dass ich es selbst gewählt habe. Motiviert hatte mich das Ziel, durch meine Forschung einen Unterschied zu machen. Doch auch nach Jahren Arbeit ist wenig konkret von diesem Unterschied zu merken. Mir ist mein Ziel abhandengekommen.
Im Wissenschaftsbetrieb fühle ich mich fehl am Platz, ich denke, spreche, fühle anders als meine Kolleginnen und Kollegen. Ich gehöre dort nicht hin. Das muss man mir nicht sagen, das spüre ich. Und dennoch komme ich nicht weg von all dem - ich wüsste nicht, wohin.
Wie soll ich ändern, wenn ich nicht weiß, zu was ich ändern soll?
Bewegen muss ich mich, in irgendeine Richtung muss ich gehen.
Die ersten Schritte gehe ich geduckt. Um mich die klare Luft des morgendlichen Bergortes Yamanashi.
Der Fuji liegt da, nah. Konkret und eindeutig hebt sich seine Bergspitze ab, das breite Plateau, das von hier unten den innenliegenden Krater nur vermuten lässt. Ich stehe auf dem Fußweg einer Stadtbrücke, links von mir die flachen Absperrpoller zur Schnellstraße, rechts ein dreigliedriges Geländer. Die Ampel leuchtet Grün auf die leere Straße; japanische Schriftzeichen, die Wege für andere weisen. Vor mir liegt als einzige Erhebung weit und breit, freistehend, der Vulkan. Davor nur ein paar Häuser, ein brauner Kastenwagen, ein Hund, der mich von seiner Hütte wie vom Thron anschaut, und eine Reihe an Strommasten, in gleichmäßigem Abstand. Ich zähle, 13 Kabel. So viel Energie.
Das Ziel liegt klar vor mir, ich muss nur darauf zugehen. Aufrechter nun, beschleunige ich meinen Schritt.
Immer besser gelaunt lasse ich die noch schlaftrunkene Kleinstadt hinter mir und setze die ersten Schritte in den Wald. Der Pfad, den ich betrete, stammt aus der Edo-Zeit, in der die Tokugawa-Shogune die Insel vom Rest der Welt abschotteten. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert war der Yoshidaguchi-Weg ein vielgenutzter Pilgerpfad.
Eine Allee führt mich zum roten Tor des Sengen-Schreins. Ein steinerner Junge mit platter Mütze, der mir wahlweise frech oder ermutigend zulächelt; meine Ausrüstung auf dem Boden zur ersten Pinkelpause.
Im Shinto-Glauben ist der Fuji ein heiliger Berg, Wohnort zahlreicher Gottheiten, über allen die Konohanasakuya-hime, "die wie Baumblüten herrlich-blühende Prinzessin". Ihr Symbol ist die Kirschblüte, das Feinfühlige und Süße des Lebens. Es ist gut, dass sie hier ist, aufmerksam, dass sie die verschwitzten und verschmierten Wanderer empfängt.
Es gibt eine Glaubensgemeinschaft, die sich einzig der Anbetung des Fuji verschrieben hat, die Fujiko. Einmal im Jahr besteigen sie gemeinsam ihren Berg. Auf Saibokus, Holztafeln, schreiben sie ihre Wünsche auf, Gesundheit, beruflicher Erfolg, Liebesbeziehungen. Dann werfen sie die Tafeln in ein großes Feuer, aus dem das schnell brennende Holz in grauen Schwaden fortsteigt; die Pilger hinterher. Der Yoshidaguchi-Pfad ist gesäumt von Schreinen, die kontemplativ und nach festen Riten begangen werden.
Warum begibt sich jemand auf Pilgertour?
Reinigung. Läuterung. Hoffnung.
Loswerden, Annehmen, Wunsch zur Änderung.
Der Weg vor mir ist verwachsen, Blättergrün, unter dem ich mich wegbeuge, manchmal nur mühsam erkennbare Spur. Der Pfad scheint von der Zeit abgelöst, ausgetauscht durch moderne Moden. Die ab und zu auftauchenden bemoosten Steinfiguren und Torbögen verstärken den Eindruck. Es ist mein Glück: Die Einsamkeit und das Unwegsame werden für mich zum Wert, der mich in meiner Bewegung trägt.
Ich weiß sehr wohl: Über mir, in etwa 2300 Metern, warten Scharen an Wanderern, die bis zur Baumgrenze, der vierten Station, in Bussen hochgekarrt werden, über eine befestigte Straße; die das Loslaufen aussparen. Von dort schlängeln sie sich die Vulkanpfade hinauf, in Strömen. Eine andere Art von Energie, eine andere Art des Pilgerns. Mittlerweile hat mich hoher Wald verschluckt, zwischen 20 bis 30 Meter hochragenden Bäumen bin ich selbst noch keinen Meter in die Höhe gegangen.
Der Fuji-san hat viele Übersetzungen, "endloser Berg", "reicher Krieger", "Blume", "Regenbogen". Wie kann etwas, mit nur einem Wort bedacht, so viele unterschiedliche Namen haben?
Es heißt, die Aussprache japanischer Schriftzeichen wandelt sich, und mit ihr die Bedeutung der Zeichen. Es ist nur ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass sich mit der Bedeutung der Zeichen auch das Wesen des Bezeichneten ändert. Vielleicht entwickeln sich die Namen von etwas zu etwas anderem. Vielleicht haben sie nie etwas Konkretes gemeint. Vielleicht erscheinen sie dem Betrachter als Kippfigur, die spontan ihre Gestalt wechselt, werden zu einem "Mal so, mal so".
Meine Haare schon nass von der hohen Luftfeuchtigkeit wird der Wald dichter. Er nimmt mich auf. Ein paar zaghafte Schritte, ein Schnuppern: der Geruch von japanischen Rotkiefern. Zuletzt ein kurzer Blick auf den Weg hinter mir. Dann laufe ich los. Laufe einfach los, Waldwege hinauf, enge Kurven entlang, über Wurzeln, unter Ästen, an wuchernden Sträuchern vorbei; meine Beine, die unentwegt durch die Luft schwingen. Es läuft sich gut.
Mischwald nun, mal heller, mal dunkler, eine Aussicht taucht vor mir auf, zwingt mich zum Stehenbleiben. Ich schaue hinunter, ohne zurückzuschauen - so gewunden sind die Wege, dass ich längst den geografischen Überblick verloren habe, nicht mehr weiß, wo ich gestartet bin. Wanderer begegnen mir, eine Kindergruppe, die wohl kaum heute zum Gipfel steigt; sie grüßen herzlich, "Konnichiwa", mit leichter Verbeugung, auch ich, selbst in der Bewegung. Wir lassen die Zeit gegeneinander laufen: Die Beine bewegen sich voran, der Oberkörper beugt sich herüber.
Ich laufe einfach immer weiter.
Nach etwa vier Stunden erreiche ich die vierte Station - den größten Teil der horizontalen Wegstrecke habe ich geschafft, dazu 1500 Höhenmeter. Ich stehe nun auf 2300 Metern, warte auf den hinterherhinkenden Atem und schaue auf Menschen, die aus Bussen steigen, die sich in feinporiger Funktionskleidung aneinanderreihen; dicke Handschuhe, Selfies vor den ersten Wanderschildern. Für einen Moment werde ich Teil ihres wattegebauschten Aufbruchs. Wie...
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