Schweitzer Fachinformationen
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An einem frischen Spätsommertag im Jahre 1911 lag ein Mann unter einem Mercedes 38/70 und eine Rändelmutter fiel ihm aus der Hand. Sie fiel einen knappen halben Meter tief auf sauberen Asphalt, den neuartigen dunklen Straßenbelag aus Bitumen und Splitt, stieß an einen Schraubenschlüssel und an noch einen, näherte sich einem Gully, zog wie zum Abschied vom verblüfften Publikum einen Halbkreis darum und entschwand darin. Der Mann unter dem Automobil war durch physische Beengungen daran gehindert, das Schicksal der Mutter noch entscheidend zu beeinflussen. So kroch er hervor und fast hätte er >Ja, Kümmeltürken noch einmal!< gerufen, hielt sich aber angesichts der hohen Herrschaften, die ihn umgaben, im letzten Moment zurück. Dort standen ein Graf, ein Freiherr und ein Admiral nebst ihren Gattinnen, und da konnte der höchstgeborene von ihnen, der Prinz von Preußen, Albert Wilhelm Heinrich, kurz Prinz Heinrich, Bruder des Kaisers, Großadmiral und Generalinspekteur der Marine, also nahezu das Höchstdurchlauchtigste, was das Deutsche Reich zu bieten hatte, dieser Mann konnte sich jetzt nicht mit unangemessenen Kraftausdrücken besudeln.
Aus Platzgründen und ein wenig auch, weil Prinz Heinrich seinen neuen Mercedes gerne selbst steuerte, hatte man auf einen Chauffeur verzichtet. Und so mussten die hohen Herren das Reparieren des Automobils und die Suche nach der Mutter untereinander aufteilen.
»Mein lieber Albert, würden Sie sich bitte kümmern«, forderte der Prinz den noch immer irritiert blickenden Freiherrn von Seckendorff auf, nach der Rändelmutter zu schauen. Der Freiherr war des Prinzen Hofmarschall und mithin für die Organisation aller Wirtschaftseinrichtungen des Hofes verantwortlich, also auch für die Beschaffung. Über die Reichweite dieser Verantwortung hatte es im Detail schon die eine oder andere Meinungsverschiedenheit zwischen dem Prinzen und dem Freiherrn gegeben. Zum Schluss setzte sich stets der Prinz durch, indem er darauf hinwies, dass der, der für die Beschaffung verantwortlich war, die Dinge halt zu beschaffen hatte. Und jetzt hatte der Freiherr eine Rändelmutter zu beschaffen.
»Ich habe aber keine passende Mutter dabei und auch keinen Bediensteten, den ich danach schicken könnte«, antwortete Seckendorff. Obwohl er ein fortgeschrittenes Alter vorweisen konnte, klang er trotzig wie ein kleiner Junge. »Und die alte Rändelmutter ist jetzt in der Kanalisation, da bekomme ich sie auch nicht mehr heraus.« Subtil schwang der Vorwurf mit, dass der Prinz nun gerade hier, auf der Kanalbrücke bei Levensau mit diesem neumodischen Asphalt, direkt neben einem Gully anhalten und unter das Auto kriechen musste, wo doch einen Kilometer weiter weder Gully noch Kanalisation gedroht hätten. Und der Straßenbelag bestand dort aus Kopfsteinpflaster, was jede Rändelmutter sofort gestoppt hätte, und die dortige Schankwirtschaft hätte eine Panne deutlich angenehmer gestaltet als diese Brücke und .
Der Prinz schaute den Hofmarschall an, zunächst streng, dann eher leidend. Er war kein Automechaniker und kein Chauffeur, er war Seemann. Er hatte schon die größten Schlachtschiffe befehligt. Auf einem Schlachtschiff der Kaiserlichen Marine waren Muttern in jeder erdenklichen Größe und Ausführung vorhanden, sogar im Überfluss - und Bedienstete, die sie herbeiholten, auch.
»Notfalls geht es ohne, man muss eben öfter mal anhalten und nachschauen«, sagte er schließlich.
Nach einigen Zwangspausen, mit gewaltiger Verspätung und dreckigen Händen, erreichte die hohe Gesellschaft Gut Hemmelmark, des Prinzen Landsitz an der Eckernförder Bucht.
Der Prinz liebte sein Hemmelmark, umgeben von ländlicher Idylle mit einem achtzig Hektar großen See. Er hatte sich das Anwesen vor etlichen Jahren gekauft, das Herrenhaus abreißen und durch ein neues Gebäude in kommodem englischem Landhausstil ersetzten lassen. Jetzt war das Gut durchströmt von britischem Flair. Alles wilhelminisch Pompöse musste vor den Toren bleiben, hier herrschte Understatement. Und man war geschützt vor der neugierigen Öffentlichkeit. Der Prinz kam her, wann immer seine Zeit es ihm erlaubte.
Die hohe Gesellschaft tuckerte durch das Torhaus mit den Garagen und den Wohnungen für Bedienstete, rollte an Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei und kam vor dem Herrenhaus mit seinen roten Dachschindeln, den verspielten Fronten aus unregelmäßig angeordneten Gauben, Erkern und gedeckten Dreiecksgiebeln zum Stehen. Prinzessin Irene, Heinrichs Gattin, empfing die Ankömmlinge in der Eingangsdiele. Mit überspielter Hast wies sie darauf hin, dass man sehr spät sei und der Oberbürgermeister gleich erwartet werde, da wurde auch schon die Ankunft des Herrn Oberbürgermeister gemeldet. Der Prinz ließ bitten und es erschien ein kleines Männchen mit Nickelbrille und pedantischem Henriquatre. Einerseits gab sich der Gast untertänig und war auf den ersten Blick als Beamtenseele zu erkennen, andererseits trug er deutlich die Würde seines Amtes: Der Kieler Oberbürgermeister Paul Fuß.
Er musste allenfalls einen Kilometer entfernt hinter dem Prinzen hergefahren sein. Der Oberbürgermeister kam mit einer altmodischen Dienstkutsche nebst Kutscher, die ihn ohne Panne an sein Ziel brachte und - hätte der Prinz nur noch eine kurze Pause zum Nachjustieren benötigt - die beiden fast schon unterwegs hätte aufeinandertreffen lassen. So allerdings war der Prinz doch noch standesgemäß ein paar Minuten vor dem Oberbürgermeister angekommen.
Wenig später saß man im Speisesaal zum Luncheon beisammen. Die Gesellschaft hatte sich leger gekleidet, so wie das Ambiente des Anwesens es vorgab. Die Besucher in Reiseanzug und Reisekleid, die Prinzessin im Tageskleid, und der Prinz, der sich noch schnell hatte umkleiden müssen, im Hausanzug. Die vornehmsten Kleidungsstücke auf Hemmelmark waren regelmäßig die Livreen der Diener.
Oberbürgermeister Paul Fuß hatte um eine Unterredung mit dem Prinzen gebeten und war dann zu eben diesem Luncheon eingeladen worden. Er hatte schnell herausgefunden, dass es sich dabei um die englische Variante eines leichten Mittagessens handelte. Ihm war es recht. In der geselligen Atmosphäre einer gemeinsamen Mahlzeit konnte er für sein Anliegen umso mehr mit Wohlwollen rechnen. Und sein Anliegen war ihm eine Herzenssache. Er war seit 1888 Oberbürgermeister von Kiel, also fast genau seit dem Regierungsantritt des Kaisers, und er würde im kommenden Jahr mit 68 Jahren endgültig in den Ruhestand treten. Die Einweihung des prächtigen neuen Rathauses, das im Herbst fertiggestellt sein würde, sollte der krönende Höhepunkt seiner Amtszeit werden. Und ihm war der kühne Gedanke gekommen, dass der Kaiser dieser Einweihung beiwohnen könnte.
»Na mein lieber Fuß, was macht das neue Rathaus?«, fragte der Prinz.
»Wir liegen gerade letzte Hand an. Bald ist es fertig und dann können wir umziehen.«
»Man sagt, Sie haben zeitgeschichtliche Dokumente in der goldenen Turmkugel hinterlegen lassen?«, erkundigte sich die Gräfin. Wenn man es genau nahm, war die goldene Kugel keine Kugel, sondern ein Ellipsoid, und sie war nicht aus Gold, sondern aus vergoldetem Kupfer, aber wer nahm es schon so genau. Sehr viel wichtiger war der mediterrane Stil des Rathausturms, der dem Markusturm in Venedig nachempfunden war. Die Gestaltung des Turms wurde allseits hoch gelobt, wobei schnell in Vergessenheit geriet, dass er nicht allein aus ästhetischen Gründen dem Markusturm ähnelte, sondern auch weil jener einige Jahre zuvor komplett eingestürzt war und erst ein Jahr später wieder neu errichtet werden sollte. Auf diese Weise konnte man sich dem traditionsreichen Venedig überlegen fühlen. Unnötig zu erwähnen, dass der Kieler Turm sieben Meter höher war als der venezianische.
»Das stimmt, Gräfin. Es ist eine alte Tradition, bei der Errichtung öffentlicher Gebäude zeitgeschichtliche Dokumente zu hinterlassen. Diese Tradition haben wir wieder aufgenommen. Üblicherweise werden solche Dokumente irgendwo eingemauert oder im Fundament eingegossen, aber die Stadtverordneten kamen auf die Idee, sie in der Kugel auf dem Turm zu deponieren, ohne es jedoch öffentlich bekannt zu machen. So kann es jeder zu jeder Zeit sehen.«
»Aber wenn niemand weiß, dass es sich dort befindet?«, hakte die Gräfin nach.
»Das hat doch einen gewissen Reiz, nicht wahr?« Bevor er fortfuhr, nahm Fuß einen Schluck Wein und schuf so eine angemessene Zeit für die Bewunderung der grandiosen Idee. »Wir haben einen handgeschriebenen Bericht über den Bau des Rathauses hineingelegt, einen Druckband vom >Bürgerbuch der Stadt Kiel< und einen farbigen Stadtplan. Schließlich wurden noch Porträtfotografien von Professor Billing, dem Architekten, und von mir beigelegt. Letzteres fand ich etwas übertrieben, aber die Stadtverordneten haben darauf bestanden.«
»Nur keine falsche Bescheidenheit, mein lieber Fuß«, sagte der Prinz und nahm auch einen Schluck Wein. »Sie haben das Gesicht unserer schönen Stadt geprägt wie kein anderer. Da kann die Stadt Sie ruhig einmal würdigen.«
Fuß bedankte sich artig und abwiegelnd, ohne jedoch einen Zweifel darüber zu lassen, dass er es genauso sah wie Heinrich. Als er sein Bürgermeisteramt angetreten hatte, war Kiel noch ein größeres Dorf gewesen, dann setzte ein rasantes Wachstum ein und jetzt war es eine Großstadt. Alle dazu nötigen Entwicklungen, die Verwaltungsreform, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen, das Schulwesen, die Polizei, die Bauplanung, einfach alles trug seinen Stempel.
»Das Rathaus ist wirklich sehr, sehr hübsch geworden, lieber Herr Fuß«, flötete die Admiralsgattin. »Das haben...
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