6
Cody beschleicht der Eindruck, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Es liegt daran, wie sich Sara Prior verhält.
Bei Gesprächen mit trauernden Angehörigen in Räumen wie diesem hat er schon praktisch alles erlebt. Die gesamte Bandbreite von Emotionen. Manche weinen. Manche verfallen in Schock oder Verleugnung. Andere werden ohnmächtig. Wieder andere toben oder werden gar gewalttätig.
Auf Sara trifft nichts davon zu. Sie wirkt unheimlich entspannt, während sie auf dem Stuhl sitzt, an ihrem Wasser nippt und seine Fragen beantwortet. Cody hat schon Leute erlebt, die bei Vorstellungsgesprächen nervöser waren. Sie behauptet, ihrem Ehemann treu ergeben gewesen zu sein. Warum also verursacht ihr sein Ableben nicht mehr Kummer? Was verheimlicht sie?
»Schildern Sie mir, was heute passiert ist. Wie haben Sie von der Sache mit Matthew erfahren?«
»Auf dem Anrufbeantworter war eine Nachricht. Ich ...«
»Da waren sie gerade vom Flughafen gekommen, ist das richtig?«
»Ja. Aus Manchester.«
»Wo sind Sie gewesen?«
»In Kopenhagen. Ich komme ursprünglich von dort. Ich habe meine Familie besucht. Mein Mädchenname ist Olsen.«
»Ah, Sie sind Dänin. Ich hab schon versucht, den Akzent einzuordnen. Ihr Englisch ist ausgezeichnet.«
»So gut wie jeder in Kopenhagen spricht ein wenig Englisch. Mein Vater hat darauf bestanden, dass wir es so viel wie möglich benutzen. Er hatte für mich große Visionen von einer Zukunft im globalen Finanzwesen.«
Cody fällt auf, dass sie sein Kompliment gar nicht zu registrieren scheint. Sie nimmt es nicht mal mit einem knappen Nicken zur Kenntnis.
»Okay«, fährt er fort. »Sie sind also nach Hause gekommen ...«
»Ja, und da hab ich gesehen, dass ich Nachrichten hatte. Zuerst habe sie ignoriert. Ich habe mir eine Tasse Tee gemacht und sie völlig vergessen. Aber dann bin ich zurück in den Flur gegangen, um meinen Koffer zu holen. An der Stelle habe ich mir die Nachrichten angehört.«
»Wie viele waren es?«
»Drei, aber nur eine von Matthew.«
»Was hat er gesagt?«
»Es war ... Es war sehr seltsam. Er war eindeutig wegen irgendetwas aufgeregt. Er hat so was gesagt wie: >Sie sind hier.< Das hat er mehrmals wiederholt. Aber er hat auch gesagt ...«
»Nur zu.«
»Mittlerweile fällt es mir schwer zu glauben, aber er hat so was gesagt wie: >Merk dir Victoria und Albert.<«
Cody hält mit dem Stift mitten im Satz auf dem Notizblock inne. »Könnten Sie das bitte wiederholen?«
»Ja. Er hat gesagt: >Merk dir Victoria und Albert.< Da bin ich mir sicher.«
Stirnrunzelnd notiert es sich Cody. »Was noch?«
»Eigentlich nichts. Nur, dass er keine Zeit mehr zum Reden hätte. Und dann ... und dann hat es sich so angehört, als würde ihm das Telefon von jemandem abgenommen, und ...«
Cody schweigt, lässt sie in Ruhe die Worte finden.
»Dann hat er geschrien. Zumindest habe ich den Beginn eines Schreis gehört. Das war alles.«
Cody mustert sie einige Sekunden lang. Er wartet auf Tränen, auf eine bebende Unterlippe. Beides bleibt aus. Alles so nüchtern und sachlich.
»Das muss Ihnen Angst eingejagt haben«, merkt er an. Allerdings erzielt er damit keine Reaktion.
Er fährt fort. »Diese Sache mit Victoria und Albert. Wissen Sie, was er damit gemeint hat?«
»Nein.«
»Hat es etwas mit dem Victoria & Albert Museum zu tun?«
»Ich glaube nicht. Ich bin nie dort gewesen. Und soweit ich weiß, Matthew auch nicht.«
»Dann also Personen. Kennen Sie jemanden namens Victoria und Albert?«
Ein langsames Kopfschütteln. »Nein. Da klingelt bei mir gar nichts.«
»Fällt Ihnen irgendein anderer Grund ein, warum er Sie aufgefordert haben könnte, sich diese Namen zu merken?«
»Nicht der geringste.«
Cody tippt sich mit dem Stift ans Kinn. »Die telefonische Nachricht. Haben Sie irgendeine Ahnung, warum er sie auf Ihrem Festnetzanschluss hinterlassen hat, statt Sie auf dem Handy anzurufen?«
»Er hatte entsetzliche Angst. Ich vermute, er ist in Panik geraten und hat einfach die erste Nummer seiner Kurzwahlliste gewählt.«
»Ist die Nachricht noch auf Ihrem Anrufbeantworter? Sie haben sie nicht gelöscht?«
»Nein. Sie ist noch drauf.«
»Gut. Ich würde gern jemanden schicken, der eine Kopie davon anfertigt, wenn das für Sie in Ordnung ist.«
»Ja. Ist es.«
»Gut, Sie haben also die Nachricht von Matthew abgehört. Was dann?«
»Ich bin schnurstracks zu ihm gefahren.«
»Das war Ihr erster Impuls? Sie haben nicht die Polizei gerufen?«
»Ich wusste nicht, was vor sich ging. Matthew hatte sich so sehr verändert, seit er ausgezogen war. Ich dachte, er hätte vielleicht eine Art Zusammenbruch. Abgesehen davon: Glauben Sie, die Polizei hätte es interessiert? Was hätten Sie getan, wenn ich Sie angerufen und gesagt hätte, mein Mann hat eine Nachricht mit irgendwas über Victoria und Albert hinterlassen, bevor er ins Telefon geschrien hat?«
Cody lächelt. »Wenn Sie es so ausdrücken ... Okay, Sie sind also zu seinem Haus gefahren, ja?«
»Ja. Ich gebe zu, dass ich dabei ein paar Mal die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten habe. Gut möglich, dass Sie mich auf der einen oder anderen Ihrer Verkehrsüberwachungskameras finden.«
»Ich denke, dafür hatten Sie einen ziemlich guten Grund. Wie hat sich Ihnen die Lage präsentiert, als Sie bei Matthews Haus angekommen sind?«
»Drinnen, meinen Sie?«
»Nein. Davor. Als Sie aus dem Auto gestiegen sind.«
»Da hat alles normal ausgesehen. Keine Anzeichen auf irgendwas Ungewöhnliches.«
»War die Eingangstür offen?«
»Nein. Geschlossen. Ich hab an der Tür geklingelt und versucht, durch den Briefkasten zu rufen, aber es hat niemand reagiert.«
»Haben Sie einen Schlüssel für das Haus?«
»Nein. Matthew hätte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand ohne sein Wissen sein Zuhause betreten könnte. Ich habe ihn mal gefragt, was ich tun soll, wenn er einen Unfall oder so hat, aber er wollte mir trotzdem keinen geben.«
»Wie sind Sie dann reingekommen?«
»Ich bin zur Rückseite gegangen.«
Cody sieht erneut in seinen Notizen nach. »Wir haben die Tür zum Hinterhof überprüft. Sie war verriegelt.«
Die Frau zeigte sich ungerührt. »Ja. Ich bin über die Mauer geklettert.«
»Sie sind über die Mauer geklettert?«
»Ja.«
»Ist eine ziemlich hohe Mauer.«
»Richtig.«
Cody rechnet beinah damit, dass sie in Gelächter ausbricht und ihm mitteilt, dass sie ihn auf den Arm nimmt. Aber sie meint es todernst.
»Schön, Sie sind also über die Mauer geklettert. Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich hab durch die Fenster geschaut. Konnte das Chaos drinnen sehen. Und dann hab ich bemerkt, dass die Scheibe der Hintertür eingeschlagen war. Jemand war in das Haus eingebrochen.«
»Ja, so hat es für uns ausgesehen.«
»Also bin ich reingegangen.«
Cody bemüht sich, bei ihrer Antwort nicht zu stutzen. Und scheitert kläglich.
»Sie sind schnurstracks reingegangen?«
»Ja.«
»Hatten Sie Ihr Handy dabei?«
»Ja.«
»Warum haben Sie nicht versucht, die Polizei anzurufen?«
»Ich wollte nicht warten. Matthew hätte verletzt sein können. Bei seiner Nachricht hat er geklungen, als hätte er Schmerzen.«
»Ins Haus war eingebrochen worden. Die Eindringlinge hätten noch drin sein können.«
»Ich habe mir in der Küche ein Messer geholt.« Plötzlich kommt ihr ein Gedanke. »Sie werden ein Messer mit meinen Fingerabdrücken drauf finden. Das sollten Sie wohl im Voraus wissen.«
Cody ist verblüfft. Sie überrascht ihn wieder und wieder. Er wäre vollauf zufrieden gewesen mit einer Antwort wie: Mir war nicht bewusst, was ich tat. Ich habe unter Schock gestanden. Aber sie scheint genau gewusst zu haben, was sie getan hat. Trotzdem hat sie nicht gezögert.
»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie sich das Messer geholt hatten?«
»Das Haus durchsucht. Ins hintere Schlafzimmer bin ich zuletzt gegangen. Dort habe ich Matthew gefunden.«
»Das muss ein gewaltiger Schock gewesen sein.«
Wieder keine Reaktion. Keinerlei Bestätigung, dass sie irgendwelche Emotionen durchlebt hat.
Cody spürt, dass ihm irgendetwas entgeht.
»Tut mir leid, Mrs Prior«, sagt er. »Verzeihen Sie, wenn das unsensibel klingt, aber ich verstehe nicht ganz die von Ihnen beschriebene Abfolge der Ereignisse.«
»Was verstehen Sie daran nicht, Sergeant Cody?«
»Ich verstehe nicht, warum Sie sich so lange damit Zeit gelassen haben, die Polizei zu verständigen. Ich verstehe nicht, dass Sie über eine Mauer geklettert und allein in ein Haus gegangen sind, in dem noch Eindringlinge hätten sein können.«
Dann kontert sie mit einer Frage, die ihm den Wind aus den Segeln nimmt.
»Weil ich eine Frau bin?«
»Was?«
»Ich frage mich, ob es Ihnen auch dann so schwerfiele, meine Schilderung zu glauben, wenn sie aus dem Mund eines Mannes käme.«
Cody denkt sorgfältig darüber nach. Ihm geht durch den Kopf: Hat sie recht? Bin ich bloß sexistisch?
»Um ehrlich zu sein«, erwidert er schließlich, »kenne ich nicht viele Menschen, weder Männer noch Frauen, die tun würden, was Sie heute getan haben. Ich muss den Hut vor Ihrem Mut ziehen.«
»Ich habe getan, was notwendig war. Aber ich würde mir im Gegenzug auch ein wenig Mut wünschen. Ich wünsche mir von Ihnen den Mut, mir zu glauben. Denn ich...