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»Ist er das?«
Detective Sergeant Nathan Codys Blick folgt der Richtung von Detective Constable Megan Webleys ausgestrecktem Finger. Durch die schmutzige Windschutzscheibe sieht er eine Gestalt, die auf dem Bürgersteig auf sie zukommt, die Hände tief in den Taschen, den Kragen gegen die Kälte hochgeschlagen.
»Nein. Sieht ihm nicht mal ähnlich.«
Im Radio läuft Ed Sheeran. Cody klopft mit den Fingern den Takt aufs Lenkrad. Er richtet den Blick auf das Schaufenster neben dem Auto. Es strotzt vor knappen Dessous. Hätte er nur ein Stück weiter hinten geparkt.
»Was ist mit dem da?«, kommt von Webley.
Cody seufzt. »Nein. Sag mal, fragst du mich jetzt bei jedem Kerl, der vorbeikommt?«
»Falls ja, bist du schuld.«
»Wieso bin ich schuld?«
»Weil's deine Idee war, oder? Außerdem hast du gesagt, er würde um Punkt fünf Uhr aufkreuzen, und wir haben schon drei Minuten nach.«
»Er kommt schon noch. Hab Geduld.«
Wie viel Geduld sie hat, demonstriert Webley, indem sie trotzig die Arme vor der Brust verschränkt.
»Mir ist kalt, ich bin müde, und ich hab Hunger. Ich hatte heute kein Mittagessen.«
»Damit stehst du nicht allein da. War eine ziemliche Hetze zum Gericht, was?«
»Du warst übrigens sehr gut. Vor Gericht.«
»Findest du?«
»Ja. Der Anwalt dort hat in dir seinen Meister gefunden. Ich konnte sehen, wie dem arroganten Trottel der Schweiß aus der Perücke gelaufen ist.« Sie deutet auf ihn und zieht die Augenbrauen hoch. »Mir ist aufgefallen, dass du zu dem Anlass eine neue Krawatte getragen hast.«
Lächelnd setzt sich Cody aufrechter hin und streicht die Krawatte glatt. »Stimmt. Gefällt sie dir?«
»Nein.«
»Oh.«
Nach einer kurzen Pause fragt sie: »Vermisst du manchmal die alten Zeiten?«
Cody spürt, wie sich ein Hitzeschwall anbahnt. Er ahnt, dass sie gleich die Zeit erwähnen wird, als sie ein Paar gewesen sind. Damals hatte sie noch ein Mitspracherecht dabei, welche Krawatten er getragen hat.
»Welche alten Zeiten?«
»Als du verdeckter Ermittler warst. Vermisst du das?«
Puh, denkt Cody. »Ja, manchmal schon. Aber die Arbeit jetzt ist auch gut.«
»Hast du je dran gedacht, zurückzuwechseln?«
»Wie kommst du darauf? Hast du die Schnauze voll von mir?«
»Nein. Nur so ein Gedanke. War ja immerhin mal ein wichtiger Teil deines Lebens.«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, eher nicht. Ich springe zwar immer noch gern bei kleineren Einsätzen ein, aber ich glaub nicht, dass ich es wieder Vollzeit machen könnte.«
»Wegen dem, was passiert ist?«
Cody denkt sorgfältig nach, bevor er antwortet. Die Frage ist nur natürlich. Die meisten Menschen würden nach der Erfahrung, wie ihnen vier Männer in Clownsmasken gewaltsam Körperteile entfernt und anschließend ihren Partner auf grausige Weise ermordet haben, wohl auf einen anderen Broterwerb umsatteln.
»Ja, aber nicht nur aus den offensichtlichen Gründen. Ehrlich gesagt dachte ich, die Versetzung zum MIT würde nur vorübergehend sein, aber dann sind mir die Augen aufgegangen. Am Anfang hab ich befürchtet, mir würde der Nervenkitzel der verdeckten Arbeit fehlen. Ist aber nicht so. Ich mag unser Team, und mir gefällt unsere Arbeit.«
»Aber es wär nicht dasselbe, wenn ich nicht dabei wäre, oder?« Als sie lächelt, sieht er, wie ihre Grübchen erscheinen.
Bevor er antworten kann, klingelt Webleys Telefon. Sie blickt auf das Display. »Anakonda«, verrät sie und geht ran.
Cody schaut im Innenspiegel zu dem einige Meter hinter ihnen geparkten zivilen Polizeiwagen. Er kann das Gesicht von DC Neil »Anakonda« Ferguson erkennen, das der Schein vom Display seines Handys erhellt. Neben ihm sitzt ein weiterer DC der Truppe, Jason Oxburgh.
Webley lauscht, dann dreht sie sich Cody zu. »Er will wissen, wie lang wir voraussichtlich noch hier rumhocken müssen. Und ob dein CHIS für die Operation zuverlässig ist.«
CHIS steht im britischen Polizeijargon für »Covert Human Intelligence Source«, also eine geheime menschliche Auskunftsquelle. Oder schlichter ausgedrückt: Informant.
»Sag ihm, dass meine Informationen tadellos sind«, raunt Cody, »und dass er ein bisschen mehr Vertrauen haben muss.«
Webley gibt die Nachricht weiter und lauscht noch ein paar Sekunden, bevor sie das Telefonat beendet.
»Was hat er gesagt?«, fragt Cody.
»Nichts.«
»Raus damit, was?«
»Er wollte wissen, ob du dich wohl bemühst, mich hier drin warm zu halten.«
Cody wendet sich ab und schüttelt genervt den Kopf. Gleichzeitig geht ihm durch den Kopf, dass die Hitze, die ihm in die Wangen schießt, mehr als ausreichen sollte, um sie beide zu wärmen.
Als er durchs Autofenster draußen eine Bewegung wahrnimmt, ist er froh über die Ablenkung.
»Aye, aye«, sagt er.
»Was?«, fragt Webley. »Ist er es?«
Cody beobachtet weiter. Er sieht eine Frau am Geldautomaten. Ihr Portemonnaie hat sie in der Hand, aber die Tasche ist weit offen. Ein junger Mann in dunklem Trainingsanzug pirscht sich von hinten an sie an.
Cody lässt sein Fenster runter. »Fitzy, komm hier rüber!«
Erschrocken horcht der junge Mann auf. Dann schlendert er mit den Händen in den Taschen zum Auto.
»Hallo, Mr. Cody. Wie läuft's denn so?« Er beugt sich vor und späht zur Beifahrerin. »Hallo, Süße.«
Cody muss sich ein Lächeln verkneifen. Webley wird innerlich darüber schäumen, »Süße« genannt worden zu sein.
»Was hast du vor, Fitzy?«
Fitzy zuckt mit den Schultern. »Nichts.«
»Hat nicht nach nichts ausgesehen. Hat für mich eher so ausgesehen, als wärst du plötzlich unheimlich interessiert an der Frau am Geldautomaten gewesen.«
»Ach, die! Ne, ich wollte bloß ein Auge auf sie haben, verstehen Sie, was ich meine? Meine Bürgerpflicht erfüllen. Ich glaub, ihr ist gar nicht bewusst, dass es Typen gibt, die so eine Situation ausnutzen könnten. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Schon klar, Fitzy. Freut mich zu hören. Ich werd dich für die >Pride of Britain Awards< vorschlagen. Jetzt mach dich mal vom Acker. Dich durch die Straßen zu jagen, ist gerade das Letzte, was ich will.«
Fitzy rührt sich nicht. »Was läuft denn hier eigentlich?«
»Nichts, was dich betrifft«, sagt Cody.
Fitzy grinst und entblößt eine Lücke, wo einer seiner Vorderzähne fehlt. »Warten Sie, dass die Luft rein wird, damit Sie mit Ihrer Lady da reingehen können?« Er zeigt hinter sich auf den Dessous-Laden. »Wissen Sie, das ist total in Ordnung. Wir haben ja moderne Zeiten. Muss Ihnen nicht peinlich sein. Verstehen Sie, was ich meine?«
Webley lehnt sich zu Codys offenem Fenster. »Ich bin nicht seine Lady. Jetzt zieh Leine, bevor wir dich einbuchten.«
Fitzy hebt kapitulierend die Hände. »Schon gut, Süße. Wollte nur freundlich sein.«
In dem Moment scheinen sich die Rädchen in Fitzys Kopf zu drehen. Er späht auf die Straße zum anderen ungekennzeichneten Polizeiwagen.
»Die gehören zu Ihnen, stimmt's? Was geht hier ab? Haben Sie 'ne Razzia in dem Laden mit den Rüschenslips geplant?«
»So ähnlich«, erwidert Cody. »Jetzt geh und fall jemand anderem auf den Wecker, Fitzy. Und bleib sauber.«
Fitzy zuckt mit den Schultern und schlendert davon. Als er an Anakondas Auto vorbeikommt, winkt er den Insassen zu.
Cody schließt sein Fenster.
»Gott«, sagt Webley, »nach dem Einsatz könnte ich echt 'nen Drink vertragen. Auch Lust?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Wir haben Februar. Im Februar trinke ich nicht.«
»Du trinkst in keinem verdammten Monat. Ich wette, nicht mal zu Weihnachten.«
»Ich bin sicher, da hast du genug für uns beide gebechert«, kontert er. Aber sie hat recht: Er hat zu Weihnachten nichts getrunken. Tatsächlich hat er Weihnachten allein in seiner Wohnung verbracht. Während allerorts Truthähne tranchiert, Knallbonbons geöffnet und feuchtfröhlich gefeiert wurde, hat er sich Curry aus der Mikrowelle reingezogen und seinen im Dienst verstauchten Knöchel geschont. Natürlich hat er Webley das nicht gesagt. Ihr hat er aufgetischt, er wäre bei seinen Eltern und bei seiner Ex-Verlobten gewesen. Tatsächlich war man weder da noch dort besonders interessiert daran, festliche Stimmung in seine Richtung zu verbreiten.
»Komm schon«, drängt Webley. »Das wird lustig.«
»Ne, ich bin geschlaucht. Will nur noch die Füße hochlegen.«
»Herrgott noch mal, Cody. Du klingst wie meine Oma. Und selbst sie schafft's jede Woche zum Tai Chi und zum Bingo. Bist du sicher, dass du unter dem jugendlichen Äußeren nicht sechsundneunzig bist?«
»Ein andermal, Megs. Okay?«
Webley lächelt ihn an.
»Was ist?«, fragt er.
»Megs. So hast du mich früher immer genannt, als wir zusammen waren.«
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Finde ich nett.«
Wieder wird ihm heiß. Cody ist dankbar, als Webleys Handy erneut zum Leben erwacht.
Sie nimmt den Anruf entgegen, lauscht. Schließlich verkündet sie: »Wieder Anakonda. Seiner Meinung nach sollten wir's gut sein lassen. Er schlägt vor ...«
»Er ist hier«, sagt Cody.
»Was?«
Cody zeigt hin. »Er geht gerade rein.«
Er beobachtet, wie ein dunkelhaariger Mann einen Schlüssel in die Tür einer Ladenfront steckt, sie öffnet und nach drinnen verschwindet. Cody setzt dazu an, aus dem Auto zu steigen.
»Es geht los!«, sagt Webley ins Handy.
Die vier Ermittler versammeln sich auf...