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Die Schönheit und Erhabenheit des Orts verstärken seine Angst nur zusätzlich.
Trotz der schlechten Sicht ist das Gebäude vor ihm unverkennbar. Es wirkt, wie aus dem schwarzen Himmel gemeißelt und anschließend mit einem eigenen Licht durchwirkt. Ein Gebäude, das seine Aufmerksamkeit fesselt. Schon oft hat er bezeugt, wie selbst die Gottlosen ehrfürchtig werden, wenn sie sich dem Bau nähern, und sei es nur, weil man sich daneben so unbedeutend fühlt.
Er weiß, dass es sich um einen Ort der Superlative handelt. Es ist die größte anglikanische Kathedrale Europas und die fünftgrößte der Welt. Mit dem lautesten und höchsten Glockengeläut der Welt. Und der größten Orgel des Landes. Sogar eine eigene Wachmannschaft gibt es an diesem Ort.
Aber das sind alles belanglose Nebensächlichkeiten. Was er so überwältigend findet, ist die schiere Spiritualität. Wenn Gott irgendwo weilt, dann hier.
Das Wetter verstärkt dieses Gefühl, in ein mystisches Land versetzt worden zu sein. Es ist später Nachmittag am ersten Samstag im Dezember, doch für manche hat Weihnachten verfrüht Einzug gehalten. Schnee erfüllt die Luft. Riesige, dicke Flocken wirbeln herab, bevor sie den zunehmend dichteren weißen Teppich auf dem Boden ergänzen. Der Schneefall hat eine gespenstische Stille erschaffen und bewirkt eine beunruhigende Veränderung des Lichts der Umgebung.
Das ist ein Zeichen, sagt er sich. Eine Warnung. Ich sollte umkehren, sollte sofort von hier verschwinden, solange ich noch kann.
Aber er geht weiter und beschleunigt die Schritte, um nicht zu weit hinter das plaudernde Paar vor ihm zurückzufallen. Die Nähe der beiden spendet einen gewissen Trost, ein Gefühl von Gruppensicherheit. Doch er weiß, dass es von kurzer Dauer sein wird.
Der Schnee knirscht und schmatzt unter seinen Stiefeln. Er hat die Kapuze seiner Jacke aufgesetzt und die Hände tief in den Taschen vergraben. Trotzdem zittert er. Dennoch weiß er, dass er Schweißperlen auf der Stirn hat. Seine Handflächen fühlen sich klamm an. Seine Atmung geht flach und schnell. Sie scheint nicht genug Sauerstoff in seinen Körper zu befördern. Es fühlt sich an, als könnte er jeden Moment in Ohnmacht fallen oder zumindest auf die Knie sinken und sich auf das makellose Weiß übergeben.
Vor den schwarzen Eisentoren bleibt er stehen. Das geschwätzige Pärchen setzt den Weg zum westlichen Vorbau fort, ohne ihn zu bemerken. Seine Angst steigert sich mit jedem Meter, den sich die beiden von ihm entfernen.
Er blickt hinter sich, späht durch den dichten Schneefall zur Straße.
Er wird verfolgt.
Unwillkürlich wünschte er, es wäre anders. Er wünschte, der dramatische Wetterumschwung hätte genügt, um eine Planänderung zu bewirken. Aber nein. Die Gestalten sind da und steuern auf ihn zu.
Ihm bleibt nicht viel Zeit.
Als er wieder nach vorn schaut, überlegt er, was er tun soll. Sein Blick fällt auf die riesige Statue des auferstandenen Christus, die über dem Eingang der Kathedrale hängt. Gern würde er sich vorstellen, dass sie mit einem beruhigenden, tröstlichen Gesichtsausdruck auf ihn herabblickt. Allerdings wirkt Jesus aus dieser Perspektive eher streng und missbilligend. Als wollte er ihn davor warnen, diese heilige Stätte mit seinen Problemen zu besudeln.
Ihm kommt der Gedanke, dass es schon immer so gewesen ist. Hier wird kein Geleit geboten. Es gibt keine Zeichen von höherer Stelle, die einem den Weg weisen. Er wird ihn selbst finden müssen.
Und er entscheidet sich für den Weg nach links. Der führt ihn durch ein weiteres Tor aus Eisen und nach unten, als würde er geradewegs in die Eingeweide der Stadt verlaufen.
Der Pfad könnte kaum sinnbildlicher für den Tod und das sein, was dahinter liegt. Zu beiden Seiten säumen ihn ausgebleichte, verwitterte Grabsteine. Unzählige reihen sich entlang der hohen Steinmauern aneinander. Ihre Inschriften sprechen liebevoll von den verstorbenen Seelen vergangener Jahrhunderte. Und falls es weiterer Hinweise auf die frühere Nutzung dieses Geländes bedurfte, befindet sich linker Hand das Oratorium - mittlerweile verlassen und verfallen, aber einst eine prachtvolle Totenkapelle.
Wieder hält er inne. Holt tief Luft. Die eisige Luft brennt in seiner Nase und jagt ihm einen Schauer durch den Körper.
Er geht weiter. Bis er eine Stelle erreicht, die ihn immer frösteln lässt, selbst an hellen, sonnigen Tagen. Es handelt sich um ein winziges, dreieckiges Fleckchen, umschlossen von hohen Grabsteinen. Ein Stein fehlt und ermöglicht den Zugang. Ihn beschleicht die Sorge, dass sich darin eine bösartige, dunkle Kreatur verstecken könnte, die nur darauf wartet, herauszuspringen und ihn anzugreifen.
Er sagt sich selbst, dass er sich nicht fürchten soll, allerdings klingt die innere Stimme hohl. Er hat allen Grund, sich davor zu fürchten, was bevorsteht.
Dann erreicht er den Tunnel. Sein Eingang bildet einen schwarzen Schlund im soliden Stein. Er weiß, dass der Durchgang kurz ist und er sich bald auf der anderen Seite befinden wird. Dennoch erfüllt ihn der Anblick mit Furcht. Die Grabsteine setzen sich in den Tunnel hinein fort. Stramm stehen sie da, als warteten sie darauf, ein Urteil über jeden zu fällen, der es wagt, den schmalen Raum zwischen ihnen zu passieren.
Er weiß, dass er weitergehen muss. Ihm bleibt keine andere Wahl.
Er beschleunigt die Schritte, hört ihren Widerhall, als seine Füße den frischen Schnee verlassen und den beengten, gruftartigen Raum aus unnachgiebigem Stein betreten.
Dann hat er den Durchgang passiert und kann wieder atmen, kann die Frische der Schneeflocken spüren, die sich unter seine Kapuze verirren und auf seiner Haut schmelzen.
An der Stelle bleibt er stehen, folgt nicht der gekrümmten Linie der Grabsteine nach rechts durch die St. James' Gardens. Es ist ein kleiner, aber angenehmer Park mit einer eigenen Mineralwasserquelle. In der Mitte steht ein Denkmal für William Huskisson, ehemaliger Abgeordneter für Liverpool. Seine Errungenschaften in dieser Position stehen im Schatten seines zweifelhaften Ruhms als weltweit erstes Todesopfer eines Eisenbahnunglücks. Er wurde von Stephensons Rocket erfasst.
Im Augenblick jedoch brüllt ihm das Gelände seine düstere Vergangenheit als letzte Ruhestätte entgegen. Im Verlauf der Jahrhunderte für rund sechzigtausend Menschen. Er vermeint, ihre Gegenwart zu spüren, als wäre ein Rest ihrer Seelen für immer hier verankert.
Ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Und nicht nur wegen der Geister.
Der Moment der Entscheidung ist gekommen. Kampf oder Flucht. Er spürt, wie sich sein Magen verkrampft. Seine Eingeweide ziehen sich krampfartig zusammen. Am liebsten würde er sich gleichzeitig übergeben und die Hosen vollmachen. Sein Mund fühlt sich staubtrocken an, sein Herz hämmert wild gegen den Brustkorb.
Ich könnte flüchten, denkt er. Ich könnte durch den Park und zur anderen Seite der Kathedrale rennen. Ich könnte weg sein, bevor sie hier sind. Sie würden es nie erfahren.
Aber er steht zu lange zögernd da. Sie sind eingetroffen. Er kann sie hören. Also wird er sich seinen Ängsten stellen müssen.
Als er sich umdreht und in den Tunnel zurückkehrt, scheint sein Körper nicht mehr seiner bewussten Kontrolle zu unterstehen. Es kommt sich vor wie ein Passagier in einem Fahrzeug, der sich fragt, wohin es ihn bringen wird.
Dann entdeckt er sie. Ihre Umrisse zeichnen sich vor dem Weiß am anderen Ende des Tunnels ab. Wieder breitet sich Panik in ihm aus. Er senkt den Kopf mit der Kapuze, um sein Gesicht zu verbergen.
Ich könnte mich vorbeimogeln, denkt er. In dieser Finsternis kann ich nicht erkannt werden. Ich könnte einfach vorbeimarschieren und weitergehen, und niemand würde es merken.
Und dann scheint ihn das Wissen zu stärken, dass er ein gewisses Maß an Kontrolle über die Situation hat. Als er auf dieselbe Höhe wie die anderen in dem beengten Gang gelangt, ertappt er sich dabei, stehen zu bleiben. Er ertappt sich dabei, ein Wort auszusprechen, das er schon lange nicht mehr von sich gegeben hat.
Es erzielt die gewünschte Wirkung. Er registriert die Verwirrung, die es auslöst. Seine Verfolger werden zu weniger als den von ihm so gefürchteten Dämonen. Zu weniger als dem Ungetüm mit dem Höllenhund. Sie werden zu dem, was sie in Wirklichkeit sind.
Zu einer Frau mittleren Alters mit ihrem kleinen Haushund. Und so schlägt er zu.
Alles geht so schnell, läuft verschwommen ab. Er zieht die Hand aus der Tasche. Seine Finger krümmen sich fest um den schweren Fäustel, als er ihn gegen den Kopf der Frau schwingt. Aber auch sie erweist sich als - unerwartet - schnell. Irgendwie gelingt es ihr, den Unterarm hochzureißen, wodurch sie es ihm vermasselt. Er zertrümmert den Arm, statt ihr den verdammten Schädel einzuschlagen. Und dann schreit sie, vor Schmerzen und um Hilfe. Der Hund läuft bellend davon. Alles scheint den Bach runterzugehen und zwingt ihn, es schnell zu Ende zu bringen, um die Lage noch zu retten. Also holt er zu einem weiteren Schlag gegen die Quelle des Geschreis aus. Diesmal spürt er, wie der Hammer ihren Kiefer trifft. Das Kreischen verstummt abrupt. Allerdings wird es trotzdem nur noch schrecklicher, denn trotz der Dunkelheit kann er sehen, was aus ihr geworden ist. Er kann sehen, dass sie einer zombieähnlichen Kreatur mit schlaff herabhängendem Unterkiefer gleicht. Sie stößt sich von den Grabsteinen hinter ihr ab, als wäre sie gerade aus einem Sarg unter der Erde hervorgekrochen. Der nutzlose Unterkiefer...