Schweitzer Fachinformationen
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Camp Horseshoe
Damals
Monica
Sie hatte einen Fehler gemacht.
Einen großen, nein, eher einen kolossalen Fehler.
Einen Fehler, den sie nicht würde wiedergutmachen können.
Verdammt noch mal, dachte Monica, die vollständig angezogen auf ihrer Pritsche in dem Blockhaus lag, wo sie, kaum neunzehn Jahre alt, für acht Elfjährige verantwortlich war. Sie hatte einen halbprivaten Bereich für sich - genauer gesagt eine kleine Nische mit einem offenen Fenster zu dem großen Raum, in dem die Mädchen auf Pritschen aus Holz und Leinen, die noch aus den fünfziger Jahren stammten, in ihren Schlafsäcken schliefen. Alles an diesem vermaledeiten Camp war mehr als retro, was sie dem tyrannischen Prediger zu verdanken hatten, der dieses Dreckloch von Sommercamp besaß und leitete. Jeremiah Dalton erinnerte mehr an einen Diktator als an einen Mann Gottes, zumal sein herrisches Gehabe herzlich wenig mit christlichem Handeln zu tun hatte. Dalton, ein großer, imposanter Mann mit scharfem Blick und markanten Gesichtszügen, besaß einen Doktortitel in Theologie, auf den er so stolz war, dass er von allen mit »Doktor« oder »Reverend« angeredet werden wollte. Sogar von seiner Frau und seinen Kindern. Wie krank war das denn?
Aber jetzt wollte sie nicht an ihn denken.
Sie hatte weitaus größere Probleme als einen an Selbstüberschätzung leidenden Prediger, dachte sie bitter, den Blick auf die frei liegenden Dachbalken über ihr geheftet. Durch die offenen Fenster der Blockhütte hörte sie den einsamen Schrei einer Eule. Er übertönte das immerwährende Rauschen der Brandung, die keine Viertelmeile entfernt gegen die Klippen schlug.
Monica warf einen Blick auf ihre Uhr. Fast Mitternacht.
Die anderen Betreuerinnen würden sich in der Bucht versammeln und dort auf sie warten. Sie alle waren - genau wie sie selbst - Betreuerinnen im Camp Horseshoe und echte Zicken, jede einzelne. Sie hasste sie alle, und sie fragte sich, warum sie sich einer von ihnen anvertraut hatte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Ja, Bernadette Alsace konnte ein Geheimnis für sich behalten, zumindest hoffte Monica das, dennoch hätte sie das sportliche Mädchen mit dem messerscharfen Verstand und der noch schärferen Zunge niemals einweihen dürfen. Zumal es da noch Bernadettes jüngere Schwester Annette gab. Wie um alles auf der Welt war diese mickrige Schwätzerin an einen so verantwortungsvollen Job gekommen? Kaum älter als die Kids, die sie zu beaufsichtigen hatte, drückte sich Annette bei den Schlafhütten und dem Empfangsgebäude herum, die Ohren gespitzt, um nur ja nicht den neuesten Klatsch und Tratsch zu verpassen. Um ehrlich zu sein, machte Annette mit ihren großen Augen und dem ach so unschuldigen Lächeln ihr Angst.
Was für ein Freak!
Ein weiterer Blick auf die Uhr. Mist, sie musste sich dringend auf die Socken machen.
Monica spürte, wie sich ihre Stimmung veränderte, von schlecht zu grottenschlecht abrutschte, aber sie konnte es nicht ändern.
Sie war schwanger gewesen, hatte Tyler die Nachricht überbracht, dass er Vater werden würde - ob es ihm gefiel oder nicht. Hatte insgeheim gehofft, er würde seine Haltung ändern, wenn er davon erfuhr, würde sie lieben und heiraten. Sie schluckte. Das war vor zwei Wochen gewesen. Inzwischen war alles anders. Sie hatte angefangen zu bluten und Krämpfe bekommen . und jetzt war nichts anderes mehr in ihr als tiefe Trauer.
Sie hatte nicht vorgehabt, schwanger zu werden, bei Gott nicht, aber es war nun mal passiert. Und obwohl sie sich nicht hatte vorstellen können, ein Baby zu bekommen, geschweige denn großzuziehen - dafür war sie doch noch viel zu jung! -, war sie enttäuscht gewesen über die Fehlgeburt, die ihre romantischen Träume von einem Leben mit Tyler auf einen Schlag zerstört hatte. Er sah so gut aus mit seinem dichten braunen Haar, dem kantigen Kinn und den Augen, die die Farbe von Stahl hatten .
Strotzend vor Leben, sportlich, bereit für jedwede Herausforderung, war er alles, was sie sich je gewünscht hatte, und dann bekam sie auch noch ein Baby von ihm .
Kein Baby. Tränen traten in ihre Augen, aber sie drängte sie zurück und redete sich ein, dass es besser so war. Jetzt konnten sie beide aufs College gehen und . und Tyler konnte Jo-Beth heiraten, das Mädchen, mit dem er so gut wie verlobt war. Halt, stopp - das verfluchte Miststück, mit dem er so gut wie verlobt war.
Monica krümmte sich innerlich bei dieser Vorstellung.
Lautlos stand sie auf und spähte durch das Fenster in den großen Raum der Blockhütte, der nur von einem kleinen Nachtlicht beleuchtet wurde. Alle Pritschen waren belegt, die Mädchen schliefen tief und fest nach einem anstrengenden Tag mit Reitstunden, Schwimmen, Bibelkursen und Küchen- oder Latrinendienst, gefolgt von dem allabendlichen Lieder- und Gebetstreffen.
Um zehn wurden die Lichter gelöscht, und nach einer halben Stunde heimlicher Tuscheleien war auch das letzte Mädchen eingeschlafen. Sogar die überängstliche Bonnie Branson, die kleiner war als die anderen und lange, blonde Löckchen hatte. Sie schlief nur ein, wenn sie sich an ihren heißgeliebten einäugigen Teddy klammern konnte. Stofftiere waren laut Dr. Dalton eigentlich verboten, aber Monica hatte der Kleinen erlaubt, ihren rosafarbenen Knuddelbär zu behalten. Wenn er die vor Heimweh weinende Elfjährige beruhigte und dafür sorgte, dass sie wenigstens etwas Schlaf abbekam, war das doch eine gute Sache. Die übrigen Mädchen waren da leider anderer Meinung, vor allem Kinley Marsh, die sie eifrig auf den Regelverstoß hinwies und wiederholt drohte, sie beim Reverend zu verpetzen. Monica hatte ihre Schützlinge gewarnt: Wenn einer von ihnen ein Wort verriet, würde sie nicht mehr Abend für Abend die Blockhütte nach Schlangen absuchen. Alle hatten panische Angst vor Waldklapperschlangen, auch wenn diese hier, in der Nähe des Ozeans, kaum zu finden waren. Zum Glück wusste das keins der Mädchen, nicht einmal die lesewütige, aufgeweckte Kinley. Die anderen ordneten sich Kinley unter, und Monica belohnte sie mit Schokolade dafür, dass sie den Mund hielten. Die Schokolade hatte sie aus der Küche geklaut, noch ein Geheimnis, das die Mädchen eisern für sich behielten.
Herrgott, war das alles ein Mist! Zum Teufel mit Reverend Dalton und seinen despotischen Regeln!
Geräuschlos schlüpfte Monica in ihre Schuhe, band sie zu, dann warf sie einen letzten Blick auf ihre schlafenden Schützlinge, nahm ihre Kapuzenjacke von einem Kleiderhaken an der Wand und die Taschenlampe für die nächtlichen Toilettengänge von einem kleinen Regal und schlüpfte durch die große Holztür hinaus in die kühle Nachtluft.
Sie atmete die salzige Luft des Ozeans ein, die sich mit dem Rauch des erlöschenden Lagerfeuers in der Mitte der kreisförmig angeordneten Blockhütten vermischte. Vereinzelte Kohlen glühten rot auf und warfen unheimliche Schatten auf die Wände. Für einen kurzen Moment meinte Monica, jemanden auf einer der Bänke rund ums Feuer sitzen zu sehen, eine dunkle, vornübergebeugte Gestalt, die den Kopf drehte, um in ihre Richtung zu blicken.
Erschrocken schnappte sie nach Luft und machte einen Schritt zurück, doch dann stellte sie fest, dass sie lediglich eine Schaufel gesehen hatte, die an der Sitzfläche lehnte.
Herrgott Sakrament!, schoss ihr durch den Kopf, der Lieblingsfluch ihrer Mutter. Wie hatte sie eine Schaufel mit einem Menschen verwechseln können? Ja, sie hatte wahrhaftig eine überbordende Fantasie. Niemand wusste, dass sie hier draußen war. Niemand ahnte, was sie vorhatte. Es war lediglich ihr eigenes Schuldgefühl, das sie so ausflippen ließ.
Leise zischend stieß sie die angehaltene Luft aus und sah sich nach allen Seiten um. Acht Hütten, einschließlich der, die ihrer Verantwortung unterlag. Alle wurden von weiblichen Betreuerinnen überwacht, und alle waren dunkel. Die Hütten der Jungs lagen ein Stück entfernt am Waldrand. Ohne die Maglite einzuschalten, schlüpfte Monica zwischen zwei Hütten hindurch zu einem Pfad, der von den zentralen Gebäuden fort und in den Wald hineinführte. Dieser Weg wurde nicht so häufig benutzt und war länger, aber so konnte sie sich wenigstens halbwegs sicher sein, nicht den anderen Betreuerinnen zu begegnen.
Sie würde sich jetzt mit Tyler treffen, nur noch dieses eine Mal, um ihm zu sagen, dass -
Plötzlich hörte sie Stimmen. Flüstern.
Mist! Sie durfte auf keinen Fall gesehen werden. Von niemandem!
Die Stimmen kamen näher. Monica bemerkte den schwachen Lichtstrahl einer Taschenlampe.
Eilig versteckte sie sich im Unterholz und drückte sich mit dem Rücken gegen einen dicken Baumstamm. Knack! Unter ihrem Turnschuh zerbrach ein Zweig. Verdammt! Bitte, lieber Gott, mach, dass sie mich nicht sehen!
»Was war das?«, wisperte eine Stimme, die Monica als die von Reva Mercado erkannte.
O nein! Nicht ausgerechnet Reva, ein toughes, cleveres Mädchen, das ziemlich aufbrausend sein konnte, wie Monica mehr als einmal am eigenen Leib erfahren hatte. Sie traute Reva nicht, und mögen tat sie sie schon gar nicht. Der Lichtstrahl der Taschenlampe setzte sich wieder in Bewegung, schweifte über die umliegenden Büsche und Sträucher.
Am liebsten wäre Monica mit dem Baumstamm verschmolzen. Sie durften sie nicht entdecken! Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie sagen, wenn sie sie hier im Unterholz fanden? Dass sie pinkeln musste? Oder dass sie sie kommen gehört, ihre Taschenlampe bemerkt und sich versteckt hatte, weil sie dachte, Reverend Dalton oder...
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