1. Kapitel
Wenn sie sich doch nur erinnern könnte. Wenn sie doch die Wahrheit wüsste.
Wenn sie doch sicher wäre, dass ihre Mission nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Sie blickte zum dunklen Oktoberhimmel Oregons auf und spürte die sanfte Feuchtigkeit des Nebels auf dem Gesicht. Hatte sie schon jemals so den Kopf in den Nacken gelegt, bis sich der Nebel auf ihre Lippen und Wangen legte? Hatte sie an genau dieser Straßenecke gestanden, gegenüber dem alten Hotel Danvers, und an der Hand ihrer Mutter darauf gewartet, dass die Ampel auf Grün schaltete?
Der Verkehr strömte an ihr vorbei, unter den Rädern der Autos und Busse stoben Wasserfontänen auf. Obwohl sie sich fest in ihren Mantel hüllte, fröstelte sie, jedoch nicht wegen der kalten Herbstluft oder des Windes, der vom modrigen Willamette River ein paar Blocks weiter östlich herüberwehte. Nein, was sie frösteln ließ, waren die Gedanken an ihren Plan - ihr Schicksal, wie man ihr gesagt hatte. Sie wusste, dass ihr der Kampf ihres Lebens bevorstand.
Doch sie hatte sich nun einmal darauf eingelassen und konnte jetzt nicht aufgeben. Sie war hunderte Meilen gereist, war emotional durch die Hölle gegangen, während sie stundenlang, tagelang in mühseliger Kleinarbeit Bibliotheken und Zeitungsarchive überall im Nordwesten durchstöberte. Sie hatte jede Chronik, jeden Artikel, jede Schlagzeile über die Familie Danvers gelesen, die sie finden konnte.
Und nun sollte ihr Plan Früchte tragen. Oder sie ins Verderben stürzen. Sie blickte an dem Hotel hinauf: sieben Stockwerke viktorianischer Baukunst, um die Jahrhundertwende eines der größten Gebäude der Stadt, nun jedoch von neueren Bauwerken aus Beton und Stahl überragt, Wolkenkratzern, die sich majestätisch über den schmalen Straßen der Innenstadt erhoben. »Gott steh mir bei«, flüsterte sie. Trotz seiner Schönheit wirkte das Hotel Danvers doch irgendwie feindselig, als bewahrte es düstere Geheimnisse - Geheimnisse, die ihr Leben für immer verändern konnten.
Was für eine alberne Vorstellung.
Dennoch vermochte Adria die Kälte nicht abzuschütteln.
Ohne länger abzuwarten, lief sie bei Rot über die Ampel. Ein heftiger Windstoß riss ihr die Kapuze vom Kopf. Das Tageslicht wurde bereits schwächer, die wolkenverhangene Sonne senkte sich hinter die Berge im Westen, wo inmitten üppig grüner Waldlandschaft vereinzelt teure Landhäuser standen.
Das Hotel Danvers war bereits seit Monaten wegen Restaurierung für den Publikumsverkehr geschlossen. Nun waren die Arbeiten beinahe vollendet und bald würde das Hotel sich wieder in seiner früheren Großartigkeit präsentieren. In den vergangenen zwei Tagen hatte Adria beobachtet, wie Lieferwagen Tische, Stühle und andere Möbel zum Service-Eingang gebracht hatten. Heute waren für die große Neueröffnung am Wochenende Tischwäsche, Gläser und sogar Lebensmittel geliefert worden.
Gerüchten zufolge hielt sich der gesamte Danvers-Clan - Witt Danvers' erste Frau und seine vier noch lebenden Kinder - in der Stadt auf. Gut so.
Böse Vorahnungen krampften ihren Magen zusammen wie eine kalte Faust. Seit sie von der Schließung und der bevorstehenden Wiedereröffnung des Hotels gehört hatte, plante sie ihre Einführung in die Familie. Doch vorher musste sie, um das Terrain zu sondieren, mit dem Mann sprechen, der den Umbau des Hotels leitete: Zachary Danvers, der Rebell der Familie, Witts zweiter Sohn. Nach allem, was in der Presse berichtet worden war, hatte Zachary sich nie so recht eingefügt. Die Familienähnlichkeit der Danvers', die bei seinen Geschwistern so unübersehbar war, trat bei ihm nicht zutage. Außerdem war er in seiner Jugend mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Nur das Vermögen seines alten Herrn hatte Zachary vor ernsthaften Schwierigkeiten bewahrt, und es wurde gemunkelt, er sei nicht nur das ungeliebteste von Witts Kindern, sondern werde auch in seinem Testament kaum bedacht.
Ja, Zachary war der Mann, den sie zuerst aufsuchen musste. Sie hatte sich sein Foto gut eingeprägt, sodass sie ihn sicher auf Anhieb erkennen würde. Etwas über einsachtzig groß, mit pechschwarzem Haar, bräunlichem Teint und tief liegenden grauen Augen unter dichten Brauen, war er der einzige von Witt Danvers' Söhnen, der seinem Vater nicht ähnlich sah. Er war schmaler gebaut als die übrigen Männer der Familie, und seine Gesichtszüge wirkten wie aus dem Stein der Klippen gemeißelt, die sich über dem Pazifik erhoben. Er war ein schroffer Kerl, zäh wie Leder, mit einem harten Mund, der auf Fotos kaum jemals lächelte. Über dem rechten Ohr hatte er eine Narbe, die durch den Haaransatz verlief, und seine gebrochene Nase zeugte von einem ungestümen Temperament.
Durch eine Seitentür, die für die Arbeiter geöffnet war, gelangte Adria in das Foyer, wo gerade zwei Männer unter dem Gewicht eines langen, in Folie verpackten Sofas ächzten. Sie hörte Stimmen im Hintergrund, sah Hotelangestellte und Handwerker zwischen dem Speisesaal und der Küche gegenüber der Eingangstür hin und her eilen. Der Geruch von Reinigungsmitteln, Terpentin und Möbelpolitur schlug ihr entgegen und das Kreischen einer Säge mischte sich in das Summen von Industriestaubsaugern.
Während die Arbeiter das Sofa an einem riesigen Kamin abstellten, blieb Adria im Foyer stehen und sah sich um. Dieses Hotel war einmal das prächtigste in ganz Portland gewesen, ein Versammlungsort für Würdenträger und Stadtväter, an dem Entscheidungen getroffen und Zukunftspläne geschmiedet wurden. Sie hob den Blick zu den kunstvollen Bleiglasfenstern über den Außentüren, die die letzten Strahlen des Tageslichts einfingen und bernsteinfarbene, rosige und blaue Flecken auf den Fliesenboden vor dem Empfangstresen warfen.
Adria schluckte krampfhaft, doch der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Dieses Hotel war ihr Erbe. Ihr Geburtsrecht. Ihre Zukunft.
Oder nicht?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Entschlossen ging sie auf die breite, geschwungene Treppe zu, die hinauf zur Galerie führte.
»He, Sie da! Lady, hier ist geschlossen!« Die tiefe Stimme gehörte zu einem kräftigen, grobschlächtigen Mann, der auf einem Gerüst unter dem Treppenabsatz des ersten Stockwerks stand und sich an dem Kronleuchter über dem Empfangstresen zu schaffen machte.
Adria ignorierte ihn und stieg die mit Teppich ausgelegte Treppe hinauf.
»Hey, ich rede mit Ihnen!«
Sie zögerte, eine Hand auf dem Geländer. Ihr Vorhaben versprach nicht einfach zu werden, doch der Elektriker war nur ein unbedeutendes Hindernis. Das erste von vielen. Mit einem entwaffnenden Lächeln drehte sie sich um und straffte die Schultern. »Sind Sie Zachary Danvers?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
»Nein, aber .«
»Sind Sie mit den Danvers' verwandt?«
»Was soll das?« Der Handwerker sah sie unter seinem Schutzhelm hervor finster an. »Nein, natürlich nicht, aber Sie dürfen da nicht raufgehen!«
»Ich habe eine Verabredung mit Zachary Danvers«, erklärte sie, kühle Autorität in der Stimme.
»Eine Verabredung?«, wiederholte der Elektriker skeptisch.
Sie hielt seinem Blick stand. »Ja, eine Verabredung.«
»Das ist mir neu. Ich bin sein Vorarbeiter und er hat mir nichts davon gesagt.« Der Mann musterte sie mit Argwohn.
»Vielleicht hat er es vergessen«, entgegnete Adria und zwang sich zu einem unterkühlten Lächeln. »Aber ich muss mit ihm oder einem anderen Mitglied der Familie Danvers reden.«
»Er kommt ungefähr in einer halben Stunde zurück«, sagte der Mann widerwillig.
»Ich werde auf ihn warten. Im Ballsaal.«
»Hey, ich glaube nicht .«
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, eilte Adria die übrigen Treppenstufen hinauf. Der hochflorige Teppich verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Ihr Atem ging flach vor Nervosität.
»Scheiße«, fluchte der Mann leise, blieb jedoch auf dem Gerüst und setzte seine Arbeit fort. »Verdammte Weiber .«
Adrias Herz schlug so heftig, dass sie kaum zu atmen vermochte, doch am oberen Treppenabsatz angekommen, wandte sie sich zielstrebig nach links und stieß eine Doppeltür auf. Es war dunkel in dem Raum. Ihre Kehle wurde eng und sie tastete rasch nach dem Lichtschalter.
Plötzlich tauchten hunderte Miniaturkerzen in Kristalllüstern den gesamten Saal in strahlendes Licht. Ihr stockte der Atem beim Anblick des polierten Eichenbodens, der hohen Bogenfenster und des schwindelerregenden Lichtes von einer Million kleiner Glühbirnen, das sich im Kristall brach.
Sie spürte einen Kloß im Hals und musste blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Hier war es geschehen? Hier war ihr junges Leben aus der vorbestimmten Bahn gerissen worden, einer ungewissen Zukunft entgegen?
Warum? Sie nagte an ihrer Unterlippe. Lieber Himmel, weshalb konnte sie sich nur nicht erinnern?
Der Oktoberregen tropfte aus seinem Haar in den Kragen seiner Jacke. Totes Laub klebte auf dem Gehsteig, dichter Oktobernebel schien von den nassen Straßen aufzusteigen und sich an den Häuserecken zu verdichten. Autos, Lieferwagen und LKW donnerten vorüber. Ihre Scheinwerfer durchdrangen schwach den von Straßenlaternen erhellten Dunst.
Zachary Danvers war übel gelaunt. Dieses Projekt hatte sich zu lange hingezogen, er hatte zu viel Zeit damit vergeudet. Das war es nicht wert, auch wenn er einen gewissen Stolz auf seine Leistungen empfand. Hier zu arbeiten, diese Restaurierung zu leiten gab ihm das Gefühl, ein Heuchler zu sein. Er war froh, dass die Arbeiten so gut wie abgeschlossen waren. Leise auf sich selbst, seine Brüder und vor allem auf...