Schweitzer Fachinformationen
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Lassen Sie die Hunde nicht raus!«, rief die dünne Frau Jules warnend hinterher, die über die unebenen, vom Regen glitschigen Steinplatten rannte, wider alle Vernunft hoffend, das Unaufhaltsame zu verhindern. Sie bog um die Ecke der majestätischen Villa und zog die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf, obwohl ihr der kalte Regen bereits den Nacken hinunterrann. Rhododendronsträucher zitterten im Wind.
Egal. Sie wollte Shay noch einmal sehen, und wäre es auch nur für eine Minute.
Vor einem großen, ebenfalls schmiedeeisernen Tor blieb sie resigniert stehen, doch dann entdeckte sie, dass der Schlüssel im Schloss steckte, sperrte auf und hörte im Weiterlaufen, wie das Tor mit einem lauten Scheppern hinter ihr zufiel. Sie sprang eine Reihe von Stufen hinunter.
Die Hunde - zwei schwarze Riesenpudel - rasten auf das Tor zu. Sie warf ihnen kaum einen zweiten Blick zu, als sie Richtung Anleger und Bootshaus eilte, wo Edie unter einem Schirm stand, an dem heftig der Wind zerrte. Hinter ihr glitt ein Wasserflugzeug über die stahlgraue, gekräuselte Oberfläche, dann stieg es in den grauen Himmel von Seattle auf.
»Na großartig!« Jules' Mut sank. Sie war zu spät. Verdammt noch mal! »Du hast sie wirklich in den Flieger gesetzt?«
»Das hatte ich dir doch gesagt. Himmelherrgott, Julia, sie erfüllt lediglich die Auflagen des Richters!« Edie Stillman, bekleidet mit einem blauen Jogginganzug aus Seide, drehte sich zu ihrer älteren Tochter um. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles, als sie Jules' Klamotten musterte. »Hast du nichts Anständiges anzuziehen?«, fragte sie peinlich berührt. »Du siehst aus wie ein Verbrecher.«
Regen trommelte auf die Kapuze von Jules' Sweatshirt und tropfte vom Schild ihrer Baseballkappe. »Genau das hatte ich beabsichtigt.«
»Man kann ja nicht mal sehen, dass du eine Frau bist!«
»Das hat doch hiermit nichts zu tun!« Jules blickte durch ihre Sonnenbrille in den verhangenen Himmel und sah das Wasserflugzeug in den Wolken verschwinden. »Ach, Mom, ich habe doch gesagt, ich würde sie bei mir aufnehmen!«
»Und Shay hat gesagt . lass mich überlegen, wie ihre liebenswürdige Bemerkung formuliert war .« Edie legte einen Finger an den Mundwinkel und tat so, als dächte sie nach. Dicke Tropfen prasselten auf die Holzbohlen des Anlegers und sprenkelten die Wasseroberfläche. »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie sagte: >Ich würde mich lieber zu Tode kotzen, als mit Jules zusammenzuwohnen!< Was für eine nette Art, >Nein, danke!< zu sagen.«
»Schon gut, schon gut. Ich weiß, dass sie nicht unbedingt begeistert von dem Vorschlag war, aber der Ort, an den du sie schickst, ist wirklich nicht besser als ein Gefängnis!«, erwiderte Jules gereizt.
»Ein ziemlich angenehmes >Gefängnis<, mehr wie ein Ferienlager oder ein Ort der Besinnung. Hast du dir die Broschüren angesehen?«
»Natürlich, ich bin sogar auf die Homepage gegangen. Trotzdem: Es gibt dort Wachpersonal und Zäune und -«
»Dann wird sie vielleicht lernen, ihre Freiheit zu schätzen«, fiel Edie ihr ungerührt ins Wort.
»Zu welchem Preis?«, fragte Jules, deren Sweatshirt inzwischen völlig durchnässt war. Hätte sie bloß ihre Jacke übergezogen! Das Motorengeräusch des Wasserflugzeugs war mittlerweile im Nichts verhallt. Sie dachte an die Artikel, die sie im Internet aufgerufen hatte, als sie von Edies Plan erfuhr, Shaylee auf die Blue Rock Academy zu verfrachten. »Ich habe recherchiert und bin darauf gestoßen, dass es Ärger gegeben hat. Im letzten Jahr ist die Schule in die Schlagzeilen geraten - im negativen Sinne. Vergangenen Herbst ist ein Mädchen spurlos verschwunden, eine Lehrkraft hat sich mit einem Schüler eingelassen und -«
»Was Lehrer und Schüler betrifft - das passiert überall, was natürlich nicht heißt, dass ich es billige. Zumindest hat man ihn erwischt - ich habe mich nämlich auch informiert.«
»Sie«, korrigierte Jules. »Es war eine Lehrerin.«
»Das scheint heutzutage wohl an der Tagesordnung zu sein«, stellte Edie mit gerunzelter Stirn fest. »Nun, was dieses verschwundene Mädchen angeht, diese Lauren Conrad -«
»Sie heißt Conway.«
»Wie auch immer. Sie ist einfach abgehauen.« Feine Linien bildeten sich in Edies sorgfältig aufgetragenem Make-up. Obgleich sie schon in den Fünfzigern war, gab sie sich alle Mühe, mindestens fünfzehn Jahre jünger auszusehen. Doch angesichts der Anspannung, die auf ihr lastete, weil sie ihr missratenes Kind fortschicken musste, versagten Kosmetika und die halbjährlichen Botox-Injektionen heute ihren Dienst.
»Niemand hat eine Ahnung, was mit Lauren Conway passiert ist, Mom«, wandte Jules ein. »Das weiß ich, denn ich habe die Sache verfolgt, seit du mir mitgeteilt hast, dass du Shay in dieses Institut schickst. Von Lauren fehlt immer noch jede Spur.«
»Vielleicht ist sie schon öfter ausgerissen und untergetaucht! Wirklich, Jules, diese Schule ist auf straffällig gewordene Jugendliche spezialisiert!«
»Und deshalb ist es nicht weiter schlimm, wenn eine Schülerin verschwindet? Selbst wenn sie tatsächlich ausgerissen ist, ist die Blue Rock Academy verantwortlich für ihre Sicherheit. Darum geht es doch bei einer solchen Institution: gefährdete Jugendliche zu schützen!«
»Gib's auf.« Edie kniff die Lippen zusammen. »Ich kann zwar nicht die Schulphilosophie zitieren, aber vertrau mir: Das ist das Beste für Shaylee und mich. Du weißt, dass ich alles versucht habe, doch nichts hat funktioniert. Ich habe sie zu Beratungsstellen geschleppt, wenn sie deprimiert war, habe sie beim Taekwondo und sogar beim Kickboxen angemeldet, damit sie ihre Aggressionen abbauen kann. Ich habe ihr Kunst-, Tanz- und Gesangsstunden bezahlt, um ihre Kreativität zu fördern. Und Perlenstickerei, erinnerst du dich? Das muss man sich mal vorstellen - Perlenstickerei! Und was war der Lohn dafür? Hm?« Edie kochte vor Zorn. »Ich werde dir sagen, was der Lohn dafür war: Sie hat Drogen genommen. Sie ist wegen Diebstahl und Vandalismus festgenommen worden, ganz zu schweigen davon, dass sie von drei Schulen geflogen ist!«
Um ihre Worte zu unterstreichen, hielt Edie drei zitternde, beringte Finger in die Höhe und wedelte damit vor Jules' Gesicht herum. »Drei!«, schimpfte sie. »Das ist alles, was sie zustande bringt, und das bei einem IQ, der sich irgendwo in der Stratosphäre bewegt, und mit sämtlichen Privilegien, die man sich nur vorstellen kann! Hängt sich an einen Kriminellen namens Dawg!«
»Sie ist ein junges Mädchen. Vielleicht braucht sie einfach besondere Aufmerksamkeit.«
»Oh, verschone mich. Ich habe sie mit Aufmerksamkeit überschüttet. So viel hast du nie bekommen!«
Jules war sich da nicht so sicher.
»Das hat mit Mutterliebe nichts mehr zu tun, und auch Vaterliebe hin oder her, erspar mir dieses pseudopsychologische Gebabbel, Jules. Das zieht bei mir nicht!«
»Jetzt beruhige dich erst mal.«
»Nein! Hast du ihr neuestes Tattoo gesehen? Das Kreuz auf ihrem Unterarm? Was hat sie sich dabei gedacht?« Edie warf die Arme in die Luft und hätte beinahe ihren Regenschirm fallen gelassen. »Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft Shay mit einer Tätowierung, einem Piercing oder einer gestohlenen CD nach Hause gekommen ist. Und ihre Ausdrucksweise . unterstes Gossenniveau!«
»Wen kümmern schon ein paar Tattoos oder Nasenringe? Sie hat niemandem etwas getan!«
»Tattoos fallen unter Selbstverstümmelung und weisen auf tiefgehende Probleme hin. Sie hat also sehr wohl jemandem etwas getan, und zwar sich selbst!«
»Der Ansicht bin ich nicht.«
Edies Augen loderten. »Warum hat sie dann solche Schwierigkeiten mit dem Gesetz? Ich fasse es einfach nicht!«
»Hast du mal erwogen, ihr einen neuen Psychologen zu suchen oder es mit einem Psychiater zu probieren?«
»Sie war bei einem halben Dutzend.«
»Gib ihr eine Chance.« Es machte Jules zu schaffen, dass ihre Mutter Shay gegenüber so hart war. »Immerhin war sie an jenem Tag zu Hause, erinnerst du dich? Sie war im Haus, als Dad umgebracht wurde!«
Edies Gesicht versteinerte. »Du warst auch da.«
»Und du weißt, wie sehr mich das mitgenommen hat. Shay war erst zehn, Mom!« Mittlerweile stand Jules kurz davor, zu hyperventilieren. »Zehn! Ein Kind!«
»Ich weiß«, entgegnete Edie ruhig, und ein Teil ihrer Selbstgerechtigkeit verschwand. »Das war eine schlimme Zeit für uns alle«, räumte sie ein und richtete ihren Regenschirm, den eine heftige Windböe nach hinten gerissen hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Edie aufrichtig traurig, und Jules fragte sich, ob Rip Delaney die große Liebe ihrer Mutter gewesen war. Doch sie schob den Gedanken rasch beiseite, denn sie wusste es besser: Das war bloß eine ihrer albernen Wunschvorstellungen, der Traum einer Tochter, die stets gedacht hatte, ihre Eltern gehörten für immer und ewig zusammen, die begeistert gewesen war, als die beiden nach mehrjähriger Trennung wieder zueinandergefunden hatten, nur um zu erleben, wie sich ihr Traum in Luft auflöste. Rip und Edie hätten nie wieder zusammenkommen dürfen; die sprunghaften Launen und die Auseinandersetzungen, die sich während der Jahre ihrer Trennung gelegt hatten, fingen von vorn an, sobald die räumliche Distanz aufgehoben war. Nur Wochen, nachdem sie ihr Ehegelübde erneuert hatten, behauptete Edie in einem rasenden Eifersuchtsanfall, Rip würde sich mit einer anderen Frau treffen, und es stellte sich heraus, dass sie recht hatte. Rip Delaney war einfach nicht für die Ehe geschaffen, konnte nicht...
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