Schweitzer Fachinformationen
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Zwanzig Jahre zuvor
Mitternacht
Edgewater, Oregon
Bist du wahnsinnig?
Die nagende Stimme in ihrem Hirn verfolgte Rachel, als sie durch das trockene Gras rannte, das durch den jahrzehntealten brüchigen Asphalt wucherte. Die Nacht war stockdunkel, nur wenn die Wolkendecke ab und an aufriss, warf eine schmale, fahle Mondsichel ein silbriges Licht auf das Gelände der alten Fischfabrik am Fluss. Sobald der Wind nachließe, der die Wolken vor sich hertrieb, würde sich Nebel vom Wasser her ausbreiten und feuchtkalt durch die verlassenen Piers und Verladeanlagen kriechen, um auch dieses leer stehende Gebäude einzuhüllen, bevor er sich weiter landeinwärts ausbreitete und die Stadt unter einer dichten Decke begrub. Nur eine einzelne Laterne spendete ein verwaschenes Licht, weshalb Rachel zweimal stolperte, bevor sie endlich den Maschendraht erreichte, der das Gelände der stillgelegten Sea View Cannery umgab.
Das kannst du doch nicht machen, Rachel, wirklich nicht. Denk doch mal nach! Dein Dad ist Polizist - Detective! Dreh um!
Doch sie hörte nicht auf die innere Stimme. Stattdessen schlüpfte sie durch ein Loch im Zaun, wobei sich ihr Rucksack an einem Stück Draht verfing. Er riss mit einem unangenehmen Ratschen auf, als sie gewaltsam daran ruckte, um sich nicht von ihrer Freundin abhängen zu lassen. Ihrer angeblich besten Freundin, doch inzwischen war sich Rachel da nicht mehr so sicher. Die zierliche, lebhafte Lila schien sich nämlich weit mehr für Rachels zwei Jahre älteren Bruder Luke zu interessieren als für sie.
»Beeil dich!«, rief Lila, die inzwischen gut zwanzig Meter Vorsprung hatte, über die Schulter. Ihr blondes Haar reflektierte das schwache Licht der Laterne, als sie sich aufrichtete und über die Brücke rannte - eine schmale, baufällige Fahrbahn, die genau wie die Fabrik auf Stützpfeilern im Wasser stand.
Rachel folgte ihr eilig.
So wie sie es immer getan hatte. Es war stets Lila, die mit irgendwelchen Plänen daherkam, und Rachel machte mit.
»Ich hab keine Ahnung, warum du dich immer wieder von ihr breitschlagen lässt«, hatte Luke vor rund sechs Monaten zu ihr gesagt, als sie auf dem Heimweg von der Schule waren, Luke am Steuer, Rachel auf dem Beifahrersitz. »Du benimmst dich wie ein Schoßhund, nein, wie ein Welpe, der seinem Frauchen auf Schritt und Tritt folgt.«
»Das stimmt nicht«, hatte sie widersprochen und beleidigt aus dem Fenster in den grauen, regnerischen Himmel geblickt. Seine Worte versetzten ihr einen Stich, denn in Wahrheit hatte er nicht unrecht. Um genau zu sein, traf er sogar absolut ins Schwarze, obwohl sie es hasste, das zuzugeben.
Inzwischen hatte sich das Blatt allerdings gewendet, und Lila war bei ihrem Bruder absolut angesagt. Was noch schlimmer war.
»Jetzt beeil dich, Rachel!«, drängte Lila. »Wir kommen zu spät!«
»Ja, zu unserer eigenen Beerdigung.«
»Ach, halt die Klappe!«, winkte Lila ungeduldig ab und rannte weiter. Laut Rachels Mutter zählte Lila zu den Mädchen, die vom rechten Weg abgekommen waren und ihre Freunde schneller wechselten als die meisten Leute ihre Handtücher. »Sie ist weitaus schlauer und sehr viel hübscher, als es ihr guttut. Jeder weiß, dass eine solche Kombination nichts als Ärger bringt«, hatte Melinda Gaston ihre Kinder mehr als einmal gewarnt. »Lila gehört zu den Menschen, die genau wissen, was sie wollen, und die über Leichen gehen, um es auch zu bekommen.«
Ihre Mutter hatte recht, erkannte Rachel jetzt. Absolut recht.
»Komm endlich!«
Rachel beschleunigte ihre Schritte, wobei sie sich an den Reflektorstreifen an der Rückseite von Lilas Sportschuhen orientierte. Nachlaufen. Immer nur nachlaufen. Das war wirklich ein Problem. Sie würde daran arbeiten müssen, aber nicht heute Nacht.
Der brackige Geruch des Flusses stieg Rachel in die Nase, als sie zusammen mit ihrer Freundin auf das größte der Fabrikgebäude zuhielt, eine riesige Halle, die irgendwie an eine Scheune erinnerte, erbaut auf einer mittlerweile faulenden Pfahlkonstruktion. Düster und bedrohlich erhob sich die Halle über dem Wasser, obwohl sie eigentlich schon vor Jahren hätte abgerissen werden sollen.
»Na super«, knurrte Lila genervt. »Die anderen sind längst drin.«
»Woher weißt du das?«, flüsterte Rachel, als fürchte sie, jemand könne sie hören. Sie schaute sich auf der leeren, schlaglochübersäten Freifläche zwischen der großen Halle und einem der Nebengebäude um, doch es war niemand zu sehen. Die Außenbeleuchtung an der Hallenwand warf ein trübes, bläuliches Licht auf den Beton. Vor Anspannung stellten sich die Härchen in Rachels Nacken auf.
»Ich weiß es halt, okay?« Lila verstummte und legte den Finger auf die Lippen. »Pst . Hörst du das?«
Gedämpfte Geräusche drangen durch die alten Holzwände. Stimmen, eilige Schritte, gefolgt von einem stakkatohaften Plopp! Plopp! Plopp! Klack! Klack! Klack! Nicht wie echte Schüsse. Einfach ein lautes Ploppen oder Klackern.
Softair-Waffen.
Sichere Waffen.
Keine tödliche Munition, aber weh tat es trotzdem, wenn man getroffen wurde, und verletzt werden konnte man auch, wenn es dumm lief.
Das Ploppen und Klackern machte sie nervös.
Die schnelle Schussfolge einer Automatik.
Mit wild pochendem Herzen sah Rachel, wie Lila ihren Rucksack öffnete und eine Pistole herauszog, die im Licht der Außenlampe kurz aufblitzte.
Rachel schluckte angestrengt. Obwohl sie wusste, dass aus Lilas Waffe nur Kunststoffkugeln kamen, keine richtigen, sah sie doch täuschend echt aus. Genau wie ihre eigene Pistole.
»Ich weiß nicht .«
»Wie bitte? Du willst doch jetzt wohl keinen Rückzieher machen?«, fragte Lila missbilligend. »Erst redest du ständig davon, dass du mal über den eigenen Tellerrand hinausblicken und etwas Verrücktes tun willst, und dann kriegst du Schiss? Wolltest du Mommy und Daddy nicht mal so richtig schockieren?«
»Schon, aber .«
»Klar. Wer's glaubt.« Lila schnaubte. »Mach, was du willst. Das tust du ja sowieso. Aber ich muss mit Luke reden. Unbedingt.«
»Hier?«
»Ist doch egal, wo.«
Bang! Bang! Bang! Bang! Bang!
»Was zum Teufel ist das denn? Etwa eine echte Waffe?«, flüsterte Rachel erschrocken.
»Nee, glaub ich nicht.«
»Was dann?«
»Scheiße. Das könnte Moretti sein. Nate hat gesagt, Max und er würden Böller mitbringen, um das Spiel ein bisschen realistischer wirken zu lassen. Als wäre es nicht so schon beängstigend genug.«
»Wie bitte?«
»Verrückt, nicht wahr?« Lila schien völlig unbeeindruckt. »Nate ist so ein Schwachkopf! Kein Wunder, dass er zweimal sitzen geblieben ist. Der Typ weiß nie, wann es genug ist. Er hat sogar einen von diesen Aufsätzen, die den Schuss lauter klingen lassen und Mündungsfeuer vortäuschen.«
Das wurde ja von Minute zu Minute schlimmer! Rachel kannte Nate. Den Sohn eines Arztes und Lukes bester Freund, obwohl die beiden auf der Highschool in verschiedenen Klassen gewesen waren. »Mensch, Lila, ich finde, wir sollten das Ganze abblasen .«
»Geht nicht. Ich muss mich mit Luke treffen.« Noch bevor Rachel weitere Argumente anbringen konnte, schlüpfte Lila durchs Tor, das einen Spaltbreit offen stand, in die Halle. Rachel folgte ihr, ein ungutes Gefühl im Magen.
Von innen wirkte die gewaltige Fischfabrik noch unheimlicher. Vielleicht spielte ihr auch nur die eigene Fantasie einen Streich, doch Rachel meinte, noch immer die Fischgedärme und -schuppen zu riechen, die hier entfernt und über offene Rutschen in den Fluss befördert worden waren, wo sich Seehunde, Seelöwen, Möwen und andere Nutznießer auf die blutigen Überreste gestürzt hatten.
Das bildest du dir nur ein. Die Fabrik ist schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb.
Doch das beruhigte ihre aufgewühlten Nerven nicht.
Gleich hinter dem Tor blieb Rachel stehen und versuchte, sich zu orientieren. Niemand, nicht einmal Lila, wusste, dass sie zuvor schon einmal hier gewesen war, kurz vor Sonnenuntergang. Sie hatte sich in der alten Fabrik umgesehen, hatte sich die Örtlichkeiten eingeprägt, um sich zumindest einen kleinen Vorteil für später zu verschaffen. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Rachel in die Dunkelheit. Sie hatte versucht, in Gedanken eine Art Gebäudeplan zu erstellen - potenzielle Gefahrenstellen, heimtückische Löcher im Fußboden oder Hindernisse wie verrostete Fässer, Leitern und Flaschenzüge inklusive. Obwohl sie die anderen nicht sehen konnte, hörte sie sie, weil sie miteinander flüsterten oder über die alten Dielen und Betonplatten hin und her huschten. Jemand kletterte eilig eine Metallleiter hinauf, ein anderer rannte über eine schmale Laufplanke über ihrem Kopf. Ihr Herz klopfte jetzt so laut, dass sie sich Mühe geben musste, all diese Geräusche wahrzunehmen.
Das hier waren ihre Freunde, rief sie sich in Erinnerung, Kids, mit denen sie zur Schule ging, wenn sie auch in unterschiedlichen Jahrgangsstufen waren. Es gab nichts, weswegen sie sich Sorgen machen musste . Rachel stieß sich von der Tür ab und wagte sich weiter in die Halle vor. Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit.
Plopp! Plopp! Plopp, plopp, plopp!
Hinter ihr wurde eine Softair-Waffe abgefeuert, Kunststoffkugeln sausten zischend durch die Luft.
Sie zuckte zusammen und wirbelte so schnell herum, dass ihr die Haare ins Gesicht flogen, als sie ihre Pistole auf - ja, worauf eigentlich? - richtete. Verflucht! Nun meinte sie, einen Schatten zu erkennen, der sich auf das...
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