Schweitzer Fachinformationen
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1 DIE SCHÖNE UND DAS MESSER
Am Anfang herrscht Finsternis.
Eine Finsternis schwärzer als die Nacht.
Die Stille wirkt bedrohlich.
Ein dünner Lichtstrahl durchdringt die Düsterkeit, wird stärker, erweitert sich zu einem Kegel, unter dem allmählich das schwache Spiel von Formen und Schatten sichtbar wird.
Ein Arm taucht auf. Dann noch einer. Ineinander fließende Bewegungen, wie ein sich langsam ausbreitender Fleck.
Ärmel aus dunklem Stoff, die Arme ruhelos, irgendwie mit einem Körper verbunden, der immer noch knapp außer Sichtweite bleibt.
Eine Backsteinmauer.
Davor ein großer Mann, das Gesicht im Schatten, einen unförmigen Mantel um seinen langen Körper geschlungen, zusammengehalten mit einem groben Hanfstrick. Der Mann regt sich nicht.
Die Zeit dehnt sich, und ich spüre ein Jucken am rechten Schenkel, während ich dort stehe und auf das Unvermeidliche warte. Doch ich wage nicht, mich zu rühren. Die bewusste Langsamkeit, mit der sich die Szene entfaltet, hat etwas Zeremonielles, das mich tief bewegt.
Die eigentümliche Stimmung versetzt mich zurück nach Neuseeland, ans Meer, wo ich vor ein paar Monaten zusammen mit Iris den Ball besucht habe. Wir haben einen Strand gesehen, der mit reglosen Körpern übersät war. Was sich natürlich nicht vergleichen lässt: Hier handelt es sich um eine eindeutig urbane Umgebung und eine völlig andere Darstellung menschlicher Leidenschaft. Die Backsteinmauer, über der schwache Nebelschwaden wabern, das Muster der Pflastersteine, und weit und breit keine donnernden Wogen. Hier eine trostlose Stadt bei Nacht, dort entfesselte Naturgewalten. Einen größeren Gegensatz könnte es nicht geben. Dennoch ist beides auf emotionale Weise miteinander verbunden. Mit mir als Zuschauerin. Als Voyeurin.
Ein erwartungsvoller Schauder durchläuft mich.
Eine Frau taucht auf. Wie aus dem Nichts.
Sie ist von kleiner Statur, oder vielleicht wirkt es nur so, weil der Mann außergewöhnlich groß ist. Der Hintergrund liegt im Dunkeln, und ich kann die Größe der beiden nicht richtig einschätzen.
Sie trägt einen knöchellangen rostbraunen Samtrock und eine weiße Bluse mit Schößchen. Ihre Taille ist schmal, kastanienbraune Locken fallen ihr über die Schultern. Ihr Gesicht ist stark geschminkt, die Lippen in einem aggressiven Rot. Sie hat grüne Augen und ein betont unschuldiges Auftreten.
Sie geht weiter.
Den Mann, der ihr auflauert, kann sie nicht sehen. Er umkreist sie, bleibt im toten Winkel, ein subtiler Tanz, dessen Schrittfolgen nur jemand erkennen kann, der die beiden beobachtet.
Das Licht ist unmerklich heller geworden, vertreibt die Schatten, während die beiden ihren Weg über die nassen Pflastersteine fortsetzen.
Er folgt ihr, seine große Gestalt bedrohlich und für sie immer noch unsichtbar. Seine Hand gleitet in den dunklen Mantel. Taucht wieder auf. Hält eine tödliche Klinge.
Scharfes Einatmen ist zu hören.
Er hält das Messer hoch.
Wie ein Ritual, dessen Ablauf längst festgelegt wurde und nun unausweichlich ist.
Im Nu holt er sie ein.
Sie wendet den Kopf, ihr Blick fällt auf das Messer, angezogen vom Aufblitzen der scharfen Klinge. Sie zeigt keine Überraschung, keine Panik.
»Du bist es«, sagt sie ruhig.
Endlich ist sein Gesicht zu erkennen. Er ist Mitte vierzig, mit markantem Gesicht und hohen Wangenknochen, die auf Grausamkeit deuten. Eine gezackte Narbe auf der rechten Wange verläuft vom Kieferknochen bis zum Mundwinkel. In sein gefährliches Aussehen mischt sich aber auch eine gewisse Traurigkeit.
»Ja.«
»Ich wusste, du würdest zurückkommen«, fährt die Frau fort. Sie macht keine Anstalten, sich zu verteidigen oder der Waffe auszuweichen. Er hält den Arm ruhig, während er sie anschaut.
»Ich musste dich wiederfinden .«
»Um es mir heimzuzahlen?«
»Ja. Was du getan hast, war unverzeihlich.«
»Ich weiß.« Sie seufzt.
Ihre Schultern sacken leicht nach vorn.
Der Mann mit der Klinge zögert.
Die beiden wirken wie Statuen, reglos, erstarrt. Das Licht um sie herum ist immer heller geworden. Nun sind sie in blendendes Weiß getaucht.
»Ich bin bereit«, sagt die Frau und wappnet sich.
»Lulu .«
»Ich werde dich nicht um Verzeihung bitten.«
»Vielleicht solltest du das tun.« Er klingt bedauernd.
»Ich habe dich einmal geliebt.«
Als er das hört, scheint er in seiner Entschlossenheit kurz zu wanken; ein Schatten legt sich über seine Augen, verbirgt seine Wut.
Ruhig öffnet sie den obersten Knopf ihrer weißen Bluse und entblößt ihre bleiche Haut. Sofort möchte ich mehr sehen. Die Rundung ihrer Brüste. Ihre Nippel.
Sie spürt sein Zögern, greift nach der Hand, die das Messer hält, und senkt sie an ihre Kehle.
»Tu es«, flüstert sie.
Er steht wie angewurzelt da.
»Jetzt!«, befiehlt sie und zieht an seinem Handgelenk.
Der gezackte Rand der Stahlklinge dringt schwach in ihre weiße Haut und hinterlässt eine dünne Blutspur.
Sie schnappt nach Luft.
Er schreit laut.
Und reißt das Messer zurück, hebt es hoch über den Kopf, bevor er mit voller Wucht wieder zustößt. Diesmal dringt die Messerspitze tief ein, Blut schießt heraus, spritzt auf den Boden, durchtränkt ihre Bluse, verbreitet ein tödliches Muster auf dem Stoff wie eine fremdartige Blume, verschwindet in der Dunkelheit ihres Samtrocks und versickert dort.
Einen kurzen Augenblick bleibt die junge Frau noch stehen, schwankend, ihr Blick wird stumpf, bis sie schließlich zu Boden sinkt.
Ich hatte etwas Melodramatischeres erwartet - als wäre das, was ich gerade gesehen habe, nicht dramatisch genug -, mehr Sprache, Handlung, doch die Schlichtheit trifft mich wie ein Schlag.
Sie liegt ausgestreckt auf den Pflastersteinen, die Gliedmaßen seltsam abgewinkelt, ein Arm zuckt noch einmal unwillkürlich. Der Mann, der Mörder, steht vor ihr, sein Gesicht totenblass, Tränen in den Augen. Das Licht schwindet allmählich, bis das Paar nur noch von einem weißen Lichtkegel umgeben ist und die Stadtkulisse in der Dunkelheit versinkt, aus der sie hervorgegangen ist.
Ein zögerliches Klatschen, noch eines. Raschelnde Bewegungen im Publikum. Dann setzt der Applaus richtig ein.
Der Bann war gebrochen.
Ich trat ein paar Schritte zurück und zog den schweren Vorhang zur Seite, durch den die Zuschauer nun ins Foyer hinaus und auf die geschäftigen Straßen von Covent Garden strömen würden. Auf der anderen Seite der Sperrsitze machte Agnetha, ein fülliges Mädchen mit einem roten Band im dunklen Haar, dasselbe. Ich wich zur Seite, um die Menge an mir vorbeizulassen, genau wie Agnetha auf ihrer Seite des Theaters. Zuschauer, die es eilig hatten, einen Bus oder die U-Bahn nach Hause zu erreichen, strömten in einem Durcheinander aus Hüten und Mänteln, Handschuhen und Schals hinaus, leere Gesichter, fast schon verzweifelt, verzerrt, jetzt, wo der Zauber vorbei war und sie ins wirkliche Leben zurückkehrten. Ich bildete mir ein, flüchtige Blicke in ihr Leben zu erhaschen, während sie an mir vorbeigingen, die Liebenden an dem Lächeln zu erkennen, das ihre Lippen umspielte, die Müden und Verlassenen an dem Geist der Einsamkeit, den sie mit sich trugen, ihre Schultern gebeugt, ihre Schritte etwas langsamer als die der anderen.
Schwer ist die Arbeit nicht, überlegte ich nach diesem Anfangsabend meines ersten Jobs in London. Doch ich war mir nicht sicher, wie viel vom Zauber des Theaters bleiben würde, wenn ich das Stück während seiner Laufzeit immer wieder sehen musste.
Die Ereignisse auf der Bühne hatten mich in ihren Bann gezogen, die Voyeurin in mir, die für eine kurze Weile vergessen konnte, dass es sich um Schauspieler handelte. Die die Künstlichkeit des Dramas übersah, das mich dennoch packte, während Hunderte von Zuschauern ihre Süßigkeiten mampften und ihr Bier oder ihren Weißwein aus Plastikbechern tranken.
Ich war immer leicht zu beeindrucken gewesen, schon als Kind fühlte ich mich angezogen von der dunklen Magie des Lebens im Schatten, die mich umgab, real oder eingebildet. Was mich, wie ich annahm, nach London geführt hatte. Hier konnte ich mich in den Kopfsteinpflasterstraßen verlieren, die sich wie ein Labyrinth unter dem grauen Himmel wanden.
Das, und natürlich Iris. Sie würde jetzt in der kleinen Wohnung auf mich warten, die wir uns am Kanal in Hammersmith teilten.
Nachdem ich wieder in Jeans und T-Shirt geschlüpft war, das mittlerweile leere Theater verlassen hatte und vom Nachtbus aus die Londoner Sehenswürdigkeiten vorbeirauschen sah, dachte ich an Iris - ihre nach Salzwasser riechende Möse, in der ich mich so gern vergrub, und an die erste Nacht, in der wir richtig zusammen gewesen waren. Die erste Nacht beim Ball, am Meer.
Ich war immer schon ein Kind des Meeres.
Das war das Einzige, was ich von meinen Eltern geerbt hatte, die im Winter 1947 von London nach Neuseeland ausgewandert waren. Obwohl ich zu der Zeit noch gar nicht geboren war, erzählte mir meine Mutter später, meine Liebe zum Wasser müsse wohl von den sechs Wochen an Bord der Rangitata herrühren. Sie habe die Zeit größtenteils an Deck verbracht, um mit dem Aufruhr in ihrem Magen fertigzuwerden, ausgelöst von Morgenübelkeit und Wellengang. Mein Vater war unterwegs im Alkoholrausch über Bord gegangen und ertrunken.
Wir legten in...
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