1. Kapitel
Malta - die erste Reise
Ina
St. Julian's, 5. April 1987
Ich bin so glücklich! Seit ich hier auf Malta bin, fühle ich mich vollkommen entspannt, frei und von einer Lebensenergie, die ich schon fast nicht mehr kannte! All die Ängste und Befürchtungen, die ich in Berlin seit der Diagnose Morbus Bechterew im Januar ja fast immer als zusätzliche Last mit mir herumschleppe, scheinen sich hier in Luft aufgelöst zu haben!
Ich gehe täglich stundenlang spazieren, esse wenig und trinke keinen Alkohol. Kurz: Ich fühle mich so leicht, lebendig und frisch wie früher als Kind.
Das klare und türkisblaue Meer, das goldgelbe Licht der Abendsonne, die netten Leute, die über eine - so scheint es mir - ganz besondere Art von Humor verfügen, die vielen lieben Hunde und Kätzchen überall, all das zusammen ist mehr für mich als Urlaub. Vielmehr ist es, als fände ich zu mir selbst zurück, zu meinem Mittelpunkt.
Malta ist wirklich wunderschön: Die ganze Insel ist nicht einmal so groß wie West-Berlin! Obwohl fast der gesamte Ostteil Maltas (wo auch ich wohne) aus sich aneinanderreihenden Städten besteht, fühle ich mich gar nicht wie in einer Stadt! Trotz der vielen Autos, die sich auf rührende Art und Weise durch Straßen und Gassen bewegen, empfinde ich hier nie ein Gefühl der Enge oder Hektik, sondern immer ein Gefühl der Freiheit, der Gelassenheit und der Freude. Vielleicht ist es der Wind, der immer, selbst an den sonnigsten Tagen, zu spüren ist, und der meine Probleme förmlich wegzublasen scheint, vielleicht die Sonne, deren Licht hier intensiver auf mich wirkt, als ich es je woanders in Europa empfunden habe, vielleicht die Mentalität der drolligen Menschen, die hier leben. Vielleicht ist es diese Mischung aus Benzingeruch und Seeluft, die von der Küste noch weit bis ins Landesinnere wahrzunehmen ist, bei der zwei Welten aufeinanderstoßen und sich friedlich vereinen. Nun, vielleicht weiß ich auch gar nicht, was es ist, das mich verzaubert hat.
Bei aller Freude und bei aller Schwärmerei scheinen meine Pflichten vollkommen in Vergessenheit zu geraten! Schließlich sollte und wollte ich meine Rolle für Pippi Langstrumpf hier im Urlaub einstudieren. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal die Handlung gelesen, geschweige denn, meine Rolle einstudiert! Habe auch gar keine Lust dazu, aber in zehn Tagen geht es schon wieder zurück nach Berlin, und dann muß ich meinen Part im Theater vortragen. Das kann ja noch heiter werden! Es mag eine Binsenweisheit sein, aber die Zeit vergeht zu schnell, wenn man glücklich ist!
Auch an Andreas habe ich noch keine Zeile geschrieben! Sollte ich jetzt ein schlechtes Gewissen bekommen? Nein, für solche Art von Gedanken ist mein Kopf zurzeit nicht bereit! Ich habe Andreas natürlich nicht vergessen, und doch kann ich nicht gerade behaupten, Sehnsucht nach ihm zu haben.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich eigentlich nie Sehnsucht nach meinen Freunden hatte, wenn ich alleine im Urlaub war. Ich habe mich zwar stets gefreut sie wiederzusehen, wenn ich von einer Reise zurückkam, aber ich kann nicht behaupten, einen von ihnen wirklich vermisst zu haben! Wenn ich mich so umschaue, so müsste ich langsam aber sicher meinen, dass mit mir irgendwas nicht stimmt! Ob im Theater, im Film oder im alltäglichen Leben: Überall scheinen die Menschen ihre Partner zu vermissen, wenn sie fort sind. Vorausgesetzt, dass sie sie lieben natürlich. Natürlich? Ist es denn natürlich oder sogar zwangsläufig, denjenigen, den man liebt, zu vermissen, sobald er nicht da ist? Ist Sehnsucht ein Beweis für Liebe, sind die beiden Begriffe unmittelbar verbunden und nicht voneinander zu trennen? Das glaube ich nicht. Sehnsucht bedeutet viel mehr, jemanden zu brauchen, als ihn zu lieben (erstes schließt zweites natürlich nicht aus).
Was mich betrifft, so habe ich viel zu große Angst jemanden zu brauchen, mich also quasi abhängig zu machen, als dass ich Gefühle der Sehnsucht aufkommen lassen würde! Sehnsucht bereitet mir Angst, deswegen habe ich keine (ist das wirklich so einfach?)
Ist das ein Armutszeugnis, vermisse ich etwas, ohne es zu wissen? Na ja, Sehnsucht hin, Sehnsucht her, ich bin auch immer noch etwas sauer auf Andreas. Zwar haben wir uns gerade vor meiner Reise wieder versöhnt, aber es gibt immer wieder so viele Dinge, die mich ärgern, wenn ich nur an ihn denke. Manchmal glaube ich sogar schon, dass Männer und Frauen zu verschieden sind, um sich wirklich zu verstehen! Aber das ist wahrscheinlich Unsinn (wo habe ich das nur wieder gelesen?)
Was Männer angeht, so benehme ich mich nicht gerade zurückhaltend hier, im Gegenteil: Ich bin permanent am Flirten! Die maltesischen Männer sind die totalen Anmacher und wahnsinnig nett und lustig dabei. Wahrscheinlich würde so manch eine deutsche Frau die Malteser als Machos bezeichnen, aber immerhin können sie - im Gegensatz zu den langweiligen deutschen Männern - noch flirten. Und flirten gehört nun einmal zu den schönsten Dingen im Leben!
Am meisten flirte ich mit einem Malteser, der hier im Hotel arbeitet. Äußerlich ist er gar nicht mein Typ, und auch nicht mal typisch südländisch: Er ist wohl so Ende dreißig, nicht gerade schlank, hat blaue Augen und dunkelblondes, grau meliertes Haar. Obwohl er kein Schönling ist, hatte er von Anfang an eine erotische Ausstrahlung auf mich (was im Übrigen oft der Fall ist; meistens finde ich sogenannte gut aussehende Männer völlig unerotisch und vor allem uninteressant). Irgendwas an ihm hat mich sofort interessiert und angetörnt. Augenblicklich hatte ich das Bedürfnis, ihm zu gefallen. Als er mir dann eines Morgens das Frühstück brachte, berührten sich unsere Hände. Was für eine warme Hand! Es war das schönste Gefühl, das ich seit Langem gehabt habe! Mir wurde heiß und kalt, und er verweilte eine Sekunde länger in dieser Stellung, als es nötig gewesen wäre, um den Teller auf den Tisch zu stellen. Wenig später trafen wir uns im Fahrstuhl wieder, und es knisterte. Ja, es knisterte, wie sonst sollte ich diese merkwürdige Spannung benennen, die herrschte, als er zu mir in den Aufzug stieg? Ich sagte: »Hello«, und er fragte: »Alright?« Sonst sagte keiner ein Wort, aber das Knistern sprach Bände . Dieser Mann verfügt über Charme und Humor. Ich glaube, das ist es, was mir so sehr an ihm gefällt.
Ina
Malta, 6. April 1987
Dieser Mann heißt übrigens Philip, wie ich inzwischen erfahren konnte. Gestern Abend war ich noch in der Bar des Hotel Pace, in dem ich seit fünf Tagen wohne und - wie ich die Dinge so sehe - wohl auch wohnen bleiben werde. Das Hotel ist nämlich billig und urig: Es liegt versteckt hinter ein paar Häusern, hat zwanzig Zimmer, und von der Dachterrasse kann man die Bucht sehen. Alles ist hier etwas chaotisch, aber das Personal ist süß .
Philip machte mich ziemlich an, gab mir einen aus, woraus schnell mehrere Gläser Wein wurden, die mich ziemlich beschwipst machten, da ich zuvor ja fünf Tage nichts getrunken hatte. Wieder ertappte ich mich dabei, ihm gefallen zu wollen. Wir erzählten und lachten. Ich war die einzige Frau in der Bar, außer mir noch Philip, drei andere maltesische Männer vom Personal und ein Schotte. Natürlich stand ich dementsprechend schnell im Mittelpunkt des Geschehens und flirtete eigentlich mit allen, obwohl mein Interesse ausschließlich Philip galt (es ist schon sonderbar, wie ich mich manchmal verhalte!)
Ich erzählte von Berlin und auch von Andreas. Einer der Malteser fragte mich, ob ich meinen Freund lieben würde, woraufhin ich etwas nervös und unsicher wurde, was an Phils Gegenwart lag. »Ja .«, sagte ich schließlich peinlich unschlüssig und zögernd, »aber im Moment stecken wir gerade in einer . Krise!«
»That's life«, meinte Philip in seiner typischen >Take it easy<-Art, und mir fiel doch glatt nichts Besseres ein, als festzustellen: »It's not easy .«
Die Männer lachten und meinten wohl, mir Komplimente zu machen, indem sie behaupteten, ein so fröhliches und schönes Mädchen, wie ich es sei, könne im Leben doch gar keine Probleme haben! »Wenn das so simpel wäre .«, sagte ich schnell undeutlich und dachte: Wenn die wüssten .!
Heute Morgen hatte ich einen Kater, mein Orientierungssinn war völlig durcheinander. Ich rief an der Rezeption an, um nach Frühstück auf dem Zimmer zu fragen. Philip war am Apparat. Als ich seine Stimme hörte, wurden meine Kopfschmerzen augenblicklich von einem starken Herzklopfen abgelöst. »Good morning«, sagte eine für einen Mann außergewöhnlich weiche und trotzdem nicht hoch oder lächerlich klingende Stimme. Selbstverständlich würde er mir gerne das Frühstück ans Bett bringen, und ob ich Tee oder Kaffee wolle, hat er noch gefragt. »Tea, please«, sagte ich, worauf er mit maltesischem Akzent wiederholte: »One breakfast wid tea. Alright? I'll bring it to you in a second. Tank you. Bye.«
Ich war aufgeregt und schwitzte vor Freude, doch als es klopfte und ich die Tür öffnete, stand ein anderer, junger, im Übrigen sehr lieber und hübscher Malteser, der ebenfalls Philip hieß, mit dem Tablett vor mir. Ich setzte mich auf meinen kleinen dunkelgrün gestrichenen Balkon, schaute auf das Blumenfeld unter mir, und aß etwas enttäuscht den Toast, als es nach einer Weile wieder an der Tür klopfte. »Yes, come in«, rief ich, und diesmal stand mein Philip in der Tür. »You want some extras?«, fragte er, worauf ich in meiner schmutzigen Fantasie köstlich zu lachen anfing, denn mit Extras verbinde ich das Sexgeschäft! Er verstand sofort, weshalb ich lachte, und sagte grinsend und zweideutig: »Lass mich deine...