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Tiefe Einblicke in ein ungleiches Land
Bunte Eiskugeln, süße Säfte, lange laue Nächte mit zirpenden Grillen - eingebettet in die Geborgenheit einer großen Familie. Diese Bilder prägen Alena Jabarines Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit. Weniger als 20 Kilometer trennen das Haus ihrer Großeltern, das sich im heutigen Israel befindet, vom besetzten palästinensischen Gebiet. Als Kind hatte sie nur eine Ahnung davon, dass eine zunächst unsichtbare Grenze dieses Land in zwei Welten teilt - mit großen Unterschieden, was die Rechte, die Lebenserwartungen und auch den Status in den Augen der Welt angeht. Anfang 2020 zog Jabarine nach Ramallah, um zu verstehen, was »Palästina« bedeutet: für die Menschen auf der einen Seite der Mauer und für die auf der anderen. Und für ihre eigene Identität. In ihrem Buch erzählt sie Geschichten von Menschlichkeit und Lebensfreude, aber auch von Widerstand. Geschichten, die dabei helfen, die Realität in Israel und Palästina zu verstehen.
Hier saß ich zusammengekauert vor einer kleinen glühenden Elektroheizung und fror trotzdem. Die Kälte in Ramallah ist anders. Kriecht sie einmal in deinen Körper, lässt sie dich nicht wieder los. Ich fror im Schlaf und fror beim Aufwachen, unter der Dusche und den ganzen Tag über, bis ich frierend wieder schlafen ging. Mit einer Wärmflasche war die Nacht zu überstehen. Doch am Morgen war meine Nasenspitze eiskalt, und es kostete mich Überwindung, unter den schweren bunten Decken wieder hervorzukriechen.
Manchmal packte ich mich dick ein und verließ das Haus. Ich spazierte durch meine Straße, die Hollanda Street, am Vertretungsbüro der Niederlande vorbei. Ich ging weiter durch Al-Bireh, unsere teure Nachbarschaft mit schicken Villen, an meinem neuen Arbeitsplatz vorbei und schaute, was es für Supermärkte in der Nähe und ob es Restaurants gab. Doch alles schien grau und ungemütlich, als hinge der Himmel ganz tief. Nebel nahm mir die Sicht auf die hügelige Landschaft, Regen verwandelte die Straßen, noch immer behangen mit prächtiger Weihnachtsdekoration, in reißende Flüsse, die den Müll in Richtung der überlaufenden Gullys trugen. Dies würde mein neues Zuhause sein. Es war ganz anders als alles, was ich kannte.
Nur wenige Wochen war es her, dass meine Freundin Elisabeth mir die Stellenausschreibung einer deutschen Stiftung in Ramallah über Facebook weitergeleitet hatte, auf die ich selbst im Leben nicht gekommen wäre. Aus einem Bauchgefühl heraus bewarb ich mich und überließ die Entscheidung dem Schicksal. Und das Schicksal entschied.
So war ich spontan und für viele überraschend nach Palästina gezogen. Doch das Gefühl, dass ich hier irgendwann einmal leben müsste, hatte ich schon lange. Ich wehrte mich stets gegen die Vorschläge meiner Eltern, doch auch mal woanders Urlaub zu machen. Während mein Bruder irgendwann nach New York, Costa Rica und Mexiko reiste, verbrachte ich auch als Erwachsene fast jeden Urlaub meines Lebens in Palästina. Palästina war für mich der wärmste Ort der Welt. Aufregend. Ich beneidete meine Cousinen, die immer hier lebten, fließend Arabisch sprachen und stets in den Häusern unserer Onkel Zuflucht und in ihren Worten Trost finden konnten.
Ich wollte nicht mehr unbeholfen sein in einem Land, das ich als meine Heimat empfand. Ich suchte die Konfrontation mit der Realität, mit dem Alltag hier. Wollte all das erfahren, was jenseits der Vorstellungen lag, die ich aus der Ferne und auf Besuchen entwickelt hatte. Ich fühlte mich verbunden mit diesem Land und wusste gleichzeitig so wenig. Ich kannte die Zahlen und Fakten, konnte aber kein palästinensisches Gericht zubereiten. Ich war in der Lage, UN-Resolutionen aufzuzählen, hätte aber keine Blume in Jerusalem anhand ihres Dufts benennen können. »But to write, to draw that map, to pull us into the wilderness, you cannot merely stand at the edge«, schreibt Ta-Nehisi Coates. »You have to walk the land.«5
Ich musste das Land selbst durchwandern. Ich sagte kaum jemandem Bescheid, wollte keinen Druck, vielleicht würde ich nach einigen Wochen wiederkommen, vielleicht auch für immer bleiben. Online suchte ich nach einer Unterkunft und entschied mich für die große Wohnung in der Nähe meines Büros. Mir gefiel der Zitronenbaum im Vorgarten. Ich willigte ein, für eine Übergangszeit mit der Tochter des Hauses zusammenzuwohnen, einer jungen US-Palästinenserin, die bald wieder in die USA zurückkehren würde. Leise packte ich meine Sachen und verließ Deutschland diskret. Ich erinnere mich noch nicht einmal mehr an den Abschied am Flughafen, vermutlich spielte ich alles herunter, denn meinen Vater emotional zu sehen war für mich schon immer schwer auszuhalten. Und dies war, auch das war klar, ein emotionaler Akt. Ich flog von Hamburg nach Tel Aviv, denn der Weg nach Palästina führt immer über Israel. Eine Strecke, die ich schon mein Leben lang geflogen bin. Sonst war ich immer schon während des Hinflugs mit der Wehmut des Abschieds erfüllt, doch dieses Mal müsste ich die Tage nicht zählen. »Welcome to Israel«, stand auf Postern im Ankunftsterminal. »Your Life Will Never Be the Same.« Ich war überzeugt, dass das stimmte.
Stromausfall in Al-Bireh. Nun war es nicht nur kalt, sondern auch noch finster. Ich verkroch mich unter den Decken. Es war nicht der erste palästinensische Winter, den ich erlebte. Mit sechzehn Jahren wohnte ich während meines Auslandsjahres in Haifa für einige Wochen bei meinen Großeltern in Umm Al-Fahem.6 Sidi, so nannte ich meinen Großvater, verbot uns, mit der Klimaanlage zu heizen, weil er wusste, wie viel Strom sie verbrauchte. Stattdessen quetschten Sitti - meine Großmutter -, meine Tante Tahia und ich uns zu dritt vor einen kleinen elektrischen Heizkörper, den ich an einem Henkel mit mir herumtrug wie ein Kind seinen Teddybären. Wir wärmten uns nicht nur daran, sondern rösteten darauf auch beim Frühstück das Pitabrot, bis es leicht angekokelt rauchte und bereit war, in Olivenöl und Za'atar getunkt zu werden. Der Duft erfüllte das ganze Haus.
Es gab damals weder Smartphones noch Laptops, und das Fernsehprogramm verstand ich nicht, denn ich sprach kaum Arabisch. So ließ ich meinen Blick in langer Weile über jedes Detail im Wohnzimmer streifen: Auf dem Fernseher stand ein kupferner Stammbaum auf einem Häkeldeckchen. An den Ästen baumelten kleine Rahmen mit Fotos von Sidi und Sitti und ihren neun Söhnen. Sidi hatte sie, penibel wie er war, in der Chronologie ihrer Geburt angeordnet. Auch für die drei Töchter gab es einen Stammbaum, der sich auf einem kleineren Fernseher im Schlafzimmer befand. Entlang der linken Wand hingen noch einmal die Söhne, pyramidenartig präsentiert, jeweils an der Seite meiner Großeltern und ihrer Braut.
Die einzige Braut, die kein weißes Kleid trägt, ist meine Mutter. Die Hochzeitsfeier meiner Eltern hat in ihrer Studentenwohnung in Hamburg-Eimsbüttel stattgefunden. Auf dem in Umm Al-Fahem nachträglich geschossenen Foto steht Mama lachend in einem kurzen schwarzen Kostüm neben meinen Großeltern - die schönste Braut von allen.
Im Wohnzimmer hingen schief und viel zu hoch weitere Fotos an allen Wänden: Porträtzeichnungen meines jungen Großvaters mit elegantem Schnauzbart, meine Großeltern in Mekka, Moskau und Andalusien, unscharf und vermutlich von einem Passanten fotografiert. Sidi und Sitti blicken staatstragend in die Kamera. Auf einem Foto drehe ich mich im Kreis, damit mein geblümtes Kleid in die Luft fliegt. In Dauerschleife haben wir »Lambada« und »I Wanna Dance with Somebody« auf dem Plattenspieler meiner Onkel abgespielt und ich habe barfuß auf dem kühlen Steinboden des Innenhofs des alten Hauses getanzt.
Links von mir, dem Mädchen im geblümten Kleid, hing die Zeichnung eines anderen Mädchens. Wunderschön liegt es in einer Blutlache. Ich war von diesem Bild fasziniert, verlor mich in ihm, könnte es in jedem Detail beschreiben. Dabei wusste ich damals noch nicht, wer dieses Mädchen war.
Im Gästesalon, dort, wo man sich präsentierte, hatte Sidi die akademischen Zertifikate seiner Kinder aufgehängt. Urkunden israelischer, italienischer und deutscher Universitäten bezeugten die Tatsache, dass er es geschafft hatte. Auch seine eigenen Zeugnisse hatte er gerahmt. Sidi war in Jenin zur Grundschule gegangen.
Ich liebte es, durch das Haus meiner Großeltern zu streifen und alles zu inspizieren. Dies war der Teil der Familie, den ich, im Gegensatz zu meiner Familie in Deutschland, immer nur ausschnittartig erlebte, von dem ich aber trotzdem viel in mir trug. Das wusste ich.
Nachts ignorierte ich Sidis Anordnung, die Heizung auszuschalten, und nahm sie heimlich mit in mein Schlafzimmer. Als er mich einmal zum Morgengrauen weckte, damit ich mit ihm die letzte Mahlzeit vor dem Fastentag einnehmen könnte, erblickte er die glühende Heizung, sagte jedoch nichts. Ich war seine Lieblingsenkelin, die sich stundenlang mit ihm hinsetzte, um die Verlobungs- und Hochzeitsvideos seiner Kinder anzuschauen. Für andere eine Qual, denn die Aufnahmen dokumentierten jede Minute des Abends, damit man später genau inspizieren könnte, wer da gewesen war und wie und mit wem getanzt hatte. Manche Hochzeitsfotografen waren besonders kreativ, und so teilte sich das Bild immer wieder in kleine Mosaik-Kacheln auf, die sich dann zu einer neuen Szene zusammensetzten. Symbole wie Tauben, Ringe und Herzen wurden wild und bunt eingeblendet. Für mich als Mädchen aus Deutschland eine Wunderwelt: die bunten Kleider, das Gold, die ausgelassenen Gäste. Sidi und ich hatten eine enge Verbindung, und er verzieh mir trotz seiner Strenge auch die glühende Heizung am Bett. Ich genoss trotz der Kälte die Nähe und Wärme meiner Familie.
Jetzt, zwanzig Jahre später, war ich auf der anderen Seite der Sperranlage, im Westjordanland. Allein. Jeden Morgen ging ich zu Fuß ins Büro der Stiftung, das sich in einer alten ehemaligen Privatvilla befand. Apfel-, Aprikosen- und Zitronenbäume standen im Garten. In der Küche lernte ich meine neuen Kolleginnen kennen, war eingenommen von Mirals Charisma und berührt von Farahs...
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