Schweitzer Fachinformationen
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Obwohl es noch zehn Minuten bis zum Essen waren, standen schon zwei Personen am Kamin, und als ich auf sie zuging, kam mir Prendergast entgegen und stellte mich Brendel vor. All meine Ängste und Befürchtungen schienen augenblicklich zu verschwinden. Ich stand einem Mann gegenüber, der eher klein, aber kräftig gebaut war. Er schien etwa fünfzig Jahre alt zu sein, hatte volles, leicht ergrautes Haar und trug eine Brille, deren Gläser durch das reflektierende Licht der Lampen aufblitzten. Sein Smoking hatte einen irgendwie ungewöhnlichen Schnitt, aber ansonsten glich seine Erscheinung einem zuverlässigen englischen Familienanwalt mittleren Alters. Es war jedoch nicht seine äußere Erscheinung, die mich sofort beeindruckte, und auch nicht seine Stimme, obwohl sie sehr angenehm war; es war eher dieser unmittelbare Eindruck von Sicherheit und Verständnis, den er auf mich machte. Dies, sagte ich mir, ist ein Mann, dem man vertrauen kann; ein Mann, dem Geheimnisse anvertraut werden und der diese niemals verrät; dies ist ein Mann, der nicht leicht aus der Fassung oder in Verlegenheit zu bringen ist, der aber in schwierigen Momenten gute Ratschläge gibt; ein Mann voller Mitgefühl, der klug und tolerant ist, da er das menschliche Wesen genau untersucht hat. Und er ist ein Mann, der neben all diesen Eigenschaften auch noch humorvoll, freundlich und gelehrt ist. Ich warf erneut einen Blick auf sein Gesicht und bemerkte die vielen kleinen Fältchen in seinen Augenwinkeln. Ja, bestimmt, dies war ein Mann, den man gerne zum Freund hatte und als Ratgeber schätzte. Ich will natürlich nicht behaupten, dass mir all diese Gedanken unmittelbar durch den Kopf gingen, sicherlich sind sie mir erst nach und nach bewusst geworden, aber ich möchte behaupten, dass mir in meinem ganzen Leben noch nie zuvor ein Mensch begegnet ist, dem ich schneller Zuneigung, Respekt und Sympathie entgegengebracht hätte. Ich habe mir seitdem oft Gedanken darüber gemacht, wie ich Brendel beschreiben könnte, aber es ist mir nie zu meiner Zufriedenheit gelungen. Wenn ich seine freundliche Erscheinung und seinen guten Charakter betone, werde ich seiner intelligenten Ausstrahlung nicht gerecht, denn ein guter Charakter ist allzu oft mit Dummheit verbunden. Wenn ich dagegen das Gefühl von Beständigkeit und Vertrauen hervorhebe, welches er in mir weckte, dann laufe ich Gefahr zu vergessen, dass er über die geistige Flexibilität eines halb so alten Mannes verfügte. Er gehörte, denke ich, zu der Sorte von Menschen, die ein tiefes Interesse und eine große Anteilnahme an dem Schicksal ihrer Mitmenschen entwickelt haben, und aus diesem Grunde in ihrem Wesen nie älter werden.
Ohne all die schwierigen Pausen und künstlichen Phrasen, welche normalerweise die ersten fünf Minuten in der Gesellschaft eines Fremden für mich fast unerträglich machen, hatten wir uns sofort unmerklich in ein Gespräch vertieft, als würden wir uns schon Jahre kennen. Er sprach über das Leben an einem College in Oxford und über die Studenten dort, als wüsste er instinktiv, wo meine wahren Interessen lagen. Mittlerweile hatten andere Mitglieder das Klubzimmer betreten, man stellte sich vor, und als die Uhr halb acht schlug, gingen wir zum Dinner nach oben in den Speisesaal.
Nur ein entsetzlicher Banause bliebe von der Schönheit des Essraums von St. Thomas unbeeindruckt. Die Zeit hatte die langen Tische und Bänke geschwärzt, die Kerzen auf den Tischen ließen den Raum oben in geheimnisvollem Dunkel, sodass man die wunderschöne Decke aus dem 16. Jahrhundert nur andeutungsweise erkennen konnte; entlang den Wänden hing eine Reihe prunkvoller Porträts, auf der Tafel zeichnete sich das Silber glänzend von dem bloßen Eichentisch ab. All dies fügte sich zu einem Bild zusammen, welches auch nach langer Zeit der Gewöhnung in meinen Augen immer noch ein Wunder der Schönheit darstellte. Brendel, der dies zum ersten Mal sah und einen langen, intensiven Blick darübergleiten ließ, war sichtlich beeindruckt. »Ich denke, ich beginne, Ihre Oxford-Traditionen so langsam zu verstehen«, sagte er zu mir, wobei all die kleinen Falten um seine Augen ein neues Muster ergaben.
Prendergast, der ebenfalls neben ihm saß, machte ihm Komplimente bezüglich seiner Englischkenntnisse. Sie waren in der Tat außergewöhnlich gut. Hier und da verrieten eine ungewöhnliche Formulierung oder eine seltsame Intonation den Fremden, aber die meiste Zeit sprach er korrekt und fast mühelos. »Aber warum sollte mein Englisch auch nicht gut sein?«, fragte er. »Denn vor dem Krieg habe ich ein Jahr in London studiert und dann noch ein Semester an der juristischen Fakultät von Harvard, und während des Kriegs, nun, da war ich mehr als zwei Jahre hier in Gefangenschaft. Nicht gerade ein Vergnügen«, fügte er lachend hinzu, »aber wo man lebt, da lernt man.« Und er fing an, Prendergast etwas über die englischen Gefangenenlager zu erzählen.
In der Zwischenzeit warf ich einen Blick auf die Anwesenden, um sie mit der Namensliste zu vergleichen, die neben meinem Teller lag. Missbilligend stellte ich fest, dass wir dreizehn Personen waren. Bei unserer ständig wechselnden Anzahl geschah es nicht selten, dass sich dreizehn Kollegen zum Essen einfanden, aber da ich von Natur aus abergläubisch bin, überkommt mich immer ein irrationales Gefühl des Unbehagens, wenn ich dieses schlechte Omen bemerken muss. Von denjenigen, die an diesem Abend beim Dinner anwesend waren, habe ich mich schon über Brendel, Maurice Hargreaves und Prendergast geäußert. Zu meiner Linken saß Shirley, schweigsam wie immer, gut aussehend, kalt, fast grimmig. Ich habe ihn schon erwähnt, aber nun sollte ich vielleicht mehr über ihn sagen. Ich konnte ihn nie ansehen, ohne mich an die berühmte Beschreibung Charles X zu erinnern: »Auf seinen Schultern trug er stolz die Last seiner Unbeliebtheit.« Von uns allen besaß Shirley vielleicht den besten Ruf außerhalb der Mauern des Colleges. Er war tatsächlich ein großartiger Wissenschaftler, kühn und abenteuerlustig, wenn es um Verbesserungen und Vorschläge ging, aber er verachtete die Ansichten anderer und war erbittert und ungehalten in seiner Kritik an Kollegen. Sein schroffer Charakter und seine mangelnde Anpassungsfähigkeit hatten ihn schon so manches Mal um die Anerkennung und Förderung gebracht, die ihm zweifellos gebührten, und diese Tatsache hat ihn nur noch ernster und verbitterter werden lassen. Wenn er sich in Gesellschaft seiner Kollegen befand, war er im günstigsten Fall schweigsam und von eisiger Freundlichkeit, im schlimmsten Fall zynisch und auf grausamste Weise kritisch. Und dennoch empfand ich nicht nur Abneigung ihm gegenüber. Er war jetzt über fünfzig, und ich kannte ihn seit zwanzig Jahren. Ich hatte die Enttäuschungen bezüglich seiner Karriere miterlebt, und ich wusste, dass er es zutiefst verabscheute, unwillige Studenten zu unterrichten, während er gerne eine Professur innegehabt hätte. Ich respektierte seine intellektuelle Brillanz und hatte es irgendwie, wenn auch unter Schwierigkeiten, bewerkstelligt, einen offenen Streit mit ihm zu vermeiden. Er behandelte mich seinerseits mit einer Art widerwilliger Freundlichkeit, die er den meisten anderen Tutoren von St. Thomas nicht zukommen ließ. Seine Bücher waren ebenso wie er eine Verbindung aus Brillanz und Verbitterung. Da er verheiratet war, speiste er selten mit uns, und ich war überrascht, ihn an diesem Abend zu sehen.
Mit einem Seufzer der Erleichterung bemerkte ich, dass Shepardson, unser zweiter Tutor für die Klassische Philologie, am anderen Ende des Tischs saß, weit entfernt von Shirley. Shepardson war eifrig und bemüht und ein kompetenter Wissenschaftler, aber er war nicht immer sehr besonnen und hatte vor Kurzem ein Buch veröffentlicht, welches Anzeichen von nachlässigen Kompilationen und übereilten Schlussfolgerungen trug. Sein gesunder Teint, sein Gesicht, welches sehr groß war, obwohl kein Merkmal darin hervorstach, und seine hohe Stimme gaben Aufschluss über seinen Charakter. Er meinte es immer gut und hatte ein freundliches Wesen, obwohl er sich leicht provozieren ließ, aber er schien zuweilen einfältig und sogar dümmlich. Es war typisch für Shirley, dass ihn die Tatsache, dass Shepardson sein Kollege war, nicht einen Augenblick zögern ließ, das Angebot anzunehmen, eine Kritik über dessen Buch zu schreiben. In einem wüsten Artikel hatte er es in Stücke zerrissen, wobei fast jeder Satz einem Peitschenhieb gleichkam. Die beiden Männer hatten seit dem Erscheinen des Artikels kein Wort miteinander gesprochen, und der unglückliche Shepardson wartete vergeblich und fast mitleiderregend auf eine gottgesandte Gelegenheit, sich zu rächen. Die öffentliche Meinung war ganz auf seiner Seite. Wir waren der Ansicht, dass Shirley seine Geschmacklosigkeit und seinen mangelnden Gemeinschaftsgeist unter Beweis gestellt hatte, aber unser Mitgefühl besänftigte den armen Shepardson nur geringfügig, war er doch in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt und der Verachtung preisgegeben worden.
Ich nehme an, dass ich - wie die meisten - beim Versuch, die Charaktere meiner Bekannten zu beschreiben, zur Übertreibung neige. Ich muss mich deshalb vorsehen, die Unbeliebtheit Shirleys zu überschätzen. Außer mir hatte auch Maurice Hargreaves immer in einem akzeptablen Verhältnis zu ihm gestanden. Die beiden Männer liebten es, über Fragen der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte zu diskutieren, und sie waren sich in Themen, die die politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Colleges betrafen, fast immer einig gewesen. Wie ich später erfuhr, war Shirley in der Tat an diesem Abend zum Dinner erschienen, um eine solche Angelegenheit zu besprechen....
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