Schweitzer Fachinformationen
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»Stell das ab, bitte.«
»Das Radio?«
»Ja, mach es aus.«
»Aber jetzt kommen die Nachrichten.«
»Deswegen ja.«
Die beiden saßen auf Holzschemeln in der Küche. In der Ecke befand sich ein Bord, darauf ein Radio der Marke Invicta, das schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben schien. Lola saß genau darunter, Matías am anderen Ende des Tisches und drehte sich eine Grobschnitt-Zigarette. Die Küche war klein und eng. An der einen Seite stand ein Kohleofen, daneben ein halber Meter weißer Kacheln mit dem Warmwasserboiler und einem nicht sehr tiefen Spülbecken aus Granit. Auf der anderen Seite befand sich der Tisch, an dem Matías und Lola gerade gegessen hatten. Zwischen der einen Wand und der anderen lagen nicht viel mehr als anderthalb Meter.
»Wozu haben wir ein Radio, wenn wir es nicht anstellen?«
Matías gab keine Antwort. Er lehnte sich gegen die Fliesen und zündete die Zigarette an, die er soeben gedreht hatte.
»Meine Eltern haben fast tausend Peseten dafür bezahlt«, beharrte Lola, während sie die Teller abräumte und im Radio die Erkennungsmelodie der Nachrichten erklang, »und jetzt kann ich nicht mal die Nachrichten hören.«
Eine geschwollene Männerstimme verlas die Verlautbarungen der staatlichen Pressestelle. Sie tat es mit solcher Emphase, dass es wie eine Theaterlesung klang.
»Seine Exzellenz, General Franco, befindet sich derzeit auf Besuch in der Provinz Badajoz, wo er die großartigen Bauprojekte des Nationalen Instituts für landwirtschaftliche Siedlungen besichtigt. In Montijo weihte er einen Staudamm ein und besuchte zwei neue Dörfer, wo auf 8000 Hektar Land Parzellen mit 62 Gehöften entstehen, auf denen insgesamt 5901 Familien ein neues Zuhause finden werden.«
Matías machte eine abwertende Handbewegung.
»Das sind keine Nachrichten, Lola. Das ist reine Propaganda.«
Lola wischte die Hände an der Schürze ab und stellte das Radio aus. Eine traurige Stille senkte sich über die Küche.
Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich auf den Schemel sinken. Sie wirkte resigniert. Zwölf Jahre waren seit Ende des Bürgerkriegs vergangen, und nichts war besser geworden. Sie waren allein, umgeben von Lüge, Repression und Angst. Deshalb ließ Lola so gerne das Radio laufen, weil sie Musik hörte und nicht nur Nachrichten oder Fortsetzungsromane. Manchmal hatte sie das Glück, ein Lied von Schubert zu hören oder eine Copla von Concha Piquer, die ihre Gedanken mit tröstlichen Bildern füllten.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich mag nichts mehr von diesen verdammten >Pflichten eines jeden Spaniers< hören«, sagte Matías bitter. »Heute wirklich nicht.«
Lola kochte eine Kanne Kaffee mit dem Rest Zichorienkaffee aus der Packung. Sie packte sie mit dem Ärmel der Bluse, der am Saum mit Reihfaden geflickt war. Die Tassen waren ebenfalls schartig, und einer fehlte ein Stück vom Henkel. Plötzlich begann sie zu weinen. Sie konnte nicht anders. Den Kaffee in der einen Hand, die andere gegen die warmen Kacheln gelehnt.
»Aber Mädchen«, sagte Matías erschrocken, »nicht weinen. Ich wusste nicht, dass es so wichtig für dich ist, ob das Radio an oder aus ist.«
Er war zu ihr getreten und legte die Hände auf ihre Schultern. Lola drehte sich nicht um. Sie weinte stumm weiter, während Matías sie von hinten umarmte. Nach einer Weile straffte sie sich und putzte sich mit einem Taschentuch, das sie in der Schürzentasche hatte, die Nase.
»Komm schon, nimm's nicht so schwer.«
Sie drehte sich um und versuchte zu lächeln. Matías sah sie ernst an.
»Was ist denn mit dir los? Wieso weinst du?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es gibt Tage, an denen ich alles nur furchtbar finde.«
Matías strich ihr übers Haar. Sie ließ sich trösten, doch dann wurde ihr Blick ganz hart, und sie drehte den Kopf weg.
»Sie haben uns alles genommen, ist dir das bewusst?«, sagte sie mit der gebrochenen Stimme eines Menschen, der seinem Herzen Luft machen muss. »Den Verlag, das Haus deiner Mutter, die Möbel, die Freunde .«
Sie hatte sich in Rage geredet und begann erneut zu weinen. Es gefiel Matías nicht, sie so zu sehen.
Sie verstummte. Sie konnte nicht weiter all diese Verluste aufzählen. Sie hatte das Gefühl, dass sie für alles im Leben eine wahnsinnige Kraft aufwenden musste.
»Weißt du, was mit mir los ist?« Sie breitete die Hände aus, als wollte sie ein lange gehütetes Geheimnis lüften. »Ich vermisse das Leben, als es noch unser Leben war.«
Matías fand diesen Satz niederschmetternd, aber ganz typisch für sie. Bei allem Schmerz empfand er auch Stolz, Stolz auf diese mutige, geistreiche und begeisterungsfähige Frau, die nun kurz davor zu sein schien, aufzugeben.
»Ja.« Er ging zum Tisch, um die brennende Zigarette aus dem Ascher zu nehmen, bevor sie auf die Tischdecke fiel. »Manchmal bin ich auch verzweifelt.«
Er nahm das Päckchen mit dem Tabak und steckte es in die Hosentasche. Dann sagte er in munterem Ton, der ganz bestimmt nicht echt war, auch wenn es für einen Augenblick so schien: »Aber ich werde nicht zulassen, dass die da uns den Tag versauen.«
Lola legte den Kopf schräg. »Und wie?«, murmelte sie so leise, dass sie sich selbst kaum hörte.
»Zieh die Schürze aus. Heute gehen wir in die Bar einen Kaffee trinken. Und dann kommst du mit mir ins Geschäft.«
»Am Sonntag?«
»Ja, nur ein paar Stündchen«, antwortete Matías und drückte die Zigarette in dem Zinnaschenbecher aus. »Ich will das Schaufenster umdekorieren, bevor wir morgen öffnen.«
Lola wusch sich am Spülbecken das Gesicht. Danach fühlte sie sich besser.
»Aber den Kaffee trinken wir besser zu Hause, ich mach ihn gleich«, sagte sie, während sie sich mit dem Schürzenzipfel übers Gesicht wischte.
»Kommt nicht in Frage. Heute trinken wir einen richtigen Kaffee. Im Metropol.«
Lola zuckte mit den Schultern, ganz so, als würde sie ihm den Gefallen tun, aber Matías wusste, wie sehr sie diese kleinen Fluchten aus dem Alltag genoss, die sie in die Zeit zurückversetzten, als sie es sich noch leisten konnten, im Restaurant zu essen oder ins Ausland zu reisen.
»Wo ist das Lesepult?«
»Das Lesepult?«, fragte Lola erstaunt.
»Ja, das Lesepult meines Vaters.«
»Ich glaube, ganz oben in der Abstellkammer. Aber das willst du doch jetzt nicht suchen.«
»Es dauert nicht lang.«
»Du musst die Trittleiter holen.«
»Zieh du dir den Mantel an, ich bin gleich wieder da.«
Lola ging ins Schlafzimmer und richtete vor dem Kommodenspiegel ihr Haar. Ihre Nase war gerötet. Sie legte ein wenig Puder aus einem fast leeren Döschen auf und zog sich die Lippen nach. Als ihr Gesicht wieder hergerichtet war, verspürte sie das Bedürfnis, auch etwas anderes anzuziehen. Also holte sie ein Kostüm aus dem Schrank und zog sich um. Sie zog die Seidenstrümpfe an und schlüpfte in die Absatzschuhe. Dann betrachtete sie sich erneut im Spiegel. Sie war eine andere Frau. Plötzlich waren das ganze Unglück und Elend der letzten Jahre wie weggewischt, und sie war wieder die junge, weltgewandte Übersetzerin, die für Matías' Verlag arbeitete, den Männern den Kopf verdrehte und sie trotzdem auf Abstand hielt. Alle außer Matías, der sie in seinen Bann zog und all ihre Widerstände niederriss, bis sie in einem Spinnennetz gefangen war, dem sie nie mehr entkommen war.
Er war damals verheiratet und ließ sich scheiden. Später teilte man ihnen mit, dass diese Scheidung keine Gültigkeit habe, aber das war ihnen beiden egal. Sie liebte ihn. Von ganzem Herzen und aus ihrem tiefsten Inneren. Vielleicht, weil auch seine Liebe so ausschließlich war, dass sie keinen Raum für Mittelmaß ließ. Sie liebte ihn, weil er anständig war, ohne heldenhaft zu sein, aber an seiner Seite schien alles möglich. Und weil sie ihn bewunderte. Sein Verhalten während und nach dem Krieg zeigte ihr, dass er der Richtige war. Beinahe wäre er erschossen worden. Lola glaubte, sie würde ihn nie wiedersehen, doch dann erreichte Lolas Vater, ein renommierter Arzt, unter dessen Patienten auch einige Befehlshaber des neuen Regimes waren, dass das Urteil in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wurde. Man brachte ihn in ein Gefangenenlager in Galicien, wo er drei Jahre blieb, bis die Verfolgungen nachließen und er wieder nach Hause konnte. Bei seiner Rückkehr war von seinem alten Leben nichts mehr übrig. Seine Mutter war gestorben, Lola zu ihrer Familie geflüchtet, und den kleinen Verlag, der die besten französischen und englischen Autoren des 20. Jahrhunderts veröffentlichte, gab es nicht mehr. In dem Gebäude in der Calle Argensola befand sich jetzt eine Schneiderei für Kleriker über zwei Stockwerke. Lola hatte noch ein paar hundert Exemplare aus dem Lager sowie ein halbes Dutzend unübersetzter Manuskripte in Sicherheit bringen können, bevor ein paar Kerle, die sich nicht auswiesen, in den Verlagsräumen auftauchten, um alles auszuräumen. Einen Teil der Bücher brachte sie bei ihren Eltern unter, den Rest auf dem Dachboden von Freunden.
Seitdem waren einige Jahre vergangen. Zu viele, um noch Hoffnungen zu haben, und zu wenige, um sich an dieses Leben zu gewöhnen.
»Da haben wir uns aber schick gemacht .«
Matías war zu ihr ins Schlafzimmer gekommen. Er sah sie mit diesem typischen Funkeln in den Augen an.
»Du siehst umwerfend aus, Mädchen. Und wenn wir unsere Pläne einfach ändern?«
Er hatte schon den Mantel an und das Lesepult unterm Arm. Lola fasste ihn am Ärmel und zog ihn aus dem Haus. Das Café Metropol würde ihr einziger Luxus für viele Monate...
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