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Wolverine River, Alaska, 1920
Mabel hatte gewusst, es würde still sein. Darum war es ihr schließlich gegangen. Keine glucksenden oder plärrenden Säuglinge. Keine lärmenden Nachbarskinder draußen auf dem Weg. Kein Füßchengetrappel auf den von Generationen ausgetretenen Holzstufen, kein Spielzeugklackern auf dem Küchenfußboden. Alle diese Geräusche, die an Mabels Versagen und Bedauern erinnerten, sollten zurückbleiben, und an ihre Stelle sollte Stille treten.
Sie hatte sich die Stille in der Wildnis Alaskas friedlich vorgestellt wie nächtliches Schneegeriesel, die Luft lautlos, aber voller Verheißung, doch so war sie nicht. Vielmehr raspelten beim Fegen die Besenborsten auf dem Dielenboden, als würde eine scharfzahnige Spitzmaus an Mabels Herzen knabbern. Wenn sie das Geschirr spülte, klapperten Teller und Schüsseln, als wollten sie zerbrechen. Das einzige nicht von ihr selbst verursachte Geräusch war ein jähes «Krok-kroook», das von draußen kam. Mabel wrang den Spüllappen aus und blickte gerade rechtzeitig aus dem Küchenfenster, um einen Raben von einer kahlen Birke zur anderen flattern zu sehen. Keine Kinder, die einander durch das Herbstlaub jagten und beim Namen riefen. Nicht einmal ein einzelnes Kind auf einer Schaukel.
Eines hatte es einmal gegeben. Ein winziges Ding, tot geboren und stumm. Das war zehn Jahre her, aber noch in diesem Moment ertappte sie sich dabei, wie sie die Geburt heraufbeschwor, die Hand nach Jack ausstreckte, um ihn aufzuhalten, zu berühren. Sie hätte es tun sollen. Sie hätte den Kopf des Babys in ihre Hand betten und ihm ein paar Härchen abschneiden sollen, um sie in einem Medaillon um den Hals zu tragen. Sie hätte in das kleine Gesicht blicken und wissen sollen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, und sie hätte es mit Jack zusammen in der Wintererde Pennsylvanias begraben sollen. Sie hätte das Grab kennzeichnen, hätte sich diese Trauer gestatten sollen.
Es war immerhin ein Kind gewesen, wenn es auch mehr einem Wechselbalg aus dem Märchen glich. Verschrumpeltes Gesichtchen, winziger Kiefer, spitz zulaufende Ohren; so viel hatte sie gesehen und beweint, denn sie wusste, sie hätte es trotz allem lieben können.
Mabel stand schon zu lange am Fenster. Der Rabe war längst über die Baumwipfel davongeflogen. Die Sonne war hinter einen Berg gesunken, das Licht fahl geworden. Die Äste waren kahl, das Gras gelblich grau. Keine einzige Schneeflocke. Ihr war, als sei alles Schöne, Glitzernde zu Staub zermahlen und aus der Welt gefegt worden.
Der November war angebrochen, und das machte ihr Angst, weil sie wusste, was er mit sich brachte - Kälte, die über dem Tal lag wie ein nahender Tod, Gletscherwind zwischen den Ritzen des Blockhauses. Eine so allumfassende Dunkelheit, dass auch die Tage düster blieben.
Mabel war in den vergangenen Winter blindlings hineingestolpert, ohne zu wissen, was von diesem neuen, rauen Land zu erwarten war. Jetzt wusste sie es: Von Dezember an würde die Sonne kurz vor Mittag aufgehen, wenige Stunden lang im Zwielicht an den Berggipfeln entlangziehen und wieder sinken. Mabel würde in einem Sessel neben dem Holzofen immerzu einnicken und wieder aus dem Schlaf hochschrecken. Sie würde zu keinem ihrer Lieblingsbücher greifen; die Seiten wären ohne Leben. Sie würde nicht zeichnen; was gäbe es schon in ihrem Skizzenbuch einzufangen? Einen trüben Himmel, schattige Winkel. Es würde ihr von Morgen zu Morgen schwerer fallen, das warme Bett zu verlassen. Schlafwandlerisch würde sie umherstolpern, Mahlzeiten zusammenkratzen und rings um das Blockhaus nasse Wäsche aufhängen. Jack würde sich abmühen, um die Tiere am Leben zu erhalten. Die Tage würden ineinanderfließen, der Würgegriff des Winters würde enger werden.
Ihr Leben lang hatte sie an etwas Größeres geglaubt, an das Mysteriöse, das am Rand des Wahrnehmbaren immer wieder seine Form veränderte. Es war im Flattern von Nachtfalterflügeln auf Glas und in den gesprenkelten Bachbetten die Ahnung von Flussnymphen. Im Geruch der Eichen an dem Sommerabend, als sie sich verliebt hatte, und in der Morgendämmerung, die auf den Kuhteich fiel und das Wasser zu Licht werden ließ.
Mabel konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ein solches Flimmern wahrgenommen hatte.
Sie nahm sich Jacks Arbeitshemden vor und begann zu flicken. Sie bemühte sich, nicht aus dem Fenster zu sehen. Wenn es nur schneien würde. Vielleicht würde das Weiße die harten Konturen weicher machen. Vielleicht könnte es ein wenig Licht einfangen und in ihre Augen hineinspiegeln.
Doch den ganzen Nachmittag über hingen die dünnen Wolken hoch am Himmel, der Wind riss abgestorbene Blätter von den Ästen, und das Tageslicht flackerte wie eine Kerze. Mabel dachte an die entsetzliche Kälte, die sie allein ins Haus einsperren würde, und ihr Atem wurde flach und schnell. Sie stand auf, ging hin und her. Leise wiederholte sie: «Ich kann das nicht. Ich kann das nicht.»
Es gab Waffen im Haus, und die hatte sie auch schon in Erwägung gezogen. Das Jagdgewehr neben dem Bücherbord, die Schrotflinte über der Tür und einen Revolver, den Jack in der oberen Kommodenschublade aufbewahrte. Sie hatte nie damit geschossen, aber das war es nicht, was sie zurückhielt. Es war das Gewaltsame und unangebracht Blutige einer solchen Tat und die Anwürfe, die sie unweigerlich nach sich ziehen würde. Die Leute würden sagen, sie sei geistesschwach oder von Sinnen gewesen, oder Jack sei ein schlechter Ehemann. Und was würde aus Jack? Wie viel Scham und Wut würde er empfinden?
Der Fluss dagegen - das war etwas anderes. Keiner Menschenseele wäre ein Vorwurf zu machen, nicht einmal ihrer eigenen. Es wäre ein unglücklicher falscher Schritt. Die Leute würden sagen, hätte sie doch nur gewusst, dass das Eis sie nicht trägt. Hätte sie doch nur um seine Gefahren gewusst.
Der Nachmittag ging in die Abenddämmerung über, und Mabel trat vom Fenster, um eine Öllampe auf dem Tisch anzuzünden, ganz so, als werde sie das Abendessen bereiten und auf Jacks Rückkehr warten, als werde dieser Tag enden wie alle anderen, doch im Geiste folgte sie schon dem Pfad durch den Wald zum Wolverine River. Als die Lampe brannte, schnürte sie sich die Lederstiefel zu, zog den Wintermantel über das Hauskleid und trat nach draußen. Ihre bloßen Hände und ihr Kopf blieben dem Wind ausgesetzt.
Auf ihrem Weg durch den kahlen Wald war sie zugleich euphorisch und gefühllos, beherrscht von der Klarheit ihres Vorhabens. Sie dachte nicht an das, was sie zurückließ, sondern nahm in großer Schärfe, wie in Schwarzweiß, nur diesen einen Moment wahr. Den schweren Tritt ihrer Stiefel auf der gefrorenen Erde. Den eisigen Wind in ihren Haaren. Ihre tiefe Atmung. Sie war seltsam stark und zuversichtlich.
Sie trat aus dem Wald und blieb am Ufer des zugefrorenen Flusses stehen. Es war ruhig bis auf einen gelegentlichen Windstoß, der ihr den Rock an die Wollstrümpfe wehte und Treibsand übers Eis wirbelte. Flussaufwärts verbreiterte sich das vom Gletscher gespeiste Tal mit Kiesbänken, Treibholz und verschlungenen flachen Wasserläufen auf achthundert Meter, hier aber war der Fluss schmal und tief. Mabel konnte die Schieferklippe auf der anderen Seite sehen, die in schwarzes Eis abfiel. Das Wasser darunter würde ihr weit über den Kopf reichen.
Die Klippe setzte sie sich als Ziel, obwohl sie vermutlich ertrinken würde, bevor sie sie erreichte. Das Eis war keine fünf Zentimeter dick, doch selbst im tiefsten Winter würde niemand wagen, es an dieser tückischen Stelle zu überqueren.
Zuerst verfingen sich ihre Stiefel an Gesteinsbrocken, die im sandigen Boden festgefroren waren, dann aber stolperte sie das Steilufer hinunter und überquerte ein schmales Rinnsal, auf dem das Eis dünn und brüchig war. Sie brach mit jedem zweiten Schritt ein und trat auf trockenen Sand. Danach überquerte sie eine Kiesbank und raffte den Rock, um über ein Stück Treibholz zu steigen, das die Elemente gebleicht hatten.
Als sie zum Hauptarm des Flusses gelangte, durch den noch Wasser ins Tal strömte, war das Eis nicht mehr brüchig und weiß, sondern schwarz und elastisch, als habe es sich erst am Vorabend gebildet. Sie schob ihre Stiefelsohlen auf die Fläche und hätte fast über ihr absurdes Verhalten gelacht: sich vorzusehen, um ja nicht auszurutschen, wo sie doch darum betete, einzubrechen.
Wenige Schritte von festem Grund entfernt blieb sie stehen und schaute zwischen ihren Stiefeln nach unten. Es war, als ginge sie auf Glas. Sie konnte die Granitbrocken unter dem fließenden, tief türkisgrünen Wasser sehen. Ein vergilbtes Blatt glitt vorüber, und sie stellte sich vor, wie sie daneben trieb und durch das vollkommen durchsichtige Eis kurz nach oben blickte. Würde sie den Himmel sehen können, bevor sich ihre Lungen mit Wasser füllten?
Hier und da waren handtellergroße Blasen zu weißen Kreisen gefroren, andernorts durchzogen lange Risse das Eis. Sie fragte sich, ob es an diesen Stellen brüchiger war und ob sie sie betreten oder meiden sollte. Sie straffte die Schultern, blickte geradeaus und ging weiter, ohne nach unten zu schauen.
Als sie die Mitte des Flusslaufes überquerte, schien sie auf Armeslänge an die Klippenwand heranzureichen, das Wasser toste gedämpft, und das Eis unter ihr gab ein wenig nach. Wider Willen blickte sie nach unten, und was sie sah, erschreckte sie. Keine Blasen. Keine Risse. Nur bodenlose Schwärze, als habe sie den Nachthimmel unter den Stiefeln. Sie verlagerte ihr Gewicht, um noch einen Schritt auf die Klippe zuzugehen, da ertönte ein Knall, ein lautes, hallendes Ploppen wie beim Entkorken einer Sektflasche. Mabel spreizte...
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