Schweitzer Fachinformationen
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Bruno Cavalli stand in seinem neuen Büro und starrte an die Wand. Er versuchte zu begreifen, wie er hier hatte landen können. Vor acht Monaten war er noch Chef des Dienstes Leib/Leben gewesen. Er hatte ein Team von Ermittlern geführt, wichtige Fälle selbst geleitet und am Schweizerischen Polizei-Institut unterrichtet. Er gehörte mehreren Fachgremien an und fungierte als Ansprechperson für die Staatsanwaltschaft IV, die sich auf Gewaltdelikte spezialisiert hatte. I, korrigierte er sich in Gedanken. Die Behörde war umstrukturiert worden, die Staatsanwaltschaft IV hieß jetzt I. Noch eine Änderung, die er kaum mitbekommen hatte. War er tatsächlich nur sieben Monate weg gewesen? Seine Tochter scheute vor ihm zurück, seine Stelle war neu besetzt worden, und die neumodischen Elektro-Scooters hatten Zürich erobert.
Irgendwo klingelte ein Telefon, ungewohnt leise. Der Teppichboden dämpfte die Geräusche, die Mauern erschienen Cavalli dicker als im Kripogebäude. Vielleicht bildete er es sich nur ein, weil er wusste, wie viele Geheimnisse sie bargen. Verschwiegenheit gehörte zur Arbeit eines Polizisten, hier an der Lessingstraße aber hatte sie eine tiefere Bedeutung. In diesem Gebäude war der Dienst Besondere Ermittlungen/Amtsdelikte untergebracht.
Er hätte die Stelle nicht annehmen müssen, doch die Alternativen hatten ihn noch weniger gereizt. Wenigstens würde er seine Fähigkeiten als Ermittler einsetzen können, nun allerdings gegen die eigenen Kollegen. Cavalli rieb sich den Nacken. Ausgerechnet er, der es nie genau genommen hatte mit Vorschriften.
Es klopfte.
»Ja?« Cavalli bemühte sich gar nicht erst um einen freundlichen Tonfall.
Die stellvertretende Dienstchefin Diana Da Silva kam herein. Sie hatte ihn am Vormittag in die Arbeit einführen wollen, war dann aber kurzfristig verhindert gewesen. Nun griff sie nach der Akte auf seinem Schreibtisch. Die Finger, die auf dem Deckblatt ruhten, waren lang und schmal, die Nägel gepflegt.
»Es geht um eine Amtsgeheimnisverletzung«, sagte sie und zog einen Stuhl heran. »Der Ermittlungsauftrag kommt vom Staatsanwalt. Das Obergericht hat der Eröffnung schon stattgegeben.«
Cavalli schwieg.
Da Silva fuhr fort: »Der Beschuldigte arbeitet bei der Stadtpolizei. Eine Polizistin hat beobachtet, wie er mit einem Mann sprach, gegen den wegen Hundeschmuggels ermittelt wird. Kurz darauf .« Sie verstummte und beugte sich vor.
Die Art, wie sie sich bewegte, erinnerte Cavalli an Schilf, das sich im Wind wog. Er fragte sich, warum sie ihm noch nie aufgefallen war. Vermutlich, weil die internen Ermittler unter sich blieben. Sie waren nirgends willkommen, zu stark war das Unbehagen, das sie auslösten.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Ihre Augen blitzten verärgert. »Ich weiß, dass du nicht freiwillig hier bist. Aber wir haben einen Job zu erledigen. Wenn du nicht bereit bist, ihn seriös auszuführen, bist du am falschen Ort.«
Cavalli verschränkte die Arme. »Kurz darauf fanden parallel Hausdurchsuchungen in Zürich und im Thurgau statt, der Einsatzleiter vermutet, dass die Verdächtigen gewarnt wurden. Es hätten elf Hunde im Haus sein sollen, doch man hatte sie offensichtlich rechtzeitig weggebracht. Daraufhin hat der Kommandant der Stadtpolizei den Fall untersuchen lassen und Anzeige erstattet. Im Grundrapport wird ein Polizist der Regionalwache Aussersihl beschuldigt, Informationen weitergegeben zu haben. Möglicherweise liegt eine Amtsgeheimnisverletzung vor, vielleicht aber auch Amtsmissbrauch oder Begünstigung. Steht alles in den Unterlagen.«
Da Silva räusperte sich. »Ich würde zuerst -?«
»Die Auskunftsperson einvernehmen«, unterbrach Cavalli. »Dann den Beschuldigten mit der Aussage konfrontieren. Ich habe beide schon vorgeladen.«
Da Silva stand auf. »Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich findest.«
Eine Mischung aus Sanddorn und Schuhpolitur wehte an Cavalli vorbei. Er blickte nach unten. Glänzende Lederschuhe mit Absätzen. Ob ihre Zehen auch so schlank waren wie ihre Finger?
Sie verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Cavalli sah auf die Uhr. Noch zweieinhalb Stunden bis Feierabend. Punkt halb fünf fuhr er seinen Computer herunter, zog seine Joggingsachen an und ging. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal auf die Minute genau achteinhalb Stunden gearbeitet hatte. Zwischen Arbeit und Privatleben hatte es nie eine Grenze gegeben.
Die Spezialabteilung der Sicherheitspolizei, der die Besonderen Ermittlungen/Amtsdelikte angehörten, war in einem Achtzigerjahrebau aus Betonfertigelementen mit vorgehängter Fassade untergebracht. Cavalli stand vor der Drehtür und starrte auf die Sihl, die unter der Autobahnbrücke dahinfloss. Die Betonpfeiler im Flussbett bedrückten ihn. Um nach Hause zu gelangen, hätte er eigentlich den Hügelzug überqueren müssen, der den Fluss vom See trennte, aber er lief ganz automatisch der Sihl entlang. Am Autobahnende stauten sich die Fahrzeuge, es roch nach Abgas und Abwasser. Die Sportanlage Sihlhölzli tauchte vor ihm auf, eine einsame, grüne Insel inmitten des Verkehrs. Dann war er am Kasernenareal angelangt. Seine Vergangenheit zog an ihm vorbei. Unter den Platanen parkten die Fahrzeuge der Kollegen, hinter einem Zaun, der mit Stacheldraht gesichert war, befand sich das provisorische Polizeigefängnis. Bald würde die Kantonspolizei in das neue Polizei- und Justizzentrum auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs umziehen. Cavalli war immer davon ausgegangen, dass auch er irgendwann dort arbeiten würde. Nun fragte er sich, ob die internen Ermittler überhaupt mit umziehen würden. Hinter der räumlichen Distanz zu den Kollegen steckte Absicht, man wollte verhindern, dass sich herumsprach, wer vorgeladen wurde.
Er kam zum Kripogebäude. Zwei Wochen waren seit seiner Rückkehr vergangen, in dieser Zeit hatte er seine alten Kollegen weder angerufen noch besucht. Es hatte sich einfach nicht ergeben, er war vollends damit beschäftigt gewesen, sein Leben wieder aufzunehmen. Nicht alle würden sich freuen, ihn zu sehen. Er beschloss, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, und lief weiter.
Eine Stunde später schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf. Die Tagesmutter begrüßte ihn zurückhaltend. Cavalli gefiel es nicht, dass Paz Rubin auf Lily aufpasste. Sie hatte ihre eigene Tochter auf tragische Weise verloren, Cavalli hielt sie für instabil und unberechenbar. Doch Regina hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass die Entscheidung bei ihr lag. Schließlich hatte er sie auch vor vollendete Tatsachen gestellt, als er beschlossen hatte, im Auftrag des FBI in die USA zu reisen, um einen Serienmörder aufzuspüren. Von einem Tag auf den anderen hatte sie sich allein um Lily kümmern müssen. Als Staatsanwältin rückte sie zu allen Tages- und Nachtzeiten aus. Eine Tagesmutter war die einzige Lösung gewesen. Paz war mit Tobias Fahrni verheiratet, einem Sachbearbeiter beim Leib/Leben, dem Regina vertraute.
»Lily ist auf der Terrasse«, sagte Paz in gebrochenem Deutsch.
Cavalli durchquerte das Wohnzimmer. Die Tür zur Terrasse stand weit offen, Lily saß auf einer Matte und zeichnete. Cavalli ging neben ihr in die Hocke.
»Was zeichnest du?«, fragte er in seiner Muttersprache Tsalagi.
Lily wich zurück.
Cavalli zeigte auf ein Strichmännchen mit langen, schwarzen Haaren. »Bin ich das?«
Lily schwieg.
»Das ist Chris«, erklärte Paz, die hinter ihn getreten war.
»Kiss?«, fragte Lily hoffnungsvoll und sah sich um.
Sein erwachsener Sohn war für Lily zur Vaterfigur geworden. Cavalli stand auf, kehrte in die Wohnung zurück und stellte sich im Bad unter die Dusche. Er fühlte sich seltsam leer. Als er noch beim Leib/Leben gearbeitet hatte, waren seine Gedanken unentwegt um die Gewaltdelikte gekreist, die er untersuchte. Ob ihn seine neuen Fälle irgendwann genauso beschäftigen würden? Er konnte es sich nicht vorstellen. Er drehte das kalte Wasser auf und blieb eine Weile reglos unter dem Strahl stehen. Danach rieb er sich mit einem Frotteetuch trocken, das nach Zitrusfrüchten roch. Regina hatte das Waschmittel gewechselt.
Paz hatte ihre Sachen bereits zusammengepackt und wartete neben der Tür auf Fahrni, der sie nach der Arbeit immer abholte. Lily war in ihrem Zimmer verschwunden. Cavalli hörte, wie sie leise vor sich hinsang. Er streifte in der Wohnung umher, schließlich rief er Chris an, erreichte jedoch nur den Anrufbeantworter. Er ging in die Küche. Regina würde sich über eine warme Mahlzeit freuen, wenn sie nach Hause kam. Er öffnete den Kühlschrank und entdeckte ein Reisgericht sowie eine Schüssel Salat. Paz hatte das Essen schon vorbereitet.
Ein Wagen fuhr vor.
»Häuptling!«, rief Fahrni, als Cavalli ihm die Tür öffnete.
Sein Gesicht war etwas runder geworden, stellte Cavalli fest, der Bauchansatz unter dem Hemd deutlicher.
»Du hast uns gefehlt.« Fahrni strahlte.
Cavalli machte sich nichts vor. Sein Team hatte ihn respektiert, mehr nicht. Nur Fahrni, der mit fast allen Kollegen klarkam, hatte in ihm mehr als einen Vorgesetzten gesehen.
»Du bist jetzt . an der Lessingstraße?« Fahrni sprach das Wort behutsam aus.
»Ja.«
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