Schweitzer Fachinformationen
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Das Telefon schrillte. Moritz Kienast zuckte zusammen. Ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen, griff er zum Hörer.
»Kienast«, brummte er.
Am anderen Ende war es still.
»Hallo?« Moritz sah auf. »Wer ist da?«
Atemzüge waren zu hören.
Verärgert schnalzte Moritz mit der Zunge. Nelly, die Katze der Familie, wölbte den Rücken und streckte den Schwanz in die Höhe. Maunzend stakste sie durch die Mansarde. Moritz wollte die Verbindung schon unterbrechen, da meldete sich eine heisere Stimme.
»Bist du bereit?«
Moritz legte auf. Jetzt wurde er bereits telefonisch belästigt. Früher hatten seine Kritiker ihren Unmut in Leserbriefen kundgetan, heute genügte ihnen das nicht mehr. Sie wollten erleben, wie ihn ihre Pfeile trafen; die Spitze in der Wunde drehen, sich über seinen Schmerz freuen.
Nelly setzte zu einem Sprung an und landete auf seinem Schoß. Vor dem Mansardenfenster bog sich eine Hainbuche in der aufkommenden Brise. Obwohl es fast dunkel war, spürte Moritz die Wolkendecke, die sich laut Wetterbericht von Westen Richtung Mittelland schob. Am Wochenende wollte er eigentlich im Garten die Granitplatten verlegen, erneut machte ihm der Regen einen Strich durch die Rechnung.
Moritz rieb sich die Augen. Wieder dieses Jucken, dazu das pelzige Gefühl auf der Zunge. Der Arzt hatte vorgeschlagen, einige Tests durchzuführen, um eine Pollenallergie auszuschließen. Moritz betrachtete die hängenden Blüten der Hainbuche. Sie erinnerten ihn an den Schwanz der Katze, den er gerade durch seine Finger gleiten ließ, was Nelly zum schnurren brachte. Hinter dem Baum zog sich der Wald den Hang empor; es sah aus wie eine Decke, unter der eine schlafende Gestalt lag. Seit einundzwanzig Jahren wohnte Moritz am Fuß des Uetlibergs, Dorothee und er hatten das Haus gekauft, kurz bevor Anna zur Welt kam. Nie hatte er allergisch reagiert, weder auf die Hainbuche noch auf die Birke oder die Haselnuss im Nachbargarten. Zwar hatte er als Kind unter Heuschnupfen gelitten, doch mit der Pubertät waren die Symptome verschwunden. Der Arzt hatte jedoch gemeint, es komme häufig vor, dass sich eine Allergie erst im Alter entwickle. Im Alter! Moritz war erst vierundfünfzig. Zugegeben, in letzter Zeit spürte er die Jahre. Er fühlte sich müde, oft litt er unter Atemnot. Der Stress, hatte Dorothee gesagt und ihm Ratschläge erteilt. Er solle auf seine Ernährung achten, morgens grünen Tee statt Kaffee trinken, regelmäßig Vitamin B einnehmen. Und natürlich weniger arbeiten.
Als sie sich kennengelernt hatten, war sie genauso engagiert gewesen wie er. Gemeinsam hatten sie Unterschriften gesammelt für den Stopp des Atomenergieprogramms, den Schutz der Moore oder die Entfernung von Hundekot auf öffentlichem Grund. Später hatte sie ihn unterstützt, als er zuerst für den Gemeinderat und dann für den Kantonsrat kandidierte und sich in die Kommission für Planung und Bau wählen ließ. Sie befürwortete seinen Einsatz für öffentliche Seewege sowie für den Fachverband »Gebäude Netzwerk Initiative« und las interessiert seine Beiträge für diverse Fachmagazine.
Irgendwann hatte ihr Interesse an Energiepolitik, Raumplanung und Umweltschutz nachgelassen. Moritz konnte nicht genau sagen, wann. Im Nachhinein kam es ihm so vor, als habe die neue Leidenschaft für ihr eigenes Wohlbefinden die Veränderung ausgelöst. Es war, als kehre sie dem Allgemeinwohl den Rücken, um sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Nach über fünfzehn Jahren trat sie aus der Schulpflege aus und in die Frauenriege ein. Sie füllte ihren Schrank mit neuen Kleidern und färbte sich die grau werdenden Haare. Vergeblich hatte Moritz sie darauf hingewiesen, dass Haarfarben krebsauslösendes Toluylendiam enthielten. Dorothee war es egal. Und Anna fand den neuen Braunton toll.
Moritz betrachtete das Foto seiner Tochter, das an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing. Er erinnerte sich gut an den Tag, an dem er es gemacht hatte. Am Vormittag war Anna die Zahnspange entfernt worden, die sie vier Jahre getragen hatte. Obwohl sich viele Kinder die Zähne korrigieren lassen mussten, fühlte sich Anna gehemmt. Selten lachte sie, ohne die Hand vor den Mund zu halten; als sie die Spange los war, grinste sie ohne Scham und führte einen Freudentanz auf. Moritz war es geglückt, den Augenblick mit der Kamera festzuhalten.
Er strich mit dem Zeigefinger über das Bild. Es war noch nicht lange her, da hatte sich Anna gegen ihre Mutter aufgelehnt. Egal, was Dorothee tat, es war falsch. Unverfängliche Worte führten zu heftigem Streit, beiläufige Äußerungen zu langen Diskussionen. Moritz dachte daran, wie er sich bemüht hatte, zwischen Mutter und Tochter zu vermitteln. Er hatte Anna sogar bei der Suche nach einem WG-Zimmer unterstützt, weil er keinen anderen Ausweg aus der verfahrenen Situation sah. Ein Jahr lang hatte sie sich kaum gemeldet. Die Wogen glätteten sich erst, als sie ihr Psychologiestudium aufnahm.
Als er Anna neulich darauf ansprach, sah sie ihn verwundert an. »Das ist nicht wahr! Klar hatten wir manchmal Knatsch, aber das gehört zur Pubertät. In dem Alter sind Mädchen Monster.«
Obwohl sie erst im vierten Semester studierte, trat sie auf wie eine Fachperson.
»Ich finde es super, wie sich Mama weiterentwickelt!«
»Eine neue Haarfarbe würde ich nicht gerade als Entwicklung bezeichnen«, wandte Moritz ein.
Anna verdrehte die Augen. »Dir täte eine Veränderung auch gut. Du steckst in einer Midlife-Crisis. Schau dich mal an! Dieses Hemd hast du schon getragen, als ich klein war!«
»Ich muss mich nicht täglich neu erfinden. Das ist eine moderne Erscheinung, die übrigens ihren Preis hat. Hast du dir je Gedanken über die ökologischen Folgen gemacht?«
»Du hast Angst, gib es zu«, erwiderte Anna ruhig. »Das ist normal. Veränderungen lösen bei vielen Menschen Verunsicherung aus. Das hat mit unserem evolutionär verwurzelten Bedürfnis nach Bindung zu tun. Wir mögen Neues nicht. Sich an etwas klammern liegt in unserer Natur. Das Gehirn belohnt uns sogar, wenn wir an unserer Routine festhalten. Es schüttet Opiate aus. Deshalb hängen wir so an unseren Gewohnheiten.«
Auf einmal war die Müdigkeit wieder da gewesen. Moritz hatte geschwiegen, obwohl es nicht seine Art war, sich schnell geschlagen zu geben. Seine Mutter hatte stets behauptet, er habe das Wort »aber« gelernt, bevor er »Mama« oder »Papa« aussprechen konnte. Zwar neigte sie zu Übertreibungen, doch in ihren Worten steckte ein Körnchen Wahrheit. Noch heute regte sich in Moritz Widerstand, wenn sein Gegenüber eine andere Meinung vertrat.
Die Katze streckte sich. Der Monitor schaltete in den Ruhezustand. Im dunklen Bildschirm sah Moritz sein Spiegelbild. Sein Haaransatz war innerhalb weniger Wochen deutlich zurückgewichen. Erneut juckte es, diesmal über den Augenbrauen. Als Moritz die Hand hob, um sich vorsichtig zu kratzen, fiel ihm eine Unebenheit auf seiner Stirn auf. Er berührte sie. Seine Fingerkuppen fuhren über zahlreiche scharfe Erhebungen. Litt er an einer Hautkrankheit?
Vielleicht hatte Anna doch recht. Vielleicht signalisierte ihm sein Körper, dass es Zeit für eine Veränderung war. Dreißig Jahre hatte er sich ganz und gar der Familie, dem Beruf und der Politik verschrieben. Sein Arbeitstag war nie zu Ende, wenn er abends das Ingenieurbüro verließ, das er mit seinem ehemaligen Studienkollegen Max aufgebaut hatte. Fanden keine Sitzungen oder Versammlungen statt, studierte er politische Dossiers, verfasste Leserbriefe oder erledigte Büroarbeiten, für die er tagsüber keine Zeit fand. Seit Max' Tod hatte er mehr zu tun denn je. Sein Freund war erst dreiundfünfzig gewesen, als er an Schilddrüsenkrebs erkrankte. Er hatte die Heiserkeit einer verschleppten Erkältung zugeschrieben. Als er die Schwellungen am Hals bemerkte, wollte er einen Arzt aufsuchen, aber es hatte immer ein Sanierungskonzept gegeben, das er zuerst fertigstellen wollte, oder Schadstoffanalysen und Raumluftmessungen, die er noch durchführen musste. Und dann war es zu spät gewesen. Max und Moritz. Die Assoziation hatte den Kunden oft ein Schmunzeln entlockt.
Moritz richtete sich auf. Sich in Selbstmitleid zu suhlen würde seine Stimmung nicht heben. Er bewegte die Maus, und der Bildschirm schaltete sich wieder ein. Moritz las weiter. Von einer Neiddebatte war die Rede, davon, dass die Linken aus Missgunst und Bitterkeit handelten. Sie wurden als Kommunisten beschimpft, als Bekämpfer des Privateigentums, sogar das Wort Klassenkampf fiel. Dabei versuchen wir nur, den Volkswillen durchzusetzen, dachte Moritz. Ohne Enteignungen ist ein durchgehender Uferweg am Zürichsee nicht möglich. Sehen die Kritiker denn nicht, dass wir das Wohl aller im Auge haben? Wir stellen die Interessen der Allgemeinheit vor jene des Einzelnen. Außerdem handelt es sich beim umstrittenen Land ohnehin nicht um privaten Grund, denn genau wie Wald und Weide gehört der See der Öffentlichkeit, von Enteignung kann also kaum die Rede sein. Ginge es um den Ausbau einer Autobahn, fände die Diskussion gar nicht erst statt.
Der Juckreiz verstärkte sich. Moritz schob seine Hand unter den Bauch der Katze, um sie hochzuheben. Als sie ihre Krallen in den Stoff seiner Hose bohrte, zog er die Hand zurück. Er bewunderte Nellys Beharrlichkeit. Sie hätte eine gute Politikerin abgegeben. Ohne Aufsehen zu erregen, setzte sie ihren Willen durch und ließ...
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