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Das Mädchen stieg in die S-Bahn ein. Es zögerte, als es den Biergeruch wahrnahm. Auf der Treppe, die zum Oberdeck des Wagens führte, lag eine grüne Dose. Ein klebrig aussehender Fleck bedeckte zwei Stufen. Kurz überlegte das Mädchen, sich einen Platz im Unterdeck zu suchen, doch ein Blick genügte, um zu erkennen, dass alle Abteile besetzt waren. Vorsichtig setzte das Mädchen einen Fuß auf die Stufe. Die Sohlen seiner Ballerinas gaben schmatzende Geräusche von sich, als es die Treppe hochstieg. Oben angekommen, rieb das Mädchen die Sohlen auf dem Boden, um sie zu reinigen.
Die Ballerinas waren neu. Lange hatte sich die Mutter geweigert, ihm welche zu kaufen. Stattdessen musste das Mädchen Schuhe mit Fußbett tragen. Es hatte sich dafür geschämt. Kein Wunder, wurde es von den Jungen nicht wahrgenommen. Wer interessierte sich schon für ein Mädchen mit Klötzen an den Füssen? Von Mode hatte die Mutter keine Ahnung. Deshalb hatte das Mädchen beim letzten Einkauf nur beiläufig und ohne große Hoffnung auf die Ballerinas im Schaufenster gedeutet. Es hatte nicht damit gerechnet, dass sein Wunsch endlich erfüllt würde. Als die Mutter stehenblieb, konnte das Mädchen sein Glück kaum fassen. Zehn Minuten später besaß es ein Paar pinkfarbene Ballerinas mit Schleifen. Die Mutter legte ihm den Arm um die Schultern und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. Das Mädchen ließ es geschehen. Seit der Trennung vom Vater benahm sich die Mutter häufig merkwürdig. Die plötzlichen Gefühlsausbrüche waren zwar peinlich, aber angenehmer als die geistige Abwesenheit, die sie immer häufiger beschlich. Manchmal hielt die Mutter mitten im Gespräch inne, weil sie den Faden verloren hatte. Letzte Woche hatte sie im Supermarkt eine Packung Katzenfutter vom Regal genommen, obwohl Felix seit fast vier Monaten tot war. Rasch schob das Mädchen den Gedanken weg. Noch immer schossen ihm die Tränen in die Augen, wenn es an den Kater dachte.
Es bückte sich und hob den Fuß, um die Sohle genauer zu untersuchen. Dabei fiel ihm eine stumpfe Stelle auf dem Leder auf. Es befeuchtete den Zeigefinger und polierte den Schuh. Es bemerkte nicht, wie sein Rock hochrutschte und den Blick auf seine langen, nackten Beine freigab. Auch nicht, wie der Mann im Viererabteil das Interesse an seiner Zeitung verlor. Konzentriert verteilte das Mädchen Speichel auf dem Leder. Erst als der Schuh wieder wie neu aussah, richtete es sich auf. Es steuerte auf einen Fensterplatz zu, um dem Vater zuzuwinken.
Der Vater brachte das Mädchen nach jedem Besuch zum Bahnhof. Er schien nicht zu begreifen, dass es mit seinen elf Jahren schon fast erwachsen war. Seine Klassenkameradinnen durften ohne Eltern ins Einkaufszentrum fahren, seine beste Freundin Celine nahm abends sogar Gesangsunterricht in der Stadt. Nie wurde sie von ihrer Mutter begleitet. Nur meine Eltern behandeln mich wie ein Kind, dachte das Mädchen. Mit einem Seufzer nahm es den Schulthek vom Rücken und stellte ihn neben den Sitz.
Die Lichter über der Tür blinkten bereits, als das Mädchen aus dem Fenster schaute und den Vater suchte. Dort stand er, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können. Als er die Tochter erblickte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Das Mädchen lächelte zurück, die trüben Gedanken waren wie weggeblasen. Es stellte sich die Fältchen an den Augenwinkeln des Vaters vor, die Bartstoppeln, die so herrlich kitzelten, wenn es einen Gute-Nacht-Kuss bekam. Früher, als das Mädchen klein gewesen war, hatten sie Katz und Maus gespielt. Auf allen vieren hatte der Vater versucht, die Tochter zu fangen. Durchs ganze Haus hatte er sie gejagt, unter dem Esstisch hindurch, die Treppen hinauf, bis die Knie brannten und das Mädchen sich kichernd ergab. Sogleich war der Vater über ihm gewesen, mit einem zufriedenen Schnurren hatte er das Mädchen mit den Lippen gepackt, an der Haut geknabbert, während es sich vor Lachen wand.
Heute verbrachten sie die Nachmittage häufig am Fluss, wo sie Scrabblesteine legten, Leute beobachteten, einander Geschichten vorlasen oder, wenn es das Wetter erlaubte, im Wasser planschten. Abends kochten sie gemeinsam. Nicht so, wie die Mutter kochte. Meist fehlte irgendeine Zutat, so dass sie improvisieren mussten. Trotzdem schmeckte das Essen immer.
Langsam fuhr der Zug an. Der Vater reckte beide Arme in die Höhe und bewegte sie hin und her. Das Mädchen winkte zurück.
Es war 17.54 Uhr, als die S-Bahn die Haltestelle Zürich-Hardbrücke verließ.
Bis vor kurzem war der Bahnhof für das Mädchen lediglich ein Name gewesen. Tauchte das Schild neben dem Gleis auf, so bedeutete es, dass der Zug bald in Zürich eintreffen würde. Nie zuvor war das Mädchen dort ausgestiegen. Vom Fenster aus hatte es das komplizierte Geflecht der Schienen betrachtet und sich gefragt, woher der Lokführer wusste, welches Gleis in den Tunnel zum Hauptbahnhof führte. Über dem Bahnhof Hardbrücke erstreckte sich die gleichnamige Brücke wie ein steinernes Reptil. Das Mädchen wunderte sich, dass die Pfeiler das Gewicht all der Autos und Lastwagen zu tragen vermochten. Als es das erste Mal dort ausgestiegen war, hatte es den Kopf eingezogen und sich an die Hand des Vaters geklammert. Gemeinsam hatten sie sich einen Weg zum Lift gebahnt, der Lärm eines vorbeifahrenden Intercity-Zugs hatte das Gespräch verunmöglicht. Oben angekommen, hatte der Vater das Mädchen zur Seite gezogen und auf ein Hochhaus mit gläserner Fassade gezeigt.
»Das ist der Prime Tower«, erklärte er. »Das höchste Gebäude der Schweiz. Im 35. Stock gibt es ein Restaurant. Dorthin lade ich dich an deinem 18. Geburtstag ein!«
Als das Mädchen nun durch ein Netz von Oberleitungen hindurch das Hochhaus betrachtete, glaubte es, niemals 18 Jahre alt zu werden. Die Zeit verstrich so langsam. Es träumte davon, berühmt zu sein, als Schauspielerin vielleicht oder als Sängerin. Wie gerne hätte es wie Celine Gesangsunterricht genommen! Doch sowohl die Mutter als auch der Vater hielten seine Idee für eine vorübergehende Laune. Nie konnten sich die Eltern auf etwas einigen, doch ausgerechnet hier waren sie gleicher Meinung. Celine hatte sich sogar für eine Castingshow bewerben dürfen. Sie hatte es zwar nicht bis vor die Kamera geschafft, immerhin hatte sie aber vor Publikum gesungen.
Und ich?, dachte das Mädchen. Ich muss ins Geräteturnen. Nicht einmal ins Kunstturnen darf ich. Im Kunstturnen gebe es zu viele Wettkämpfe, sagt die Mutter. Nur, weil sie immer arbeitet. Sonst könnte sie mich begleiten. Das Mädchen lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe. Es fröstelte im klimatisierten Wagen. Obwohl der Sommer noch nicht begonnen hatte, herrschte draußen Badewetter. Das Mädchen trug sein Lieblings-Top, das lilafarbene mit den Spaghettiträgern. Die Tante hatte es ihm zum Geburtstag geschenkt. Wenigstens sie hatte ein Gespür für Mode.
Das Mädchen ließ sich in den Sitz zurückfallen. Es streifte die Ballerinas ab und legte die Füße auf den Sitz gegenüber. Jemand hatte eine Gratiszeitung liegen lassen. Als das Mädchen danach griff, rutschte ihm der linke Träger über die Schulter. Der Mann im Viererabteil nahm einen Schluck Wasser aus einer PET-Flasche.
Davon merkte das Mädchen jedoch nichts. Es starrte auf ein Foto von Justin Bieber, der sich angeblich von seiner Freundin getrennt hatte. Beim Anblick der Haarsträhne, die dem Sänger in die Stirn fiel, begann das Herz des Mädchens zu klopfen. Seine Brust fühlte sich seltsam eng an, als würde die Luft aus ihr gepresst. Es war ein wohliger Schmerz, einer, den das Mädchen auskostete. Fühlte sich so die Liebe an? Traurig und wunderschön zugleich? Manchmal, wenn der Druck zu stark wurde, lief ihm das Augenwasser über. Die Tränen flossen gemächlich, ohne dass das Mädchen das Bedürfnis hatte, sie zurückzuhalten. Sie waren warm und salzig, kein Ausdruck von Verzweiflung, sondern die Folge eines Naturgesetzes, wie Schmelzwasser, das aus einem Gletscher rann. In Gedanken versunken strich sich das Mädchen über den Arm.
Das Ruckeln der S-Bahn holte es in die Gegenwart zurück. Der Schulthek kippte und versperrte den Durchgang. Das Mädchen betrachtete die Anzeige auf dem Bildschirm: Zürich-Altstetten. Auf dem Perron stand eine Frau mit einer Brezel in der Hand. Das Mädchen merkte, dass es Hunger hatte. Das Essen würde auf dem Tisch stehen, wenn es nach Hause kam. Nach den Besuchen beim Vater gab sich die Mutter immer besonders Mühe, etwas Feines zu kochen. Unter der Woche hatte sie keine Zeit, aufwendige Mahlzeiten zuzubereiten. Manchmal brachte sie etwas vom Chinesen mit, doch meist tischte sie Brot und Käse auf. Am Samstag hingegen bereitete sie Lasagne, Risotto oder Pizza mit selbstgemachtem Teig zu.
»Ist das dein Schulthek?«, fragte eine Männerstimme.
Das Mädchen drehte den Kopf.
Der Mann im Viererabteil hielt einen Schulrucksack mit Pferdemotiven in den Händen. »Er lag im Durchgang«, erklärte er und schob den Thek unter die nackten Beine des Mädchens.
Es bedankte sich.
Die Uhr auf dem Perron zeigte 17.59 Uhr, als der Zug den Bahnhof Altstetten hinter sich ließ.
Am Himmel brauten sich Wolken zusammen. Das Mädchen sah sie nicht. Es schämte sich für den Schulthek. Nur Kinder hatten einen mit Pferdemotiv. Die Mutter weigerte sich, einen neuen zu kaufen. Der Thek sei in gutem Zustand, meinte sie. Es hatte nichts genützt, dass ihr das Mädchen erklärte, alle anderen Fünftklässler...
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