Schweitzer Fachinformationen
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»Wer vorsätzlich einen Menschen tötet (.), wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.«
Art. 111 Schweizerisches Strafgesetzbuch (StGB)
Die Stimme des Richters ist hart. Sein Blick fixiert mich. Trotzdem habe ich das Gefühl, seine Worte gingen mich nichts an. Ich sitze auf der Anklagebank. Wie eine Billardkugel, die beim Eröffnungsstoß vom Tisch gesprungen ist. Aus dem Spiel gefallen. Aus dem Leben. Nur dass im Billard die Kugel aufgehoben und wieder eingesetzt wird. Ich hingegen bleibe am Boden liegen. Zwischen Zigarettenkippen, Staubflusen und Füßen, die mich am liebsten in den Arsch treten würden.
Wie lange ich nicht mitspiele, hängt von den drei Richtern ab. Ich sitze schon seit zwei Jahren hinter Gittern. Ein Niemand - ohne Handy, ohne Facebookseite, ohne Mädchen. Immerhin gibt es im Jugendknast einen Billardtisch. Wenn ich schlecht drauf bin, versenke ich Kugeln und stelle mir vor, wie sie in einen Tunnel fallen und weiterrollen. Weg von den Betreuern, Gutachtern und Sozialarbeitern. Hinaus ins Freie. Wo ich schweigen darf, wenn ich will.
Als ich vierzehn war, habe ich einmal zwei Tage lang kein Wort gesagt. Ich war sauer, weil ich mit meinem Vater wandern gehen musste. Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich einen Berg hochquälen soll, nur um auf der anderen Seite wieder hinunterzulatschen. Außerdem war es der erste Tag der Herbstferien. Ich freute mich aufs Abhängen - zwei Wochen ohne Französischverben und Mengenlehre, ohne Standpauken und enttäuschte Blicke. Ich hatte die Probezeit im Niveau A der siebten Klasse nicht bestanden, trotz Nachhilfe. Nicht dass mich die Blicke störten. Ich wunderte mich einfach, warum meine Eltern nicht begriffen, dass aus ihren Plänen nichts würde. Mein Vater ist Kieferorthopäde. Er war richtig gut drauf, als sich herausstellte, dass ich eine Zahnspange benötigte. Er meinte, es sei von Vorteil, wenn ich verstünde, wie sich eine Zahnkorrektur anfühle. Damals glaubte er noch, ich würde eines Tages in seine Fußstapfen treten, Zahnmedizin studieren und die Praxis übernehmen.
Voll daneben.
Er ist heute nicht hier. Meine Mutter auch nicht. Dafür sitzen im Gerichtssaal eine Menge Journalisten. Ich frage mich, was sie hier suchen. Biete ich eine Freak-Show oder was?
Aber zurück zur Wanderung. Denn da fing alles an. Nur wusste ich es noch nicht. Seltsam irgendwie. Man sollte glauben, ein außerordentlicher Tag fühle sich auch außerordentlich an. Beim Billardspielen zum Beispiel merke ich, ob ein Stoß gelingt, kaum berührt das Queue die Kugel. Spüre ich auch nur das geringste Jucken in den Fingern, versenke ich die Kugel garantiert nicht. Bleibe ich aber ganz ruhig, setzt sie sich fast lautlos in Bewegung. Das satte Plopp, wenn sie in die Tasche fällt, gibt mir jedes Mal einen Kick.
Das Leben ist unberechenbarer als der Lauf einer Billardkugel.
Blitz hatte sich »Drive« heruntergeladen, zusammen wollten wir uns den Film reinziehen und chillen. Ich kannte Blitz noch nicht lange. Einige Monate zuvor war er ins Nachbarhaus gezogen, in einen edlen Glasbau mit Swimmingpool und Dachterrasse. Unsere Hütte war auch nicht schlecht, aber im Vergleich zum Palast der Pfisters wirkte sie irgendwie schäbig. Meine Mutter steht auf Ethnokram, überall starren dich komische Figuren mit riesigen Unterlippen und Haaren aus Stroh an. Die Bilder im Wohnzimmer sehen aus wie meine ersten Versuche mit Fingerfarben, nur dass sie ein Vermögen wert sind. Sie gefallen mir nicht besonders, genauso wenig wie die antiken Tonkrüge auf dem Sideboard. Keiner ist ganz, jedem fehlt ein Stück des Henkels, des Ausgusses oder der Glasur.
Bei Blitz war alles perfekt. Nichts störte das Design. Bei der Einrichtung dominierten klare Linien, weißes Leder und glänzende Oberflächen herrschten vor. Deshalb habe ich zuerst geglaubt, Blitz heiße wirklich Blitz. Irgendwie wäre das richtig gewesen, wenn auch ein bisschen schräg. Blitzsauber. Blitzblank. Blitz Pfister. Aber seine Eltern nannten ihn nur so, weil er blitzschnell war. In seinem Zimmer hingen lauter polierte Goldmedaillen. Dreimal pro Woche trainierte er im Leichtathletikclub.
Trotzdem war er voll in Ordnung. Bevor ich Blitz kennenlernte, hatte ich nie einen richtigen Freund gehabt. Nicht dass ich unbeliebt gewesen wäre, aber die meisten Typen waren entweder bescheuert oder hielten sich für etwas Besonderes. Meine Mutter drängte mich ständig, Klassenkameraden einzuladen. Wegen der sozialen Kontakte, meinte sie. Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass ich gut darauf verzichten konnte, mich von anderen fertigmachen zu lassen, doch sie behauptete, für eine gesunde Entwicklung sei der Umgang mit Menschen wichtig. Ich weiß nicht, wie sie heute darüber denkt. Gut möglich, dass sie ihre Meinung geändert hat. Der Psychologe, der über mich ein Gutachten erstellt hat, bezeichnet meine Entwicklung nicht als gesund.
Meine Mutter glaubt, man könne jedes Problem lösen, wenn man darüber rede. Kein Wunder, schließlich ist Probleme besprechen ihr Beruf. Dafür hat sie sogar studiert. Gibt es in einer Firma Knatsch, in einem Team oder einer Abteilung zum Beispiel, tritt sie in Aktion und sahnt dabei groß ab.
Bei mir hat das mit dem Reden nie geklappt.
In der vierten Klasse habe ich es mit Thomas König versucht. Thomas König ist ein Retortenschüler. So nenne ich die Kunstprodukte, die bei Lehrern beliebt sind. Er hatte einen riesigen Kopf und einen schmächtigen Körper - sah aus wie ein Luftballon auf einem Plastikstiel. Sein Blick schoss ständig hin und her, außer wenn er einen Lehrer ansah. Am schlimmsten aber war sein Dauerlächeln. Ein Wunder, dass der Ballon nicht platzte.
Kaum waren wir alleine, legte Thomas König seine Maske ab. In der Pause bestimmte er, wer beim Fußball mitspielen durfte. Ich gehörte nicht dazu. An seinem Geburtstag verteilte er jedem Kuchen, außer dem dicken Danko. Und mir natürlich. Damit hatte ich kein Problem, da ich Kuchen sowieso nicht mag. Als er mir aber die Trainerhose aus dem Turnsack klaute und durch ein Paar glänzende Leggins ersetzte, war das eine andere Sache. Denn Thomas König wusste, ich würde die Leggins anziehen müssen, schließlich kannte er unseren Turnlehrer. Herr Kehl lässt nichts durchgehen. Um nicht mitzuturnen, musste man mindestens mit einem Bein im Grab stehen. Kehl begriff nicht, dass ein Junge, der in Leggins erschien, so gut wie tot war.
Danach habe ich versucht, mit Thomas König zu reden. Du kannst dir vorstellen, was es gebracht hat. Gar nichts. Also habe ich ihm einen Faustschlag verpasst. Vielleicht waren es auch zwei. Da ließ er mich in Ruhe. Und zwar gänzlich. Es war, als existiere ich in seinem Sonnensystem einfach nicht mehr. Das Problem war nur, dass alles um ihn kreiste. Er war sozusagen die Sonne. Deshalb existierte ich von einem Tag auf den anderen für gar niemanden mehr.
Aber zurück zu Blitz. Blitz war anders. Kein Retortenmensch, auch wenn er nahezu perfekt war. An ihm wirkte alles echt. Er war etwas Besonderes, doch er hatte es nicht nötig, andere daran zu erinnern. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wohl. Außerdem fuhr er auf Actionfilme ab. Manchmal ahmte er vor dem Bildschirm die Geräusche im Film nach, wie es Kinder tun, wenn sie mit Autos spielen. Total peinlich, aber das war ihm egal. Es lachte ihn auch niemand aus deswegen. Über Blitz machte man sich nicht lustig. Falls jemand allen bei der Geburt Karten ausgeteilt hatte, so hatte Blitz lauter Asse bekommen. Ich hingegen mühte mich mit ein paar Zweiern und vielleicht einer Drei oder einer Vier ab.
Mein Shrink meint, wichtig seien nicht die Karten, sondern wie man sie spiele. Ich bin kein guter Kartenspieler. Außerdem fehlt es mir an Glück. Ernsthaft. In der sechsten Klasse musste ich zur Schulpsychologin, weil ich angeblich aggressiv war. Nach vier Sitzungen rief sie meine Mutter an und bat sie, mich an einer Studie mitmachen zu lassen - über Pechvögel. Ein Kollege schreibe eine Doktorarbeit. Die Schulpsychologin meinte, ich eigne mich hervorragend als Studienobjekt. Verstehst du jetzt, was ich meine?
Ein anderes Beispiel: Hätte mich mein Vater an jenem Wochenende nicht in die Berge mitgeschleppt, sähe mein Leben heute anders aus. Die Wanderung beendete eine meiner seltenen Glückssträhnen. Während ich schweigend hinter meinem Vater herstapfte, suchte sich Blitz jemanden, der mit ihm »Drive« schaute. Und stieß von allen Menschen auf dieser Erde ausgerechnet auf Thomas König.
Blitz' Mutter lächelte, als sie die Tür öffnete. »Komm rein, Sebastian«, begrüßte sie mich. »Die Jungs sind oben.«
Die Jungs. Schon da hätten bei mir die Alarmglocken läuten sollen. Abgesehen von mir hatte Blitz nie Besuch. Wir wohnten ziemlich hoch oben am Hang. Wegen der Seesicht, die unsere Eltern so toll finden. Das Problem war, dass niemand, der nicht dort wohnte, freiwillig zur Seeblickstraße hochstieg. Trotzdem dachte ich mir nichts dabei. Ich war einfach froh, den Abend bei Blitz verbringen zu dürfen statt in den Bergen.
Als ich in sein Zimmer trat, lief der Abspann von »Drive«. Da geschah etwas Seltsames. Ich habe einmal gehört, dass man am Äquator ein Ei auf einer Stecknadel balancieren kann. Das hat mit den Kräften zu tun, die dort auf das Ei einwirken. Es kippt weder auf die eine noch auf die andere Seite. Etwas Ähnliches passierte mit mir. Ich konnte mich nicht bewegen. Zwar wollte ich auf Blitz...
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