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Donnerstag, 22. Juni 2017, 9.05 Uhr
Der Major hatte ihn gestern wieder angerufen. Wieder hatte das Telefonat nur einige Sekunden gedauert, wieder hatte er danach, genauso wie man ihn angewiesen hatte, die SIM-Karte vernichtet und die mit der nächsthöheren Nummer in sein Smartphone eingelegt. So wusste der Major immer, wie er ihn erreichen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen. Er bewunderte den Major und war stolz darauf, ihm und damit seinem Vaterland oder besser dem, was von der Sowjetunion übrig war, zu dienen. Es gab aber noch ein anderes Gefühl ihm gegenüber, das ebenso stark war - nämlich kalte Angst. Er spürte, dass der Major alles, was er tat, kritisch verfolgte. Ihn beobachtete und ihn, wenn er es wollte, wie eine ausgerauchte Kippe einfach ausdrücken konnte.
Trotzdem gefiel er sich in seiner Rolle. Er, der Junge vom Lande bei Sankt Petersburg, der es in der früheren sowjetischen Armee trotz seines fehlenden Schulabschlusses immerhin zum Praporschtschik, einem Dienstgrad knapp unterhalb der Offiziersränge, gebracht hatte. Er und viele seiner Kameraden galten nach dem Fall der UdSSR als nicht mehr kompatibel zu den modernen russischen Streitkräften. Gerade das, was man früher so an ihm geschätzt hatte, seine unnachgiebige Art, an die Dinge heranzugehen, auch wenn es Kollateralschäden bei der Zivilbevölkerung verursachte, war nicht mehr gefragt. Jetzt war auch in Russland der sogenannte saubere Krieg angesagt. Ein Krieg, der virtuell wirkte - genau so, wie es die Leute von Computerspielen kannten - und der ihnen vorgaukelte, es käme dabei niemand ums Leben. Und wenn, dann genau die, die es auch verdient hatten. All das, was ihn letztlich im zweiten Tschetschenienkrieg so erfolgreich gemacht hatte, galt nun nicht mehr als zeitgemäß. Wo früher Härte und Abschreckung gefragt waren, zog nun die Verweichlichung ein. Man hatte ihn deswegen einfach unehrenhaft aus der Armee entlassen. Obwohl es er und seine Kameraden gewesen waren, die zu jener Zeit zuverlässig die Kohlen aus dem Feuer geholt hatten.
Damals war es der Major gewesen, der ihm einen neuen Sinn und eine neue Heimat gegeben hatte. Ihn nach Deutschland geholt hatte, um von hier aus dafür zu kämpfen, dass aus Russland wieder die große, starke Sowjetunion wurde.
Er hatte sich mit diesem neuen Leben sehr gut arrangiert. Der Major brauchte ihn nicht oft. Zwischen seinen Aufträgen hatte er sich ein sehr einträgliches Gewerbe aufgebaut. Als er den Major damals um Erlaubnis gefragt hatte, stimmte er ohne Weiteres zu. Im Gegenteil, er fand, dass es eine gute Tarnung wäre und er damit finanziell selbstständig würde.
Bei diesen Gedanken grinste Komarow breit. Und angenehm war es allemal. Wenn ihm danach war, holte er sich eines der Mädchen, die für ihn liefen, und tobte sich ganz umsonst bei ihm aus. Die anderen Zuhälter ließen ihn in Ruhe. Sie hatten schon mit seiner unbändigen Kraft und mit seiner ausgeprägten Gewissenlosigkeit Bekanntschaft gemacht. Abdul, der Türke, noch vor zwei Jahren eine feste Größe im Prostituiertenmilieu der Region, war der Erste, der zu lernen hatte, dass man mit ihm nicht spaßte. Er hatte ihm damals mit bloßen Fingern die Augen eingedrückt. Ein Lächeln umspielte gerade seine Mundwinkel, als er sich an das leise Ploppen erinnerte, als die Augäpfel dem Druck seiner Daumen nachgaben und wie reife Tomaten platzten. Mittlerweile war seine Position unangefochten. Sie hatten gelernt, dass er sich stets das holte, was er wollte. Er machte sich einen Spaß daraus, in ihren Klubs oder bei ihren Mädchen aufzutauchen und sich eine Nacht auszutoben, ohne dafür zu bezahlen oder um Erlaubnis zu fragen. Sie ahnten, dass er über mächtige Kontakte in Russland verfügte. Die Gewissheit hatte sich längst unter ihnen breitgemacht, dass sie, selbst wenn sie ihn aus dem Weg räumten, es mit seinen Hintermännern zu tun bekämen.
Für ihn ein alles in allem ideales Lebenskonzept. Er konnte der russischen Sache dienen und führte dabei ein Leben ganz nach seinem Geschmack.
Die einzige Voraussetzung für diesen Lebensstil war es allerdings, die Anweisungen des Majors zu 100 Prozent auszuführen, keine Fragen zu stellen und gründlich zu sein. Aber das fiel ihm nicht schwer. Er war in erster Linie Soldat und damit gewohnt, Befehle konsequent, ohne darüber nachzudenken, zu befolgen.
»Sei am 22. um 9.15 Uhr in der Passagierkabine auf dem oberen Deck der Antonow im Technikmuseum und setz dich an den Tisch. Bleib dort, bis ich mich melde, egal, was passiert. Wir müssen reden«, hatte ihm der Major militärisch kurz befohlen.
Der Ort war neu, die Methode altbewährt. Aufträge gab ihm der Major stets persönlich. Es war wie ein Tick von ihm, dem Telefon nicht zu vertrauen. Eine weitere Marotte war es, sich nie zu zeigen. Wie hatte er einmal gesagt: »Der Tag, an dem du mir in die Augen siehst, wird dein letzter sein!«
*
Das Technikmuseum in Speyer war ein riesiger Komplex, der sich über mehrere Hallen und Freiflächen erstreckte. Unzählige historische Flugzeuge, Schiffe, Lokomotiven und Autos drängten sich hier. Das Museum hatte vor ein paar Minuten geöffnet. Es war eine gute Zeit für ein diskretes Treffen. An den Kassen war noch kaum jemand, sodass die Wahrscheinlichkeit erkannt zu werden, gering war. Die wenigen Besucher, die zu so früher Stunde aufgeschlagen waren, hielten sich ausnahmslos an den vorgeschlagenen Besuchsparcours. Die abseits gelegenen Exponate im Außenbereich, die erst weiter hinten auf dem Rundgang lagen, warteten noch einsam auf den Ansturm der Neugierigen. So auch die Antonow, der Brontosaurus auf dem Gelände. Alt, gewaltig und ohne die Reißzähne der sonstigen Militärmaschinen in Form von Geschütz- und Bombenattrappen.
Komarow kannte die Antonow noch von seiner Militärzeit. Die hier ausgestellte AN-22 gehörte zu einer Generation von Transportflugzeugen, die noch bis vor wenigen Jahren ihren Dienst bei den russischen Streitkräften geleistet hatte. Berühmt für ihre enorme Größe und ihre Zuverlässigkeit. Noch etwas müde stapfte er die metallene Wendeltreppe empor. Als er die offene Flugzeugtür passiert hatte, stand er im riesigen Laderaum, der mit seinen beeindruckenden Ausmaßen eher an eine Lagerhalle erinnerte als an ein Flugzeug. Er war leer. Komarow war beruhigt. Für einen Augenblick schwelgte er in Erinnerungen an seine Militärzeit. Vor seinem inneren Auge sah er den T-62 Panzer, der sie bei einer Mission in Zentralasien begleitet hatte, wie er massig den Bauch des Fliegers ausfüllte. Zielstrebig wandte er sich nach links und steuerte auf den Bug der Maschine zu. Dem Laderaum schloss sich ein schmaler Gang an, von dem gleich rechts ein paar Metallstufen nach oben in die spartanische Passagierkabine führten. Alles fühlte sich vertraut an. Der Ölgeruch, der Klang der Schritte auf dem Bodenblech und das abgenutzte, zweckmäßig gehaltene Interieur. Mehr als einmal hatte er hier vor seinen diversen Einsätzen Stunden der Anspannung verbracht. Die positive Art von Nervenkitzel, die wachsam und konzentriert machte, genau so, wie man es für einen gefährlichen Auftrag brauchte.
Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und hatte schnell die steile Metallstiege erklommen. Der schmale, etwa zwei mal fünf Meter große Raum war nahezu fensterlos. Lediglich eine Lichtkuppel in der Decke sowie eine Luke auf der rechten Seite mit eingetrübten Kunststoffscheiben ließen ein fahles Licht herein. So wie der Major gesagt hatte, gab es auf der linken geschlossenen Flugzeugseite, unmittelbar neben der Bodenöffnung, durch die er die Kabine erstiegen hatte, einen am Rumpf befestigten Klapptisch mit einer Sitzgelegenheit davor.
Vorsichtig, die Tragfähigkeit des antiquierten Sitzes auslotend, nahm er Platz. Nervös schaute er auf die Uhr - 9.12 Uhr - er war pünktlich. Gut so. Der Major akzeptierte Unpünktlichkeit nicht. Er stützte den Kopf auf seine große Hand und sog den ölig-metallischen Geruch, den die alten hydraulischen Aggregate der Maschine selbst Jahre nach dem letzten Flug noch ausströmten, in sich. Wieder überkamen ihn nostalgische Gefühle. Er wartete, so wie man beim Militär immer wartet - auf Befehle, auf die Dämmerung, auf den Einsatz. Nach etwa 15 Minuten spürte er, wie jemand die Metalltreppe erklomm und in Vibrationen versetzte, die sich auf den Flugzeugrumpf übertrugen. Dann hörte er Schritte auf dem Riffelblech, mit dem man den Boden des Laderaums ausgekleidet hatte. Direkt unter ihm blieb der Besucher stehen. Genau an der Stelle, von der man gleichermaßen in Sprechweite zur Passagierkabine war, aber noch immer den Zugang zur Maschine im Blick hatte. Würde sich jemand anschicken, das Flugzeug zu betreten, würden ihn die Schrittgeräusche auf den Metallstufen schon von Weitem ankündigen. Im Gegensatz zu seinem Besucher war Komarow geradezu blind. Er hatte weder die Möglichkeit, durch den Bodeneinstieg nach unten zu schauen, noch konnte er durch ein Fenster nach außen blicken. Wie sorgfältig der Major doch wieder vorgegangen war, um ungesehen zu bleiben.
»Privjet Sputnik!«, hörte er die vertraute Sprechweise seines Vorgesetzten ihn begrüßen.
»Privjet Major«, antwortete Komarow mit belegter Stimme.
»Bleib sitzen und hör zu!«, begann der Major mit eisigem Tonfall auf Russisch.
»Da«, sagte Komarow und schluckte. Nervös trommelte er mit den Fingerkuppen auf der metallenen Tischplatte. In Gegenwart des Majors fühlte sich der Koloss stets klein und unsicher. Wusste er doch, dass jener über sein Leben entscheiden konnte.
»Du hast Gelegenheit, dich zu beweisen. Der Auftrag kommt von ganz...
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