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Speyer, Montag, 26. September 2022, 10.10 Uhr
André Sartorius schätzte Rituale. Sie machten für ihn das Leben leichter. In der Wiederholung gleicher oder ähnlicher Abläufe sah er so etwas wie einen Kurzurlaub für den Geist. Musste er doch sein Gehirn nicht mit den profanen alltäglichen Abläufen beschäftigen wie der Auswahl eines geeigneten Restaurants, der Wahl des passenden Tischs, der Auseinandersetzung mit der Speise- und Weinkarte und letztlich den Schrullen des Bedienungspersonals. Nein, er konnte sich ganz auf das beschränken, was seine Passion war, nämlich das Beobachten.
Hier im Mediterraneo, einem Café-Restaurant unweit seines Hauses in Speyer, kannte man ihn und wusste, dass er morgens vor seinen fast täglichen Stadtführungen, die er als Gästeführer der Stadt Speyer zu bewältigen hatte, hier frühstückte. Giovanni, der flinke Kellner, brachte ihm unaufgefordert Cappuccino und Cornetto an den freien Tisch am Fenster, den man stets für ihn reservierte. Von hier aus hatte er sowohl den Gastraum als auch die Wormser Straße vor der großen Scheibe im Blick. Er liebte es, das Treiben auf der belebten Geschäftsstraße mit den zahlreichen Passanten, die er als alteingesessener Speyerer häufig persönlich kannte, zu verfolgen und seine Schlüsse zu ziehen. Er las in dem, was er sah, wie in einem offenen Buch.
Dass den Besitzer des Schuhladens um die Ecke der Beinbruch aus seiner Jugend plagte. Die Scheidungsanwältin ernster dreinsah als sonst und wohl wieder einen Rosenkrieg abzuwenden hatte. Oder sich die Bürgermeisterin mit einem nur ihm auffallenden stummen Kopfschütteln über ein allzu forsch vorgetragenes Bürgerbegehren echauffierte.
Häufig wirkte er dadurch für Außenstehende abweisend und in sich gekehrt. Doch es war umgekehrt der allzu intensive Blick nach außen, der ihn abwesend erscheinen ließ.
Ein lautes »Buon giorno, der Herr!« riss ihn aus seinen Gedanken. Es war Camilla, die Besitzerin der Gaststätte, die spöttisch grinsend auf sich aufmerksam machte, weil André sie in seinen Studien mal wieder übersehen hatte.
»Buon giorno«, erwiderte André auf die in solchen Situationen für ihn typisch flüchtige Art, die jedem anzeigte, dass er jetzt nicht gestört werden wollte.
Gerade zog ihn etwas in seinen Bann und beanspruchte all seine Aufmerksamkeit. Drei Tische entfernt, unweit der kleinen Bedientheke, an der man sich mit all den italienischen Köstlichkeiten zum Mitnehmen eindecken konnte, die man hier auf Focaccia, Ciabatta und Co. servierte, erblickte er einen Mann, den er hier noch nie gesehen hatte.
Er war Andreas Böhm, der Besitzer eines Speyerer Bestattungsunternehmens. André hatte ihm schon die sterblichen Überreste von Mutter und Vater anvertraut und kannte ihn daher.
Aber es war nicht die bloße Anwesenheit des Mannes, die sein Interesse weckte. Es war die verstohlene Art, wie er immer wieder, wenn er glaubte, er würde es nicht wahrnehmen, zu ihm herüberschaute. Es war mehr als der interessierte Blick auf einen Kunden. Es wirkte, als wollte Böhm heute mehr von ihm.
Getrieben von der Neugier, was der Bestatter von ihm wollte, wartete André einen passenden Augenblick ab, reckte sich hoch, als würde er Böhm erst jetzt erkennen, winkte ihm freundlich lächelnd und rief »Guten Morgen!« zu ihm hinüber.
Wie erwartet, verfehlte das seine Wirkung nicht. Zwar zögerlich, aber ebenso freundlich lächelnd erhob sich Böhm und bewegte sich unsicher auf ihn zu. Offensichtlich wollte er das nunmehr gebrochene Eis für sich nutzen.
»Guten Tag«, sagte Böhm, als er vor ihm stand, und reichte ihm die Hand. »Schön, Sie hier zu treffen, Herr Sartorius.«
». und weitaus angenehmer, als wenn man einen Grund hat, Sie zu besuchen«, scherzte André.
»Ja, klar«, sagte Böhm hektisch und lachte artig über Andrés lauen Scherz, den er in dieser oder ähnlicher Art wohl schön öfter hatte über sich ergehen lassen müssen.
»Dabei . ähm . also, wenn ich ehrlich bin .« Böhm pausierte. Hilflos schaute er André an.
». gibt es einen Grund«, vollendete André den Satz.
Böhm nickte heftig.
»Wollen Sie mit Ihrem Cappuccino nicht einfach zu mir umziehen?«, fragte André und wies auf Böhms verwaisten Tisch.
»Gerne, aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Aber natürlich nicht, Sie wissen doch, in der Pfalz rückt man gerne zusammen und freut sich über jedes freundliche Gespräch.« André wies auf den freien Stuhl zu seiner Rechten.
Ohne weiteren Kommentar eilte Böhm zurück an seinen Tisch und holte die halb volle Cappuccinotasse.
»Zunächst muss ich Ihnen ein Geständnis machen«, begann Böhm, sobald er saß. »Ich bin nicht zufällig hier. Ich weiß, dass Sie hier meistens frühstücken, und habe Sie, sagen wir mal, abgepasst.«
»Kein Problem«, erwiderte André und versuchte, es möglich belanglos klingen zu lassen, obwohl sich seine innere Neugier bereits auf Ballongröße aufgepumpt hatte und mit jedem Atemzug weiterwuchs.
Böhm legte eine Kunstpause ein. Wahrscheinlich überlegte er, wie er das, was ihn bewegte, ansprechen sollte.
»Und was kann ich für Sie tun?«, durchbrach André die Stille.
»Ich gebe zu, es fällt mir schwer, Sie anzusprechen. Ich rede normalerweise nicht mit Unbeteiligten über meine Arbeit, aber .«
»Aber .?«, ermunterte ihn André.
»Aber in diesem Fall weiß ich mir nicht anders zu helfen. Es ist zu wichtig, um es auf sich beruhen zu lassen.«
»Natürlich können Sie sich auf meine Diskretion verlassen, und ich weiß, dass Sie ein sehr gewissenhafter Mann sind.« André rückte näher an seinen Gesprächspartner heran.
»Vor einer Woche hatte ich den Leichnam eines alten Mannes auf dem Tisch, der einen schweren Unfall erlitten hatte.«
André nickte. Er wollte ihn auf keinen Fall unterbrechen.
»Er war übel zugerichtet, da waren einerseits die großen Verletzungen durch den Unfall. Andererseits sind die Rechtsmediziner, die routinemäßig jeden Unfalltod untersuchen, auch nicht gerade zimperlich mit dem armen Mann umgegangen.«
Wieder entstand eine Pause.
»Und was beunruhigt Sie daran?«, fragte André, der aus Böhms Augenringen las, dass er einige Nächte nicht gut geschlafen hatte.
»Es gab noch etwas. Beim Waschen der Leiche ist mir ein Einstich aufgefallen«, platzte es nun förmlich aus ihm heraus.
»Aha«, erwiderte André, der unfähig war, das Gehörte zu deuten. »Ist es nicht ganz normal, dass bei einer Wiederbelebung Infusionen angelegt oder Spritzen verabreicht werden?«
»Schon, aber dieser Mann war schon lange tot, als man ihn fand. Er wurde nicht wiederbelebt. Und selbst wenn, hätte man ihm Adrenalin oder etwas Vergleichbares direkt ins Herz gespritzt und nicht einfach in die rechte Brust gestochen.«
André schluckte. »Und kann es sein, dass er zum Beispiel mit Heparin gegen Thrombose behandelt worden war, das spritzt man doch in den Bauch oder vielleicht Insulin .«
»Nein, ausgeschlossen. Ich habe seinen Sohn gefragt. Nichts. Er war kerngesund, hat keine Medikamente gebraucht und war schon Jahre bei keinem Arzt mehr.«
»Hmm«, brummte André, dem es schwerfiel, etwas Sinnvolles zu entgegnen. Einerseits hätten die Rechtsmediziner das doch merken müssen, andererseits schätzte er Böhm als einen sehr vernünftigen Mann ein, der nicht aufs Geratewohl einen Fremden in wilde Spekulationen einweihte.
»Und wenn bei diesem Unfall im Wingert, von dem Sie sprachen, sich vielleicht ein dünner Zweig .«
»Ausgeschlossen. Der Mann trug eine Jacke. Ein Zweig wäre entweder abgebrochen oder viel zu dick für diesen feinen Einstich. Es war die Kanüle einer Spritze, da bin ich mir ganz sicher. Es gab einen minimalen Blutaustritt. Da war einfach so ein kleiner brauner Punkt auf der Haut und dann dieser eigenartige Geruch .« Wieder stockte er.
»Geruch? Was für ein Geruch?«
»Es roch süßlich. Nur einen kurzen Augenblick, als ich die Wunde etwas quetschte, weil ich noch davon ausging, dieser winzige Blutpartikel sei eine Verschmutzung. Wissen Sie, ich bin da stets sehr sorgfältig, wenn ich eine Leiche reinige.«
»Süßlich? Kann das auf so was wie Leichengeruch zurückzuführen sein?«
»Nein. Glauben Sie mir, ich weiß sehr genau, nach welcher Liegezeit ein Leichnam wie riecht.«
»Hmm«, erwiderte André ratlos.
»Ich bin ja kein Rechtsmediziner. Aber normal ist das nicht. Glauben Sie mir bitte, viele meiner Leichen leben in Krankenhäusern ab und haben unzählige Einstiche. Ich weiß genau, wie so etwas aussieht. Ich täusche mich nicht. Und einen solchen Geruch habe ich noch nie an einem Leichnam wahrgenommen.«
»Und hätten die Rechtsmediziner diesen Geruch nicht auch wahrnehmen müssen?«
»Nein, die Wunde war ja durch das geronnene Blut, das ich entfernte, wie versiegelt.«
André rieb sich übers Kinn, wie er es immer tat, wenn er grübelte. »Aber warum sind Sie mit diesen Erkenntnissen nicht zur Polizei gegangen? Die müsste das doch interessieren.«
»War ich ja. Man wollte davon nichts wissen. Der Fall wäre doch klar. Schwerer Unfall mit Todesfolge. Die Unfallfolgen wären so gravierend gewesen, dass es ausgereicht hätte, um gleich mehrfach zu sterben. Offener Schädelbruch, innere Verletzungen und letztlich das Ertrinken in einer Pfütze, in die ihn der auf ihm stehende Vollernter gedrückt hatte - wie im Totenschein stand.« Böhm war...
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