Schweitzer Fachinformationen
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Erzählung? Essay? Journal? Memoir? Gedicht? Gebet, Beichte, Beschwörung, Provokation oder Slapstick? Laut oder leise? Krass oder weise? Überraschend und verstörend, poetisch und tief anrührend ist Hiromi Itos Literatur, gleich, welches Genre sie bedient. Die vorliegende Textauswahl gibt Gelegenheit, diese außergewöhnliche Literatin kennenzulernen, von ihren Anfängen als zornige junge Dichterin, viel beachtet und gefeiert seit ihrem Debüt Ende der 1970er-Jahre, mit ihren neuartigen Themen und einem unverwechselbaren, dabei genuin dichterischen, frischen Tonfall, bis in die Gegenwart der 2020er-Jahre - eine Frau, die sich beim Altwerden zuschaut und »mit allen Wassern gewaschen« ist.
Hiromi Ito durchkreuzt mit ihrer Sprachkunst und Imagination sämtliche Genres und reißt Grenzen nieder. Die vorliegende Sammlung von Texten aus 45 lebensprallen, schaffensdichten Jahren verspricht Einblicke in ein Künstlerleben voll ungeahnter Ausdrucksformen und Erkenntnisweisen, beginnend mit einem Liebesgedicht, endend mit einem Manifest.
Der lachende Körper
Ich bin Prinzess Anju, drei Jahre alt -
Jemand, den man Vater nennt, ist fast nie da, ist abwesend, dachte ich mir, egal, welche Geschichte ich hörte, der Mensch, den man Vater nennt, war tot im Haus oder irgendwo unterwegs oder hörte auf das, was auch immer die Stiefmutter ihm zu tun befahl; aber bei mir zu Hause gibt es jemanden, der Vater genannt wird, er trachtet mir nach dem Leben, er will mich töten, was soll ich nur tun, seit meiner Geburt nichts als Mühsal - Vater sagt, der Mund dieses Babys reicht von einem Ohr zum andern, sie hat Schlupflider, ein flaches Gesicht, überall Leberflecken und Muttermale, die Ohren sind groß, groß, groß, irgendetwas stimmt nicht mit ihr, womöglich ist sie das närrische Kind eines dahergelaufenen Priesters, so kommt's mir vor, das ist nicht meins, auf keinen Fall, ich werde sie also Prinzess Anju nennen, nach diesen niederen Priestern, die in kleinen Einsiedlerzellen leben, ja, so soll sie heißen, und ich werde sie im Sand vergraben, und wenn sie drei Jahre überlebt, mag sie mein Kind sein -
Irgendetwas stimmt nicht mit mir, sagt er, schau, ich wurde geboren und hier bin ich jetzt, wen kümmert's, ob ich einen oder zwei Köpfe habe, wen kümmert's, ob ich einen oder zwei Arme habe, einen zu wenig oder einen zu viel? aber Vater sagt, lass sie uns im Sand vergraben und drei Jahre warten, Mutter war bereit, sich drauf einzulassen, das war recht enttäuschend, aber was soll ich machen, ich bin nur ein Neugeborenes, kann nicht einmal sehen und kann mich nicht wehren, also wurde ich in die seidene Unterwäsche meiner Mutter eingewickelt und an einer sandigen Stelle in der Nähe des Flusses eingegraben -
Also, die sandige Stelle in der Nähe des Flusses, da vergraben alle ihre Neugeborenen -
rechts und links von der Stelle, an der ich eingegraben wurde, gab es so viele vergrabene Babys, dass sie aneinanderstießen, einige atmeten, andere nicht, einige hatten sich aus dem Sand herausgekämpft und waren dann vertrocknet, andere hatten es geschafft, ganz aus dem Sand herauszukommen und wegzukriechen -
Wenn man nur etwas weiterkrabbelt, ist da ein großes Gebüsch, Moskitos und Fliegen stechen jedes Baby, das versucht, dorthin zu gelangen, aber wenn sie es schaffen, vor dem grellen Sonnenlicht zu fliehen und Schutz vor Regen und Wind zu suchen, können sie Gras oder Blätter rupfen und sie essen, und wenn sie es bis zum Fluss schaffen, können sie einfach ins Wasser tauchen; ich selber, immer noch im Sand eingegraben, beobachtete die anderen um mich herum, sah die Babys, wie sie starben, die, die bereits tot waren, und die, die es geschafft hatten, zu überleben und zu entkommen -
Ja, wie kann jemand nur ein so schlechtes Karma haben wie ich? in nur drei Jahren habe ich drei Kinder zur Welt gebracht, aber mein Mann hat das letzte, das ich zur Welt brachte und umsorgte, im Sand vergraben, und jetzt sind meine geschwollenen Brüste nicht mehr zu ertragen, die Löcher in meiner Brust, aus denen die Milch fließen sollte, sind verstopft, fiebrig und geschwollen, schon eine Berührung tut so weh, dass ich denke, sie reißen auf, aber unter den Schmerzen in meiner Brust und dem Kummer darüber, dass mein Kind vergraben wurde, verbringe ich die Tage damit, von morgens bis abends zu weinen, und mit all dem Weinen habe ich mir die Augen ausgeweint; da sagte mein Mann, du hast dich blind geweint, du kannst nun nicht mehr in diesem Haus bleiben, du hast das Kind zur Welt gebracht, das zu nichts als zum Vergraben taugte, dass du das Kind bekamst und dass du dich blind geweint hast, das muss dein schlechtes Karma sein, und wenn du jetzt weiter hierbleibst, dann färbt dein schlechtes Karma auch noch auf mich ab, also bevor es so weit kommt, tu mir den Gefallen und stirb oder verschwinde wenigstens aus dem Haus; hätte ich dich doch nur auch im Sand begraben, sagte er -
Und so prüfe ich am nächsten Tag mit angehaltenem Atem, ob die beiden Kinder rechts und links von mir noch schlafen, und schleiche mich leise weg, so leise wie möglich schleiche ich mich aus dem Haus, ich werde ein Loch in den Sand graben und mich darin verstecken, aber wo wurde das Baby begraben? täglich kommen neue Leute, um ihre Babys zu begraben, ich habe keine Ahnung, wo meines liegt, doch ich grabe ein Loch im Sand und verberge mich darin, und während ich das tue, dringt das Weinen der Kinder an meine Ohren, ich spüre die schwache Wärme ihrer Körper, solange ich hier eingegraben bin, kann ich nicht vergessen, was geschehen ist, wenn ich gewusst hätte, dass ich dies erleben muss, hätte ich meinem Mann nicht gehorcht und das Baby im Sand begraben, das hätte nicht sein dürfen, es hätte anders laufen müssen, doch egal, wie sehr es mir auch leidtut, leidtut, leidtut, nichts hilft, ich weine mir die Augen aus -
Ich schaue mich um und sehe Fußabdrücke im Sand, Handabdrücke im Sand, was sind das für welche? man erkennt die fünf Zehen bis hin zum Hautbild, von der Größe eines Erwachsenenfußes, nein, halt, zwischen den großen Abdrücken sind ein oder zwei Kinderfußabdrücke, aber nur ein oder zwei, vielleicht sind's die von Anju; ich sehe sogar die Zeichnung auf Fingern, mehrere Haarsträhnen, getrocknetes Blut, nasse Flecken, viele verschiedene Körper, ich kann nicht sagen, welcher davon Anju gehört. ist das Anjus Handabdruck? ist das Anjus Fuß? was ist mit diesem Finger? ist diese Haarsträhne von ihr? als sie begraben wurde, war das Letzte, was ich sah, ihr Ohr, ein großes, großes, großes Ohr, ich sah, wie Sand hineinfloss, und ich steckte ein Schilfrohr in das Ohr, das war das Letzte, was ich von ihr sah, bevor das Loch sich schloss -
Oder vielleicht besinnt sich mein Mann ja doch und holt mich zurück? aber vielleicht auch nicht, dabei ist mir, als hörte ich sie hier und dort vergraben im Sand weinen, als spürte ich ihr Gewicht auf meinen Schultern und meinem Rücken, mir ist, als berührten mich ihre toten Körper an Händen und Füßen, mein Mann, kommt er oder kommt er nicht? ich kann sie von hier und dort weinen hören, mein Mann mag kommen oder auch nicht, wenn der Wind weht, steigt mir ihr Gestank in die Nase, mir ist, als klagte er mich an; hätte ich das geahnt, wäre ich das Kind schon viel früher losgeworden, hätte es abgetrieben, aber nein, ich behielt es und deshalb passieren mir diese schrecklichen Dinge, kommt mein Mann oder kommt er nicht, mag er kommen oder auch nicht, vielleicht kommt er, vielleicht nicht, vielleicht kommt er nicht, und unterdessen klagen die Kinder mich immer heftiger an, und ihre Vorwürfe dringen schmerzhaft in meinen Leib ein -
Aber ich denke, auch wenn eines vergraben wurde, zwei meiner Kinder leben ja noch, immer wieder heißt es, ich solle aufgeben, aufgeben, aber selbst wenn ich das begrabene Baby aufgebe, meinen Mann, der mich rausgeworfen hat, kann ich immer noch nicht aufgeben, nicht einmal hier im Sand, eingegraben, vielleicht besinnt er sich und holt mich raus? oder auch nicht, nur das geht mir im Kopf rum, totes Kind, stirb, stirb, stirb, schau nicht zurück, ich will leben -
Ja dann! mach dich auf aus dem Sand, du bist gemeint, die du nichts kannst, und geh Spatzen in den Hirsefeldern jagen, sagt jemand; und ich tu's, da bin ich also, dem Sand entstiegen -
Wohin ich auch gehe, die Sonne brennt auf mich herab, der Regen hat aufgehört, also brennt die Sonne, ich gehe weiter, die Sonne sticht und brennt sich in meinen Körper ein, ich gehe weiter, mein Körper verbrennt zusehends, dichter Qualm steigt von ihm auf, so bewege ich mich auf der Landstraße weiter; Verzeihung, Verzeihung, rufe ich, da tritt ein Herr aus seinem Haus an der Straße, ich lege schweigend die Hände wie zum Gebet aneinander, beginne zu weinen und sage, ich könne Spatzen von seinen Hirsefeldern jagen, warum ich hier bin, fragt er, und ich antworte, mein Mann hat das Kind, das ich geboren habe, lebendig im Sand vergraben, meine Brüste schwollen an, ich sehnte mich nach dem vergrabenen Kind, ich weinte ohne Unterlass und weinte mir die Augen aus, wegen der blindgeweinten Augen verstieß mich mein Mann, und blind geworden spürte ich, wie die vergrabenen Kinder mich anklagten, als ich versuchte, mich im Sand einzugraben, das war mehr, als ich ertragen konnte, doch dann kam jemand und sagte mir, ich solle Spatzen jagen, also kam ich hierher, um das zu tun -
Die Geschichte jammert ihn, sagt er, und so werde er mich einstellen, ich solle für ihn Spatzen jagen, vielleicht würde mir das guttun, und so jage ich seit diesem Tag Spatzen von seinen Hirsefeldern. Tsuso, mein Sohn, wie ich dich vermisse! - Hooi! Hoi! - Anju, meine Tochter, wie sehr ich dich vermisse! Hooi! Hoi! - rufe ich beim Spatzenjagen, dabei umringen mich kleine Kinder, fassen mir ins Gesicht und rufen, da bin ich doch, deine Anju, hier ist dein Tsuso, so drangsalieren sie mich, wie's ihnen gefällt, ich bin doch blind, ach, welches Elend, und treiben ihren Schabernack mit mir, wie's ihnen gefällt -
Geschichten sind schnell erzählt, drei Jahre später sagt mein Vater, nun ist es der dritte Jahrestag, dass ich Anju vergraben habe, ich will sie ausgraben und sehen, ob sie tot ist oder noch lebt -
Und als er mich ausgräbt, bin ich da, ich bin nicht tot, ich bin nicht vertrocknet, ich habe mich nur im Sand gewärmt, ein wachsender, lachender, lebendiger Körper -
Mutter steckte ein Schilfrohr in das Loch in meinem Ohr, um zu markieren, wo ich war, und so saugte ich morgens und abends den Tau durch das enge, enge, enge Loch im Halm,
ja, so ist es, ich wurde ausgegraben und hier bin ich, ich bin nicht...
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