Schweitzer Fachinformationen
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Das Unhaus, wie es von uns Braschowitzern abschätzig genannt wurde, lag von anderen Häusern isoliert längs der Jägerndorfer Chaussee. Polen wohnten hier, Polen mitten unter Deutschen. Ein Zaun aus Feldsteinen umspannte das finster wirkende Grundstück. Schwarzbraune Balken und weiß gezeichnete Fugendichtungen erinnerten an slawische Schrotholzhäuser. Die winzigen weiß umschlossenen Fenster, an denen himmelblaue Läden schwangen, glichen Augen einer unheimlichen Kreatur. Die Tür mit gesprungenem Lack und Milchglasscheibe schien in einen tiefen, von langen Fangzähnen umrahmten Höllenschlund zu führen und das ausladende Dach ähnelte einem zerfledderten Zimmermannshut mit breiter Krempe, ganze Reihen fischschuppenartig angeordneter Holzschindeln fehlten wie in einem von Motten durchlöcherten Stück Stoff. Unmengen von Auffangutensilien mussten im Unhaus bereitstehen (Pfannen? Schüsseln? Tassen?), um das Innere vor Nässe zu schützen.
Die Brüder Alois und Karl patrouillierten vor seinem Tor, das fehlende Schlüsselloch hinderte sie, einen Blick ins unbekannte Innere zu werfen, obwohl sie wussten, was sie dort erwarten würde. Karl träufelte Speichel auf die Angeln. Warum? Damit sie nicht quietschten, wenn sie das Tor gleich öffnen würden. Dann hob Alois das Tor, leise wie er nur konnte, schob es nach vorn und steckte seinen kleinen ovalen Kopf in den Spalt.
"Was siehst du?" flüsterte Karl.
"Nichts."
Die Tür fiel schnarrend ins Schloss.
"Und nun?"
"Klingeln."
Sie klopften. Zunächst sanft, dann mit Fäusten und schließlich mit Füßen. "Wir wollen die Ziege!" lärmten sie. "Wir sind zu allem entschlossen! Geben Sie auf, sonst -"
Es blieb still. Nichts regte sich. Mindestens fünf Minuten ließen sie verstreichen, bevor sie es wieder versuchten, um abermals enttäuscht zu werden.
Doch lassen Sie uns lieber da beginnen, wo diese Geschichte ihren eigentlichen Anfang nahm, und zwar ein paar Stunden früher, um die Mittagszeit. In Braschowitz sprangen eben die Kirchenglocken an. Braschowitz ist - bitte nicht weitersagen - die mickrigste Quetsche, die man sich vorstellen kann. Lange gab es hier nichts außer Birken, Eichen, Fichten, Buchen, kargem Grasland und an Blockhütten erinnernde Häuser slawischer und deutscher Siedler. Man lebte ausschließlich von der Landwirtschaft; die Ärmeren waren bei den Wohlhabenderen angestellt und die Wohlhabenden pflegten Kontakte in nahe Städte, nach Krnov etwa oder Leobschütz, Ratibor und Oppeln. Mit der Industrialisierung setzte in Braschowitz rege Bautätigkeit ein, Kirche, Schule, Kretscham und ein Sägewerk entstanden. Der typische Braschowitzer ist ganz und gar Kauz. Den Einwohnern ist diese Rolle wie auf den Leib geschustert, wenn Sie verstehen, was ich meine: Ober- und Unterkiefer sind zusammengewachsen, man könnte die Menschen hier auch als Ein-Wort-Fetischisten bezeichnen. Den Männern entgleitet beim Grüßen kaum mehr als ein "Hey" oder "Häh?" und die Frauen sehen gar nicht erst auf. Nur Ogurek war, wie soll ich sagen, etwas anders, wenigstens ein bisschen; er musste es sein, denn er war Pfarrer. Pfarrer stellt man sich für gewöhnlich klein, unansehnlich und beleibt vor. In dieser Hinsicht war unser Ogurek eine Traumbesetzung für seinen Beruf. Die Nase war etwas lang geraten oder im Laufe der Jahre lang geworden und buschige dunkle Brauen beschirmten die Höhlen. Sein Rasierwasser (blumig, alkoholschwanger, Marke Barbour shot) wirkte schwer, beinahe bleiern und tat nicht das, was man von einem guten Rasierwasser erwartete, nämlich dem Körper vorauseilen, sondern allzu oft hinkte es Ogureks ohnehin schleppenden Bewegungen hinterher. Sein Vater wollte, dass er in seine Fußstapfen, die eines einfachen Schusters, trete, aber Huber, der Dorflehrer, hatte andere Pläne und gab Ogurek Privatunterricht, was ihn befähigte, die höhere Schule zu besuchen. Wenn Ogurek lachte, trat ein Goldzahn hervor, vorn links, obere Zahnreihe; er saß so locker im Gebiss, dass er beim Reden ausfiel und wieder eingesteckt werden musste. Ogurek war ein gemütlicher Alter, seine Stimme war warm, aber monoton, sodass ihm während der Predigt nicht selten die Aufmerksamkeit abhanden kam. Würden Sie ihm die Hand geben wollen, müssten Sie feststellen, dass sie schlapp wie ein toter Fisch wäre. Wahrscheinlich dächten sie an einen Karpfen, oder nein, eher an eine Qualle.
Ogurek war Theologe, aber in seinem tiefsten Innern schlummerte das Talent eines Mathematikers, was er nicht selten unter Beweis stellte. Jedem, den er für gescheit hielt, gab er eines seiner Rätsel auf. Heute waren Alois und Karl an der Reihe, die er am Teich unweit der Kirche traf (vor lauter Entengrütze sah man das Wasser nicht). Sie rasteten hier, um ihrer Ziege zu trinken zu geben.
"Wusstet ihr", fragte Ogurek, indem er sie schon aus großer Entfernung ansprach, "dass unter euren Storchen-Vorfahren -", er ließ eine Pause, irgendwie fehlte noch die Pointe, wo war die bloß hingekommen? Ach ja: "Wusstet ihr, dass unter euren Storchen-Vorfahren", Ogurek stockte ein weiteres Mal, diesmal mit voller Absicht, um die Spannung zu erhöhen, "Karl der Große gewesen sein muss?"
Karl Storch holte sich die ziegelroten Haare aus der mit unzähligen Sommersprossen bedeckten Stirn und stellte sich auf Zehenspitzen, was ihn größer und älter erscheinen ließ als seinen Zwillingsbruder. In Wahrheit waren die Störche aber gleich groß und gleich alt, fast zumindest. Karl war sieben Minuten jünger als sein Bruder Alois, was zur Folge hatte, dass sie sich nicht exakt glichen, jedenfalls dachten sie das.
"Karl der Große?" überlegte Karl. "Herr Ogurek, Sie meinen -? Woher wissen Sie, dass wir verwandt sind? Soweit ich weiß, sind wir es nämlich nicht."
"Ist nur ein bisschen Mathematik", erwiderte Ogurek, während er umständlich in die Hocke ging, dabei die Beine stumpfwinklig vom Körper spreizte, und etwas in den aus verfestigtem Dreck bestehenden Straßenbelag schrieb. "Passt mal auf - Kinder - jeder Mensch hat genau zwei Elternteile, Vater und Mutter", er zeichnete einen kräftigen Stamm, aus dem zwei weniger starke Äste sprossen. "Klar?" Er sah Karl an, dann Alois.
"Möglich", entgegnete Karl, als stünde es für ihn noch nicht fest. Er rechnete mit den Fingern nach, "Mutter und Vater? Mutter, Vater, Kind. Ja, klar. Aus zwei mach drei."
"Sehr schön. Aber es geht noch weiter", sprach Ogurek. "Eure Eltern, müssen die nicht auch Eltern gehabt haben? Wie viele?"
"Mutter, Vater. Vater, Mutter - vier, Herr Ogurek", entgegnete Karl.
"Also vier!"
Karl massierte einen Punkt zwischen den Augenbrauen, als würde es jetzt kompliziert.
"Diese Vier hatten natürlich wieder Mutter und Vater", rechnete Ogurek vor, "macht acht, sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig, hundertachtundzwanzig und immer so weiter." Die in den Boden geschriebenen Linien seines Lebensbaumes hatten die Grenzen des Darstellbaren erreicht, sie überspannten die Straße von einer Seite zur anderen und wirkten wie Ameisenwege. Eine Frau mit einem Topfhut ging eilig vorüber und beseitigte ein paar Zahlen. Als Ogurek ihr nachrief: "Schönen Tag noch, Frau Apperspach", wandte sie sich um und deutete ein Nicken an.
"Also, wo waren wir?" fragte Ogurek, indem er die Verwischungen ausbesserte.
"Sie wollten uns sagen, dass wir von unendlich vielen Zeugern abstammen", sagte Alois, während seine Augen angestrengt über die Graphen am Boden wanderten.
"Nicht ganz", entgegnete Ogurek. "Nicht ganz. Stellen wir uns vor: Alle fünfundzwanzig Jahre gibt es eine neue, eine neue Generation -", Ogurek hielt inne, weil ihm der Zahn verrutscht war, er schob ihn ins Gebiss zurück und wischte seine Finger an den Falten seiner Robe ab. "Entschuldigung! Macht also, wenn wir annehmen, Karl der Große habe vor etwa tausend Jahren gelebt, zwei hoch vierzig Vorfahren." Jetzt musste er ein Bäuerchen zurückhalten, das im Kretscham verspeiste Bigos drückte gegen die Magenwand. "Sind etwa eine Billion", wieder stieß es ihm auf, "Störche. Oder?" Er vervollständigte die Linien des Baumdiagramms mit Zahlen und Brüchen; da der Überblick schwerfiel, hob er seinen Schwerpunkt und streckte das Kreuz, dabei entglitt ihm ein schmerzgeplagter langer Seufzer. "Oje", sagte er, "oje! Aber dämmert es?" wollte er von den Zwillingen wissen. Er sah Alois an, der teilnahmslos ins Leere starrte. "Lois, was sagst du?"
"Hochwürden, ich weiß nicht, mir schwirren so viele Zahlen im...
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