Schweitzer Fachinformationen
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Ich war sechzehn Jahre alt und saß inmitten von Gleichgesinnten beim Jahrestreffen der Muslimischen Jugend Deutschland, einem Verein aus jungen, hier in Deutschland geborenen Muslim:innen. Das Ziel: den Jugendlichen aus religiös praktizierenden muslimischen Elternhäusern als Anlaufstelle zu dienen und dabei möglichst viele verschiedene Freizeitaktivitäten anzubieten. So gab es beispielsweise im Rahmen der Lokalkreise bundesweit in jeder größeren deutschen Stadt die Möglichkeit, sich im geschützten Raum zu treffen und dabei wie die »anderen« Gleichaltrigen seinen Spaß zu haben. Der einzige Unterschied zu konfessionslosen Jugendaktivitäten lag im Fokus eines gemeinsamen Regelbewusstseins und darin, seine Religion lieben, verstehen und praktizieren zu lernen. Für mich war die Muslimische Jugend mein zweites Zuhause. In der Zeit zwischen meinem dreizehnten und sechzehnten Lebensjahr verging kein Tag, an dem ich nicht in irgendeiner Form aktiv am Gruppengeschehen teilnahm. So auch an diesem Treffen.
Neben meinen muslimischen Glaubensgeschwistern gab es auch »die Anderen« - das waren die mit anderen Wertvorstellungen, mit einem anderen Glauben, mit einer anderen Erziehung und mit anderen Zielen im Leben. Und »anders« war eben oft auch ein »Nicht-Gut« oder ein »Nicht-Richtig«, je nach Toleranz. Auch wenn diese Haltung nicht nach außen gezeigt wurde, war sie ein unausgesprochener Konsens. Ein Konsens, der für Zusammenhalt, Loyalität und Verständnis untereinander [23]sorgte. Rückblickend würde ich es Parallelwelt nennen oder das Leben in einer Bubble. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Muslimische Jugend neben meiner Familie und der Schule der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens. Freund:innen außerhalb hatte ich keine. Ich brauchte sie auch nicht, denn im vertrauten Kreis meiner Mädchengruppe waren genug Freundinnen, mit denen ich, ohne aus meiner Komfortzone treten zu müssen, Zeit verbringen und Gedanken austauschen konnte.
Bei dem diesjährigen Treffen sollte an diesem Wochenende ein neuer Vorstand gewählt werden. Wahlberechtigt waren nur die Mitglieder des Vereins, und die Wahl war für den frühen Abend geplant. Doch wie immer zogen sich die Vorträge der meisten Redner und der eher wenigen Rednerinnen sowie die Einwände der Hörenden und die erneuten Erklärungen der Redner:innen sowie die anschließenden Diskussionen zwischen Redner:innen und Hörenden in die Länge. Am Ende wurde es immer später als geplant, und eine Frage zog eine neue Frage nach sich. Ein wenig ist das vergleichbar mit einer Grundschulklasse, die wissbegierig nach Antworten sucht, aber mit den gegebenen Antworten entweder nichts anzufangen weiß oder die Antworten möglicherweise neue Fragen aufwerfen oder zum Umdenken auffordern. Doch der Konsens, dass Regeln wichtig sind und Sinn haben, gibt eine klare Struktur vor, es gibt wenig Raum für Interpretation, und bei Befolgung werden Zufriedenheit und Gottes Wohlgefallen versprochen. Eine dieser Regeln, die sich aus meiner Sicht an der Oberfläche bewegt, ist beispielsweise die Nagellack-Regel, die besagt, dass das Tragen von Nagellack nicht erlaubt ist, weil das Wasser während der rituellen Waschung, deren korrekte Ausführung wiederum Voraussetzung für das fünfmalige Pflichtgebet ist, dann nicht an die Fingernägel kommt. Ganz Pfiffige umgehen diese Regel, indem sie beispielsweise den Nagellack unmittelbar nach der Gebetswaschung auftragen und dann dafür sorgen, dass sie nicht in die Situation kommen, beim nächsten Gebet erneut die Waschung vornehmen zu müssen. Das wäre beispielsweise durch den Gang zur Toilette, das Entweichen von Darmgasen, durch das Bluten einer Wunde der Fall. Dann müsste der Nagellack runter. Als Antwort auf dieses Problem gibt es seit einigen Jahren wasserdurchlässigen Nagellack, der aber 20 Euro pro Fläschchen kostet und - für Jugendliche also fast unerschwinglich ist.
Eine weitere dieser Regeln, die bei unseren Zusammenkünften stets für neue Diskussionen sorgte, war das Verbot des Augenbrauenzupfens. Diese Regel hat den Hintergrund, dass es Muslim:innen nicht erlaubt ist, sichtbare und/oder nicht reversible Veränderungen am Körper, beispielsweise durch das Zupfen der Augenbrauen, das in meiner Familie verboten war, oder das Stechen eines Tattoos, durchzuführen - Monobraue hin oder her. Bärte und Kopfhaare sind von dieser Regel ausgenommen. Auch die Dos und Don'ts, wie eine Unterhaltung zwischen Mann und Frau geführt wird - mit so wenig Blickkontakt wie möglich -, sind im Islam geregelt. Heute frage ich mich, wie Heranwachsende jemals in die Situation der Eigenverantwortung kommen können, wenn ihnen der Zugang zu eigenen Erfahrungsprozessen aufgrund von diesen und anderen Normen und Regeln verwehrt bleibt?
An dieser Stelle mag man die Sinnhaftigkeit und insbesondere die Aktualität dieser Regeln infrage stellen, denn Tattoos sind bereits seit Längerem entfernbar und Augenbrauen wachsen, seit es Menschen gibt, nach. Doch wenn es um diese und ähnliche Regeln geht, bei denen der Interpretationsspielraum, angefangen vom Zweck bis hin zum persönlichen Stellenwert, weit gefasst werden kann, führt es oft dazu, dass die Regeln so lange diskutiert und infrage gestellt werden, bis der Fragende seine individuelle und befriedigende Antwort erhält. Doch wo es früher noch wenige Anlaufstellen für die religiösen Fragezeichen im Kopf gab, wuchs mit der Digitalisierung auch der Markt der Online-Geistlichen, um der entsprechenden Nachfrage gerecht werden zu können. Das Ergebnis dieser Entwicklung lässt mich täglich aufs Neue die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn ich einen Blick in die Kommentarspalten selbst ernannter Theologen und Islamkenner auf Instagram, Facebook und YouTube werfe. Nicht selten stellt sich mir dann die Frage, wieso Menschen für Entscheidungen, die ihr persönliches Leben betreffen, die Meinung und das Wissen eines fremden Menschen hinzuziehen, der sich innerhalb anerkannter Lehrmeinungen bewegen muss. Die Antworten der Geistlichen werden in den allermeisten Fällen nicht infrage gestellt. Wieso ordnen sich Menschen den zum Teil sehr willkürlich anmutenden religiösen Regeln, die das Leben bis ins Detail festlegen, unter? Ist es vielleicht die Sicherheit, weil sie dann nicht Gefahr laufen, sich möglicherweise für den falschen Weg zu entscheiden? Oder spielt hier das religiöse Versprechen auf ein gutes Leben, die Geborgenheit durch die Gruppenzugehörigkeit und die Angst vor dem möglichen Alleinsein eine Rolle? Ist es vielleicht auch eine gewisse Faulheit, vielleicht sogar eine Unfähigkeit, nicht selbstverantwortlich und täglich aufs Neue eigene Entscheidungen treffen zu müssen, weil das andere schlicht bequemer ist? Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich die Mechanismen und Strukturen hinter dem erkennen konnte, womit ich mehr als drei Jahrzehnte meines Lebens tagtäglich konfrontiert war. Aber die Antworten stimmten mich traurig und zeitweise auch wütend. Ich wollte und konnte nicht begreifen, dass weltweit Millionen Menschen an Fernsehern, auf YouTube, TikTok, Instagram oder Facebook fragend an den Lippen dieser geschulten und gut in Szene gesetzten Online-Geistlichen hängen und dabei das Wertvollste verpassen, das ein Mensch für sich tun kann - nämlich eigenverantwortlich und selbstbestimmt das Für und Wider abwägen und mit bestem Gewissen eigene Entscheidungen treffen. Egal, ob sie letztlich richtig oder falsch sind. Ich jedenfalls sehe die starre Befolgung von vorgegebenen Regeln heute kritisch, denn obwohl ich die Gründe hinter diesem Verhalten verstehe, kann ich aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen behaupten, dass Lernen und inneres Wachstum nur durch Probieren, Abwägen, Hinfallen, Aufstehen, Reflektieren und wieder Von-vorne-Anfangen funktionieren können.
In diesem Buch werde ich an der einen oder anderen Stelle noch auf weitere Regeln genauer eingehen. Dabei ist es nicht meine Absicht, die für viele Menschen so wichtige Grundlage ihrer Religion zu kritisieren. Vielmehr geht es mir darum, auf die so selbstverständlich gewordene Praxis des Nachmachens und Nicht-Hinterfragens hinzuweisen, in der Hoffnung, dass Bewegung in die Köpfe und Herzen derjenigen Menschen kommt, die ihre autonome Entscheidungsfähigkeit in die Hände religiöser Regeln und Oberhäupter legen. Es spielt primär auch keine Rolle, um welche Religion oder welche Bereiche des Lebens es geht. Denn ich bin überzeugt davon, dass Gutes und Nachhaltiges nur dort gedeihen kann, wo Veränderung stattfindet, und unzeitgemäße, falsche und die Menschen zur Heuchelei verleitende Lebensmodelle nur dort entstehen können, wo Nachahmung und blinder Gehorsam gelebt und gefordert werden.
An den Jahres- und Lokaltreffen der jeweiligen Städte dürfen sowohl Gäste als auch Mitglieder teilnehmen, wohingegen die Wahlberechtigung ausschließlich den Mitgliedern vorbehalten ist. So auch auf diesem Jahrestreffen. Während sich nun die Nichtmitglieder auf ihre warmen Betten freuten, die in den weitläufig verteilten und nach Geschlechtern getrennten Gebäuden auf sie warteten, versammelte sich eine Gruppe aus knapp einhundert Menschen im großen und mit Teppich ausgelegten Raum, der in erster Linie für die gemeinsamen Gebete genutzt wurde. Wie selbstverständlich saßen auf der einen Seite die Frauen und auf der anderen die Männer. Dazwischen wurde ein Durchgang gelassen. An dieser Stelle von Frauen und Männern zu sprechen, scheint mir unpassend, denn das Alter der Teilnehmer:innen, der Schwestern und Brüder, wie wir uns untereinander nannten, lag zwischen zwölf und zwanzig Jahren. Das Alter der Betreuerinnen und Betreuer ging bis Ende dreißig. Auf der Seite der Schwestern wurde ständig gekichert, denn es...
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